Abenteuer Mensch

Frieden ist möglich, wenn wir das Vertrauen ineinander stärken.

Im April 2023 gelang es Elisa Gratias, Mitherausgeberin des Manova-Magazins, und Monika Alleweldt, langjährige Mitarbeiterin des Friedensforschungszentrums Tamera in Portugal, Journalisten aus alternativen und Mainstream-Medien zusammenzubringen. Zwei Wochen lang lebten zehn Menschen unterschiedlicher Orientierungen in einem Haus zusammen und gingen der Frage nach, wie es möglich ist, Frieden in eine kriegsgeschüttelte Welt zu bringen. Gemeinsam entdeckten sie, was geschieht, wenn wir uns auf den Weg machen. Eine Erfahrung.

Zwei Wochen Portugal. Als ich zusagte, mit einer Gruppe mir größtenteils unbekannter Menschen das Forschungsprojekt und Heilungsbiotop Tamera kennenzulernen, stellte ich mir nicht viele Fragen. Auf dem Flug nach Lissabon komme ich mit einer Mutter ins Gespräch, die Gedichte schreibt, und ihrer Tochter, die Psychologie studiert. Als ich zwei Wochen später wieder zurückfliege, sitze ich neben einer Mutter, die Gedichte schreibt, und ihrer Tochter, die Psychologie studiert. Die Zeit dazwischen ist so überraschend wie diese Koinzidenz.

Der Bahnhof von Funcheira im Alentejo, im Südwesten Portugals, sieht aus, als wäre Frank Miller hier eben ausgestiegen. Ein Bahnhof in gleißender Nachmittagssonne. Nichts außer ein paar Leute, die uns in verstaubten Autos abholen. Tamera-Autos, sagt unsere Fahrerin. Es ist trocken. Trockener noch als im Süden Frankreichs. Trotz des Frühlings haben viele der Steineichen braune Blätter. Doch der rote Mohn blüht.

Über verschlungene Landstraßen und eine Buschpiste kommen wir nach Tamera, Zentrum für Friedensforschung und -ausbildung. Etwa zweihundert Menschen leben hier das ganze Jahr über und arbeiten auf vielfältige Weise für einen globalen Systemwechsel, von der Ausbeutung zur Kooperation, von der Angst zum Vertrauen (1). Die Vision, die dieser Arbeit zugrunde liegt, ist eine Zukunft ohne Krieg, eine Terra Nova des Friedens (2).

Getriggert

Neben der Forschung an den ethischen, sozialen, ökologischen, ökonomischen, technologischen und, ja, erotischen Grundlagen für eine gewaltfreie und regenerative Kultur werden von hier aus Menschen auf der ganzen Welt miteinander vernetzt und unterstützt, die am Plan der Heilungsbiotope mitarbeiten wollen. Ziel ist das Schaffen eines globalen Feldes einer neuen friedlichen Kultur, einer Welt also, in der für alle Platz ist.

„Pass auf, dass du nicht in einer Sekte landest“, sagen wohlmeinende Stimmen. „Treibt es da nicht jeder mit jedem?“ Wie jedes Projekt, das nicht nur auf das Kleben von Schönheitspflästerchen, sondern auf einen grundlegenden Wandel ausgelegt ist, hat Tamera seit dem Beginn seiner Existenz viel Gegenwind zu spüren bekommen. Wenn zum Grundsätzlichen dann auch noch die Sexualität hinzukommt, dann wird es für manchen ganz suspekt.

Doch nicht von lüsternen Blicken und orgiastischen Szenarien werden wir empfangen, die mehr mit den Phantasien der Warnenden zu tun haben als mit der Realität, sondern von einem leckeren veganen Essen und Organisationsfragen, die wenig sexy sind: Wie schaffen es zehn Leute, sich ein türloses Plumpsklo mit Aussicht am Rande des Gartens und ein Badezimmer zu teilen?

Die meisten Teilnehmer kennen sich nicht. Zwei Wochen lang werden wir also zusammen leben, zusammen kochen, zusammen entdecken. Gewohnt wird auf relativ engem Raum, geschlafen in kompakten Dreibettzimmern und im großen Gemeinschaftsraum. Es gibt keine Möglichkeit einzukaufen oder eigenständig in das nächste Dorf zu kommen. Die Bar ist noch geschlossen und soll erst am Ende unseres Aufenthaltes geöffnet werden. Obst und Gemüse werden täglich geliefert. Die, die wollen, können sich Bier bestellen. Ich will.

Wäre mir vorher klargewesen, was mir bevorsteht, wäre mein Ja zu diesem Workshop vielleicht etwas weniger begeistert ausgefallen. Nun bleibt mir nichts anderes übrig, als mich triggern zu lassen und mich meinen Gewohnheiten und Verhaltensmustern zu stellen. Und meinen Ängsten. Die reich beladenen Orangenbäume trösten nur milde darüber hinweg, dass es im Garten Wildschweine und Schlangen geben soll.

Feldarbeit

Die Agraringenieurin und Verlegerin Monika Alleweldt, eine der Mitbegründerinnen Tameras, nimmt uns unter ihre Fittiche und gibt uns einen Einblick in die unterschiedlichen und vielfältigen Aktivitäten. Zu den Forschungs- und Aktionsgebieten gehören etwa der Aufbau von Wasserretentionslandschaften, der Ausbau einer dezentralen Energieautonomie, Aufforstung und Saatgutautonomie, die Entwicklung einer Schule der Hoffnung und die Kooperation mit allen Lebewesen. Auch mit Wildschweinen, Schlangen und Ratten.

Was hier Form annimmt, wird im Bewusstsein der großen Lebenszusammenhänge entwickelt. Wenn wir begreifen, dass wir nicht alleine sind, sondern eingebettet in ein unendlich komplexes Lebensnetz, dann wird uns klar, welche Möglichkeiten wir in unserem Leben haben.

Isoliert sind wir davon abhängig, was andere uns auferlegen. Gemeinsam sind wir dazu in der Lage, unsere Welt nach unseren Ideen zu gestalten.

An Ideen mangelt es in Tamera nicht. Wie überall ist es die Umsetzung, die die Grenzen setzt. Im Zentrum der Forschungsarbeit stehen der unbedingte gegenseitige Respekt und die Befreiung der tiefsten und ursprünglichsten unserer Kräfte: der Sexualität. Wenn es uns hier gelingt, unsere Scham, unsere Besitzansprüche, unsere Verletzungen und Ängste zu überwinden, wird es auch in allen anderen Lebensbereichen möglich, uns von Gewalt, Ausbeutung und Unterdrückung zu befreien.

Somit gehen Körper und Geist, spirituelles Erwachen und Erwachsenwerden Hand in Hand. Beide zusammen sind die Voraussetzung für eine Welt, in der wir nicht andere für unser Lebensglück oder -unglück verantwortlich machen, sondern aus uns selbst heraus das Leben erschaffen, das wir leben wollen.

Heilung von innen

Emotionale Reife ist die Voraussetzung für friedliche Gemeinschaften. Wer sich nicht mit sich selbst auseinandersetzt, neigt dazu, die Schuld für die zwangsläufig auftretenden Probleme bei anderen zu suchen, sich selbst als Opfer zu inszenieren und daraus die Legitimation zu beziehen, andere anzugreifen oder zu bestrafen. So bedarf es der Bereitschaft jedes Einzelnen zur Innenarbeit. Nur wer sich an seine eigenen wunden Punkte heranwagt, trägt zur Harmonie des Ganzen bei.

Diesem Denken bin ich seit Langem verbunden. Spätestens seit meiner Krebserkrankung vor elf Jahren weiß ich, dass wirkliche Heilung von innen kommt. Ich glaubte nicht das Narrativ von den bösen Killerzellen und vom Feind im eigenen Körper (3). Was auch immer uns begegnet: Es ist in erster Linie eine Information. Etwas wird uns mitgeteilt. Wenn wir uns nicht dagegen wehren und die Botschaft annehmen, hat der Bote seine Aufgabe erfüllt. Das Symptom verschwindet. Wir werden gesund.

Ich weiß: Das ist leichter geschrieben als getan. Ich weiß auch, wie schwierig und langwierig es sein kann, von alten Verletzungen zu heilen. Ich weiß, wie sich Widerstände anfühlen, Blockierungen, Erwartungen und Ansprüche. Ich kenne die Ohnmacht und die Verzweiflung. Vor allem aber weiß ich, dass es in uns eine Art niemals versiegenden Heilstrom gibt, an den wir uns nur andocken müssen, um wieder gesund zu werden. Wenn es uns gelingt, den tiefen Glauben daran wiederzufinden, dann steht unserer Heilung nichts mehr im Wege. Dann geht alles ganz schnell.

Herausforderung Gemeinschaft

Die umfassende Heilung, um die es in Tamera geht, kann nur kollektiv gelingen. Alleine schaffen wir es nicht, ein Feld aufzubauen, in dem das vermeintlich Unmögliche zur Realität wird. Zusammen hingegen können wir buchstäblich über glühende Kohlen laufen, ohne uns zu verbrennen.

Damit stehe ich vor einer großen Herausforderung. Ich tue mich schwer mit Gemeinschaften. Ich bin in einer Familie aufgewachsen, in der ich mich wie ein UFO fühlte, und lebe in einem Land, in dem Georges Brassens singt, dass man zum Idioten wird, wenn man zu mehr als zu zweit ist. In Gruppen fühle ich mich potenziell unwohl und finde nur schwer meinen Platz.

Doch hier gibt es kein Entrinnen. Mir bleibt nichts anderes übrig, als mich auf das Experiment einzulassen. Schnell kommt nicht nur das Essen auf den Tisch, das ich rasch bereit bin zuzubereiten, sondern auch das, wo ich empfindlich bin: das Bild, das ich von mir geben möchte.

Ich möchte nicht, dass andere mich für drückebergerisch halten, eigennützig oder faul, oder dass sie denken, dass ich vielleicht gar nicht selbst realisiere, was ich in meinen Artikeln und Büchern schreibe. Doch ich möchte mich auch nicht verstecken. Ich will mich berühren lassen und das Bild durchdringen, das ich von mir geben will. Mehr noch: Eigentlich möchte ich überhaupt kein Bild von mir geben, sondern das tun, wozu ich Lust habe.

In meiner stillen Schreibstube spiegelt mir niemand, wo es klemmt. Doch hier gibt es für jeden von uns neun Spiegel, die jeden auf ganz eigene Art reflektieren. Ganz schnell können im Zusammensein Zerrbilder entstehen. Das Gute: Es wird ausgesprochen.

Es wird nicht hinter dem Rücken geredet. Kein Getuschel, kein Schlechtreden, keine Grüppchenbildung, keine Intrigen, sondern ein Spiel mit offenen Karten.

Eine Frage des Vertrauens

Tamera macht es möglich. Wenn nicht hier, wo dann? Wo sonst sollte es gelingen, die alten Versteck- und Geltungsspielchen sein zu lassen und wirklich ehrlich miteinander zu sein? Wo sonst könnten (Selbst-)Betrug und Illusionen überwunden werden? Wo, wenn nicht in diesem Feld der Heilung, könnten die Menschen es wagen, den Weg zu ihrer Authentizität zu finden?

Auf dieser Basis spielt sich alles Weitere ab. Wir besichtigen die große Solarküche im Freien, den Kunstberg, den Steinkreis, die Orakelquelle, den Rattentempel, die Seen, den Bienengarten, die Schule, die Versammlungsräume, das Turnzelt, den Buchladen, das Café. Jeden Morgen zum Sonnenaufgang treffen sich die, die Lust haben, zu einer Art Andacht. Wir sitzen um ein Feuer herum und lauschen den Texten, die aus verschiedenen Quellen vorgelesen werden, bevor wir in die Aktivitäten des Tages gehen.

So bildet sich die Grundlage für das, was uns bereit macht zu lernen: Vertrauen. Wo Vertrauen ist, da ist auch der Mut, Fehler zu machen und sie sich einzugestehen, um voranzukommen. Wo es kein Misstrauen gibt, da dürfen auch Zweifel sein, Unsicherheiten, Schwächen. Wir müssen uns nichts beweisen, sondern können frei, neugierig und voller Freude ausprobieren, so wie Kinder es tun, bevor sie von den Erwachsenen zurechtgestutzt werden.

Mehr Fragen als Antworten

Während es zu den Eigenschaften einer Sekte gehört, auf alles eine Antwort zu haben, lebt Tamera von Fragen.

Wie können wir dauerhaft Dominanzverhalten, Besitzansprüche und Eifersucht überwinden? Wie können wir die Angst vor Mangel und vor Alleinsein überwinden? Wie kann es gelingen, das Bewusstseinsfeld zu stärken, in dem alles mit allem zusammenhängt und jeder Teil die Möglichkeit hat, das Ganze in eine andere Richtung zu lenken?

Wie können Frauen und Männer sich von der jahrtausendealten Scham befreien und einander wirklich auf Augenhöhe begegnen? Wie können beide ihre wundervolle und großartige Ursprünglichkeit leben, wild, frei, unbeherrscht? Wie können wir das Vertrauen in das Wilde wiederfinden, das Unkontrollierbare, das, was uns mit unseren Ursprüngen verbindet, dem unerschöpflichen Lebensquell, aus dem wir alle entstanden sind?

Wie können die Archetypen unserer gemeinsamen Geschichte wieder zusammenfinden, Marie und Lilith, Jesus und Pan, die gelenkte und die wilde Kraft in uns? Wie kann es gelingen, dass sich die Antagonisten nicht mehr gegenseitig ausschließen, sondern komplementär zusammenwirken? Wie können wir der Welt des Sowohl-als-auch den Weg bereiten, die gerade dabei ist, die alte Welt des Entweder-oder abzulösen?

Ausgeflogen

Nicht mit Gewalt, Ausbeutung oder Unterdrückung wird es gelingen. Wir sehen ja gerade, wohin uns das geführt hat. Es wird dann möglich sein, wenn die Männer den Frauen wieder glauben und wenn die Frauen die Fürsorge der Männer wieder annehmen können, dann, wenn wir es wagen, uns einander wieder vertrauensvoll hinzugeben. Die Urspaltung muss überwunden werden, um in das Paradies zurückzufinden, das hier vor unseren Augen auf uns wartet.

Stellt euch vor, wie es sein wird, fordert Monika Alleweldt uns an einem der letzten Abende in der Bar auf. Fühlt euch einmal hinein in diese unglaubliche Erleichterung, diese Freude, dieses tiefe Glücksgefühl, wenn der entscheidende Schritt getan ist in eine neue, friedliche Zeit. Stellt euch vor, wie es ist, ohne Angst zu sein und ohne Ketten aufeinander zuzugehen, ohne Erwartungen, ohne Vorwürfe, voller Neugierde aufeinander und voller Liebe.

Wenn ich dieser Einladung folge, kommen mir die Tränen. Wie benommen sehe ich mich dastehen mit all den anderen, wie nach einem schlechten Traum. Dann kommt Bewegung auf. Die Menschen gehen aufeinander zu. Sie sehen sich an, geben einander die Hand, nehmen sich in die Arme. Sie tun das, was wir zwei Wochen lang erlebt haben: immer wieder offene Blicke, herzliche Umarmungen, ein paar Tanzschritte auf dem Weg zum Badezimmer, aneinander gekuschelt auf dem Sofa, Kichern beim Schlafengehen, das Schweigen unter dem Sternenhimmel, die Gedichte und das bezaubernde Spiel der Geige.

Es war eine Erfahrung, die sich tief in mich eingeprägt hat. Die Samen sind auf fruchtbaren Boden gefallen. Sie werden in die Welt hinausgetragen und miteinander in Verbindung bleiben, sichtbar oder unsichtbar, und sie werden dazu beitragen, die Welt zu verändern. Es braucht, so Monika Alleweldt, nur eine relativ kleine Anzahl von Menschen, eine Welt ohne Krieg zu schaffen, so wie nur eine relativ kleine Anzahl nötig war, eine Welt mit Krieg zu erschaffen.


Während dieses Journalistentreffens in Tamera entstand die Videoreihe „Die Entscheidung“:

Teil 1/6 der Tamera-Videoreihe „Die Entscheidung“: Elisa Gratias im Gespräch mit Martin Winiecki über das Thema Wasser als fehlendes Puzzlestück in der Klimadiskussion


Teil 2/6 der Tamera-Videoreihe „Die Entscheidung“: Elisa Gratias im Gespräch mit Sabine Lichtenfels über die politische Kraft der Spiritualität


Teil 3/6: Elisa Gratias im Gespräch mit Juliane Eckmann und Eiko Goldbeck über freies Aufwachsen


Teil 4/5: Elisa Gratias im Gespräch mit Lukas Mauermann über Kunst als Politikum


Teil 5/6: Elisa Gratias im Gespräch mit Benjamin von Mendelssohn über Liebe & Sexualität als Weltmacht Nummer Eins


Teil 6/6: Elisa Gratias im Gespräch mit Felix Feistel und Martin Winiecki über die Entscheidung zwischen totalitärem Albtraum und globaler Revolution



Quellen und Anmerkungen:

(1) https://www.tamera.org/de/
(2) Monika Alleweldt: Die globale Befreiung von Angst und Gewalt. Ein Heilungsplan für die Erde, Meiga-Verlag 2021
(3) Kerstin Chavent: Die Waffen niederlegen. Die Botschaften der Krebszellen verstehen. Scorpio 2019

Weiterführende Informationen:

Vom 12. bis 16. Juli 2023 findet in Deutschland das Seminar „Liebesschule: Verlasse die Angst — Es ist eine Entscheidung“ statt: Hier können Sie sich anmelden.

Vom 4. bis 8. Oktober 2023 findet in Deutschland das Seminar „Globale Revolution und Heilung der Liebe“ statt: Hier können Sie sich anmelden.