Abschied vom Kinderlachen

Der Wind wird rauer in Deutschland — auch für diejenigen, die von der Gesellschaft eigentlich geschützt und gefördert werden sollten.

Noch nie war der Buchmarkt so überfüllt mit Erziehungsratgebern und sonstiger pädagogischer Literatur wie heute. Wer wissen möchte, was Kinder und Jugendliche brauchen, um sich gut zu entwickeln, der kann es herausfinden. Doch während sich Einzelpersonen abmühen, richtige Entscheidungen zu treffen oder die falschen anderer auszubügeln, scheint unser Nachwuchs dem Staat herzlich egal zu sein, es sei denn natürlich, es geht darum, ihn zu verheizen. Das gesellschaftliche Klima ist geprägt von Angst und Feindseligkeit, und die ersten, bei denen das ankommt, sind diejenigen, die es am wenigsten verdient haben.

Überall auf diesem Planeten bringen Frauen Kinder zur Welt und das unter großen Schmerzen. Warum tun sie das? Die Beweggründe dürften sehr unterschiedlich sein. In vielen Ländern sollen Kinder das Wohlergehen der Eltern im Alter sichern. Ein Rentensystem gibt es dort nicht. Mancherorts werden Kinder gebraucht, um im Alltag mit anzupacken – Die Armut zwingt dazu.

Wo die existenziellen Grundlagen der Menschen gesichert sind, wünschen sich Paare eigene Kinder, weil es erfüllend und faszinierend ist, Kinder großzuziehen und sie auf ihrem Weg ins Leben zu begleiten. Das erste Lächeln, die ersten Worte, die ersten Schritte und vieles mehr berühren Menschen im Herzen. Die ersten Malereien, die ersten Basteleien und die ersten guten Schulnoten machen Eltern stolz.

So manches Kind entsteht aber auch ungewollt als Ergebnis einer lusterfüllten Nacht. Glücklicherweise erfahren auch diese Kinder zumeist die Zuneigung, die bewusst gewollten Kindern vergönnt ist, zumindest durch einen Elternteil oder die Großeltern.

Und sicherlich ist der Wunsch, eigene Kinder zu haben, auch eine Veranlagung, die allen Lebewesen durch ihre Gene innewohnt.

Fragt man sich, worin der Sinn des Lebens besteht, dann kommt man an der Begleitung von Kindern auf dem Weg des Erwachsenwerdens nicht vorbei.

Neugeborenen werden bei ihrer Geburt vielfältige Wünsche mit auf den Weg gegeben. Es werden ihnen Glück, Friede, Zufriedenheit, Erfolg, Freude und meist auch ein besseres Leben als das, was den Eltern vergönnt ist, gewünscht. Die Erwartung, dass ein Kind möglichst bald kriegstauglich sei, wird einem Neugeborenen nicht in die Wiege gelegt.

Umso fassungsloser machen mich derartige auf junge Menschen bezogene Äußerungen. Als Menschheitsfamilie muss es uns schließlich darum gehen, Menschenleben zu bewahren, statt sie in Kriegen für fragwürdige Ziele zu opfern.

Der Weg des Erwachsenwerdens

Aus Babys werden Krippenkinder, Kindergartenkinder, Schulkinder und Jugendliche. Auf ihrem Weg zum Erwachsensein entwickeln sie eigene Bedürfnisse. Während anfangs vor allem Nahrung, Geborgenheit, Nähe und Zuwendung von Bedeutung sind, werden später Bedürfnisse wie Zugehörigkeit, Freunde, Freizeit, Abenteuer, Entspannung, Annahme, Entdecken, Wissen, Können, Herausforderung, Gerechtigkeit, Selbstbestimmung, Wertschätzung, Kreativität, Spaß, Fairness, Autonomie, Verlässlichkeit, Respekt, Vertrauen, Sicherheit, Unterstützung, Orientierung und Toleranz wichtig.

Das gute Recht der Kinder und Jugendlichen ist es, bei der Erfüllung ihrer Bedürfnisse unterstützt zu werden, von Eltern, von nahen Angehörigen, aber auch von der Gesellschaft. Schließlich dient der Erfüllung von Bedürfnissen dem Leben. So hat es Marshall B. Rosenberg beschrieben, der Begründer der Gewaltfreien Kommunikation.

Vielen Eltern gelingt das hervorragend. Sie schenken ihrem Nachwuchs bedingungslose Annahme, auch wenn mal was daneben geht. Sie geben ihren Sprösslingen Sicherheit, sie ermöglichen es ihnen sich auszuprobieren und Erfahrungen zu sammeln, sie ermöglichen es ihnen, persönlich zu wachsen. Gute Eltern sind Vorbilder, die Orientierung geben, die Normen menschlichen Miteinanders vermitteln und dabei helfen, so manch negative Erfahrung zu vermeiden. Sie fördern die Erwachsenen von morgen und sie sind da, wenn sie gebraucht werden.

Leider ist es nicht in jeder Familie so. Kinder und Jugendliche sind sich in manchen Elternhäusern selbst überlassen und das gilt nicht nur für sozial schwache Familien. Eltern, die ein hohes Einkommen haben, fehlt es nicht selten an ausreichend Zeit, um für ihren Nachwuchs da zu sein. Ihr Job fordert sie völlig. In sozial schwachen Familien haben die Eltern meist selbst nicht das erfahren, was sie zu guten Eltern hätte werden lassen. Es gibt noch immer Familien in denen auf Konflikte mit körperlicher oder psychischer Gewalt reagiert wird – diese Eltern haben es nicht besser gelernt.

Da gibt es Schläge, Hausarrest oder Beschimpfungen. So werden Persönlichkeiten gebrochen statt gestärkt. So entsteht die Elterngeneration von morgen, der es an Erziehungskompetenz mangelt.

Und wer füllt die bestehenden Sozialisierungslücken aus? Ich begegne immer wieder engagierten Menschen, die sich aufopferungsvoll für Kinder und Jugendliche einsetzen – darunter viele Lehrkräfte, Erziehende in Kitas und Horten sowie pädagogisches Fachpersonal aus Schulen und Vereinen. Sie bügeln das aus, was entsteht, weil Eltern, denen die nötigen Fähigkeiten fehlen, und der Staat versagen. Viel zu hohe Betreuungsschlüssel in Kindergärten führen dazu, dass viele engagierte Kindergärtnerinnen und Kindergärtner ausbrennen und erkranken, was die Personalsituation immer angespannter werden lässt.

Lehrkräfte sind ähnlich betroffen – ihre Anzahl ist viel zu knapp bemessen. Berichtspflichten und Eltern, die bei jeder Kleinigkeit mit dem Anwalt drohen, verstärken den Druck auf die Lehrkräfte zusätzlich. Bei all den Belastungen, denen Lehrer ausgesetzt sind, wirkt die auf ministerialer Ebene formulierte Forderung, die älteren Lehrkräfte wieder länger arbeiten zu lassen, wie ein schlechter Witz. Der Sender Radio Dresden erläutert das Maßnahmepaket des Sächsischen Kultusministers gegen den Lehrermangel in diesem Beitrag. In dem Zusammenhang soll die sogenannte „Altersermäßigung“ wieder zurückgenommen werden. Das heißt, ältere Lehrer sollen wieder länger arbeiten. „So wollen wir ältere Lehrer ermutigen, länger im Dienst zu bleiben“, meint der Minister.

Hinzu kommt die mangelhafte Erziehung von Kindern und Jugendlichen in immer mehr Elternhäusern. Destruktive Orientierungen in digitalen Medien spitzen die Situation zusätzlich zu. All das kumuliert sich und bewirkt eine sich immer schneller drehende Abwärtsspirale. Unsere Gesellschaft verkommt. Die Leidtragenden sind immer die Kinder und Jugendlichen.

Eine meiner Enkelinnen wurde gemeinsam mit 29 anderen Kindern, überwiegend sehr lebendigen, eingeschult. Ich würde es nicht einmal schaffen die dreißig kleinen „Flöhe“ zu hüten, geschweige denn, ihnen noch etwas beizubringen. Wie soll eine Lehrkraft unter diesen Bedingungen individuell auf die einzelnen Kinder eingehen? Kinder, denen es schwerfällt, zu lernen, bleiben naheliegenderweise schon von Anfang an auf der Strecke. Schulisches Scheitern ist so vorprogrammiert.

Dass die Lehrpläne den Anforderungen unserer heutigen Gesellschaft, geschweige denn der zukünftigen gerecht werden, kann ich mir bei der Dynamik, die in ministerialen Amtsstuben herrscht, beim besten Willen nicht vorstellen.

Durch unsägliche Vorschriften ist das System zu großen Teilen mit sich selbst beschäftigt. So wird noch immer kräftig gepaukt, die Folge: „Bulimielernen“. Vor dem Test wird das Wissen reingestopft und danach gleich wieder „ausgekotzt“.

Das ist kein Lernen mit Nachhaltigkeit, das ist kein Lernen, das Spaß macht.

Vielmehr braucht unser Nachwuchs die Kompetenzen, die es möglich machen, sich das aktuell benötigte Wissen verlässlich und effizient selber unter Nutzung der Online-Welt zu erschließen. Und das ist nicht einfach, denn das Internet ist schon längst durchdrungen von Fake-Informationen, Manipulation, Gewalt und kriminellen Absichten. Tools, die den Missbrauch der Online-Technologien jedem ermöglichen, sind inzwischen uneingeschränkt verfügbar.

Längst ist unsere Gesellschaft mit riesiger Komplexität, extrem hoher Veränderungsdynamik sowie den Möglichkeiten der KI, und allen damit verbundenen Herausforderungen, konfrontiert.

Doch der Unterrichtsausfall aufgrund von Lehrkräftemangel ist nicht nur in Sachsen enorm, erklärt Bildungsexperte Nicolas Colsman im Sat1 Frühstücksfernsehen.

Die traurige Realität

Kinder und Jugendliche fühlen sich alleingelassen mit ihren daraus entstehenden Problemen und Sorgen. Für die Vermittlung sozialer Kompetenzen, um mit Herausforderungen gut zurechtzukommen, wird bei all den prall gefüllten Lehrplänen, wohl kaum ausreichend Zeit sein. Da werden dann in der Not Konflikte schon mal mit Gewalt gelöst.

Die Schlagzeilen in den Medien dazu lauten beispielsweise:

  • „Jugendgewalt: Auch Mädchen schlagen immer öfter zu“ Seit Ende der Corona-Pandemie stieg in NRW die Gewalt unter Jugendlichen in der siebenten Klasse von knapp 20 Prozent auf 26 Prozent. Der WDR sprach dazu mit dem Soziologen Clemens Kroneberg.
  • „Jugendliche Gewalt: Was hinter den steigenden Zahlen steckt“ Laut polizeilichen Landesstatistiken werden Kinder und Jugendliche in Deutschland immer gewalttätiger. Über die Gründe berichtet Deutschlandfunk Kultur.
  • „Gewalt von Jugendlichen: Weil ihnen als Kind die Liebe fehlte?“ Der Therapeut Christian Lüdke äußert sich hier zur Frage, wie es zur Gewalteskalation Jugendlicher kommen kann.

Ein weiterer Indikator für die Belastungssituation vieler Jugendlicher ist der Anstieg psychischer Erkrankungen:

  • „Kinder und Jugendliche in der Krise“ vermeldet der Deutschlandfunk. Der Beitrag nennt Gründe, warum mehr Jugendliche unter psychischen Erkrankungen leiden
  • „Besorgniserregende Zunahme psychischer Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen“ Mehr Präventionsangebote schaffen und Psyche junger Menschen schützen fordert die Psychotherapeutenkammer Niedersachsen.
  • „Jung und depressiv – das lange Warten auf einen Therapieplatz“ vermeldet BR24. In diesem Beitrag werden die langen Wartezeiten auf Therapieplätze am Beispiel Bayerns beschrieben.

Hinter all diesen Schlagzeilen stecken vor allem gellende Hilferufe.

Laut dem Deutschen Schulbarometer der Robert Bosch Stiftung beschreibt sich ein Fünftel der Schülerinnen und Schüler als psychisch belastet, ein Viertel gibt geringe Lebensqualität an, ein Fünftel sorgt sich oft um die eigene Zukunft, ein Fünftel hat ein geringes schulisches Wohlbefinden, ein Drittel hat selten die Möglichkeit, Probleme auszusprechen und ein Fünftel der Schülerinnen und Schüler beklagt drei bis vier Stunden Unterrichtsausfall pro Woche.

Leistungsdruck, Gruppenzwang, Mobbing, Drogen, Gewalt untereinander, Unsicherheiten, Orientierungslosigkeit, Manipulation in den Online-Medien, Vereinsamung, in der Corona-Zeit war das ganz besonders verschärft, psychische Erkrankungen und Zukunftsangst sind Aspekte mit denen junge Menschen heutzutage zurechtkommen müssen.

Wer hofft, dass die Politik auf die Situation reagiert, wird enttäuscht werden. Dass das Bildungssystem noch reformierbar ist, ist inzwischen schwer vorstellbar.

Während die Bundesregierung die Aufrüstung und Kriegstauglichkeit in den Vordergrund ihrer Politik rückt, fehlen immer mehr finanzielle Mittel für soziale Zwecke, Mittel für zukunftsorientiertes schulisches Lernen, für ausreichend Lehrer, für die kommunale Selbstverwaltung, mit der so manches gesellschaftliche Defizit kompensiert werden könnte. So sind Kürzungen der Mittel im Bereich der Schulsozialarbeit, statt deren Erhöhung, das absolut falsche Signal.

Dass sich die Situation in absehbarer Zeit verbessert, ist nicht zu erwarten. Sie wird noch schlimmer werden, denn Aufrüstung ist teuer. Dass die Aufrüstung Sinn macht, kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Sie erhöht lediglich die Kriegsgefahr.

Der Schutz des Landes ist wirksam nur mit internationaler Verständigung und Zusammenarbeit im gemeinsamen Interesse möglich. Viel sinnvoller wäre es, in die Entfaltung unseres Nachwuchses und damit in unsere Zukunft zu investieren.

Stattdessen müssen wir zuschauen, wie unser wertvollster Rohstoff – exzellent ausgebildete junge Menschen – immer knapper wird.

Wie soll unsere Jugend zukünftig ihr Leben meistern, wenn sie grundlegende Kompetenzen nicht vermittelt bekommt, wenn Lehrpläne lebensfern sind, wenn selbst die motiviertesten Lehrer unter den bestehenden Rahmenbedingungen mit den Herausforderungen überfordert sind und wenn Medien mit allerlei Zeitvertreib vom Wesentlichen ablenken?

Wie sollen die Erwachsenen von morgen selbstbestimmt zu einem erfüllenden Leben finden, wenn ihnen grundlegende Kompetenzen wie die Wahrnehmung eigener Bedürfnisse, die Ableitung menschenwürdiger Strategien zu deren Erfüllung, der wertschätzende Umgang mit anderen sowie die gewaltfreie Lösung von Konflikten nicht vermittelt wurden?

Wie sollen unsere Nachkommen erfahren, wie sich Lebensfreude und Glückmomente anfühlen?

Wem grundlegende soziale Kompetenzen fehlen, der ist aber auch leichte Beute für jene, die Menschen für die Durchsetzung ihrer Interessen benutzen wollen.

Wenn dir keiner hilft, dann hilf dir selber

Wenn dir keiner hilft, dann hilf dir selber! Wenn der Staat seiner Verantwortung nicht gerecht wird, dann müssen wir als Gesellschaft selbst dafür sorgen, Fehlentwicklungen gezielt entgegenzuwirken und das ganz besonders, wenn es um unsere Kinder und Enkel geht.

Was Eltern und Großeltern vermitteln können, mag wissenschaftlichen Anforderungen nicht immer genügen, doch einfache Angebote sind allemal besser als keine, Angebote wie als Ansprechpartner zur Verfügung zu stehen, Zeit zu schenken, um gemeinsame Abenteuer zu erleben, zu ermöglichen, dass Interessen nachgegangen werden kann, einfach zu ermutigen oder Anerkennung auszusprechen. Was man selbst nicht vermag, dafür kann man entsprechend ausgebildete Personen organisieren.

Es braucht Geld und Räume, die beschafft werden müssen, um Seminare zu ermöglichen im Rahmen derer beispielsweise Kompetenzen zur Konfliktlösung vermittelt werden.

Sich hierfür mit anderen zusammenzutun erleichtert die Vorhaben. Hilfreich ist es, wenn Schulen mittun, statt resigniert die Hände zu heben. Doch viele Beschäftigte des Bildungsbereiches sind längst am Ende ihrer Kräfte. Auch sie brauchen unsere Unterstützung. Die Hessenschau berichtet, wie hessische Grundschulen in einem Schulsystem, das immer mehr zusammenbricht, die Notbremse ziehen.

Oftmals reicht ein einziger Erwachsener, um einem jungen Menschen den Weg zu seinen Sternen freizuräumen. Siehe dazu: Ferdi Stebner „Gesundheit in Schule“.

Es wird Beharrlichkeit brauchen, denn es ist mühsam, die Hürden, die der Gesetzgeber geschaffen hat, zu bewältigen. Dass es möglich ist, neue Wege zu gehen, zeigt zum Beispiel die Alemannenschule Wutöschingen, die mit jahrgangsübergreifendem Lernen, digitaler Ausstattung und individualisierten Lernplänen deutschlandweit als Modellprojekt gilt.

Die aktuelle – auf Aufrüstung ausgerichtete Entwicklung – ist nicht im Interesse von uns Eltern und Großeltern, denn durch sie wird die individuelle Entfaltung junger Menschen massiv eingeschränkt.

Umso mehr brauchen unsere Sprösslinge unsere Unterstützung. Schließlich haben wir einst unseren Kindern und Enkeln eine glückliche Zukunft gewünscht.

Packen wir es an und lassen wir uns nicht entmutigen! Es geht um unsere Kinder und Enkel!