Abschreckung bis zur Auslöschung

Die Logik militärischer Stärke, der sich derzeit fast alle Länder verschrieben haben, führt nicht zu mehr Sicherheit, sondern schnurstracks in den Abgrund

In einer Zeit, in der die Weltuntergangsuhr der Atomwissenschaftler 90 Sekunden vor Mitternacht zeigt — näher am Abgrund als je zuvor —, stellt sich eine fundamentale Frage: Führt die Logik der Abschreckung wirklich zum Frieden oder ist sie der erste Schritt in den Krieg? Ein bekennender Pazifist wagt den Blick hinter die Fassade einer Gesellschaft, die „Frieden schaffen mit Waffen“ für alternativlos hält. Von den Nazi-Gräueltaten in Guernica über die Atombomben auf Hiroshima bis hin zum Ukraine-Konflikt — überall dieselbe fatale Denkweise: Abschreckung als Rechtfertigung für Gewalt. Doch wohin führt uns diese Logik der Stärke? Der Autor zeigt auf, wie die Abschreckungsideologie wie ein Virus alle Parteien erfasst hat und selbst christliche und pazifistische Grundwerte verdrängt. Seine provokante These: Pazifismus heute ist kein romantischer Idealismus, sondern ein Gebot des Überlebens. Die Alternative zur atomaren Vernichtung liegt nicht in noch mehr Waffen, sondern im Erwachen zu unserer fundamentalen Verbundenheit als Menschheit.

Ich sage es gleich: Ich bin Pazifist. Was ist das, ein Pazifist? Einer, der die rechte Backe hinhält, wenn einem auf die linke geschlagen wird? Das ist der radikale Pazifismus, den Jesus gepredigt hat. Auch der in Deutschland sehr beliebte Mahatma Gandhi war ausgesprochen erfolgreich mit einem radikalen Pazifismus, der jegliche Gewaltanwendung sogar zur Selbstverteidigung ablehnt.

Die Deutschen galten ja bis vor Corona noch als das pazifistischste Volk Europas, das man kaum zum Jagen tragen konnte.

Bundeskanzler Kohl hat noch zehn Milliarden an die Amerikaner berappt, um am Golfkrieg nicht teilnehmen zu müssen. Erst SPD-Kanzler Schröder und sein grüner Kompagnon Joschka Fischer haben 1999 einen Angriffskrieg begonnen, der nicht von den Vereinten Nationen (UN) gedeckt war, nämlich den Angriff auf Serbien als Teil des Kosovokriegs — der erste Kampfeinsatz deutscher Soldaten seit 1945. Man hat elf Wochen lang Serbien heftigst bombardiert, zuerst die Klärwerke und Elektrizitätswerke, dann Fabriken und die sonstige Infrastruktur.

Wie üblich in solchen Fällen, bemüht man zur Rechtfertigung dieser Kriegshandlungen Hitler-Vergleiche. Statt „Nie wieder Krieg“ war Joschka Fischers Propagandahebel „Nie wieder Auschwitz“. Dazu muss man Slobodan Milošević natürlich so etwas wie Auschwitz unterstellen, was man auch versucht hat; dies erwies sich aber später als nicht haltbar.

Das erklärt vielleicht, warum ich heute so erstaunt bin, dass all die Christen, die zu Hause einen Jesus am Kreuz hängen haben, bereit sind, mich als Putinversteher beziehungsweise Putinknecht herabzuwürdigen, weil ich eine pazifistische Position vertrete.

Eine pazifistische Position bedeutet jedoch beispielsweise, in einem Konflikt beide Seiten zu Wort kommen zu lassen. Wenn wir einem Angeklagten das Wort verbieten, sind wir definitiv im Faschismus!

Es gibt eine sehr schöne Definition von Pazifismus, nämlich: Frieden schaffen ohne Waffen. Leider scheint dieser Satz wenig Überzeugungskraft zu haben, denn die meisten Menschen halten es immer noch für selbstverständlich, dass der gegenteilige Satz „Frieden schaffen mit Waffen" alternativlos sei. Das Zauberwort hier lautet „Abschreckung“: Die bösen Räuber dieser Welt würden ohne Abschreckung rauben und morden ohne Ende.

Doch wohin führt uns diese Denkweise? Eine solche Art zu denken bringt uns schlicht zurück in barbarische Zeiten, in vor-zivilisatorische Zeiten, als das einzige Gesetz gegen die Macht des Stärkeren das biblische Gesetz „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ — von Gott höchstselbst den Menschen gegeben — war. Das ist sogar ein ziemlich kluger Satz, weil er die extrem starke Tendenz zur Konflikt-Eskalation zu bremsen versucht.

Es hat dann allerdings einige tausend Jahre gedauert bis zur Proklamation der Menschenrechte, dem Gewaltmonopol des Rechtsstaats, der von freien und gleichberechtigten Bürgern gebildet wird, dessen friedensschaffendes und friedenserhaltendes Prinzip auch von den Vereinten Nationen verwirklicht werden sollte. Das hat jedoch nicht geklappt: Leider ist die internationale Politik immer noch ein rechtsfreier Raum. Mit der Einhaltung des Völkerrechts schmückt man sich nur, wenn es den eigenen Interessen dient. Das liegt wohl am fehlenden Gewaltmonopol. Also zurück zur Barbarei, zur Politik der Abschreckung.

Wir Deutschen sollten, wenn wir das Wort „Abschreckung“ hören, sofort an die Hitlerzeit denken, denn niemand hat in der Menschheitsgeschichte seine Gräueltaten dermaßen mit Abschreckung begründet wie die Nazis.

Die Logik der Abschreckung ist die wahre Ursache für Krieg. Die Bombardierung Guernicas sollte die Basken abschrecken, die Vernichtung von Oradour-sur-Glane sollte die französische Résistance abschrecken, die Auslöschung Lidices sollte die Tschechen nach der Ermordung von SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich abschrecken. Damit diese Logik der Abschreckung, die man auch Kriegslogik nennt, wirkt, muss man bereit sein zu Gräueltaten, sonst wird die Abschreckung vom Feind nicht ernst genommen. So zu tun, als wäre man zu Gräueltaten bereit, reicht jedoch nicht — das allein ist noch nicht glaubhaft —, man muss es auch tun. Ein gutes Beispiel sind die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki. Furchtbare Gräueltaten, die bis heute den Respekt vor dem amerikanischen Imperium begründen.

Pazifist wird man in dem Moment, in dem man erkennt, dass die Logik der Abschreckung der erste Schritt in den Krieg ist.

Wobei Selbstverteidigung im nicht ganz so radikalen Pazifismus, im Gegensatz zum Pazifismus Jesu oder Gandhis, erlaubt und sogar geboten ist. Dummerweise wird von jedem Angreifer sein Angriff als Selbstverteidigung dargestellt ...

Wie diese Logik in der Praxis funktioniert, zeigt sich am aktuellen Konflikt in der Ukraine. Da bildet Wladimir Putin keine Ausnahme mit seinen Reden. Zur Begründung des Völkerrechtsbruchs hatte er explizit auf den Präzedenzfall des Kosovokriegs Bezug genommen. Auch Somalia, Libyen, Irak und vor allem Syrien — Länder, mit denen Russland traditionelle Beziehungen und Beistandsverpflichtungen unterhielt — nannte er.

Und überhaupt glauben die Russen, das Recht zu haben, sich dem Hegemonie-Anspruch des US-Imperiums zu widersetzen und nach eigener Fasson selig zu werden. Es gebe schließlich nicht nur einen Antisemitismus, es gebe auch einen Antislawismus. Beides lasten sie den westlichen Faschisten und Nazis an, die nicht vor der Ausrottung auch slawischer Völker zurückschreckten, die sie für minderwertig erklärten.

Nachdem Putin den Ausverkauf der Bodenschätze an internationale Oligarchen gestoppt hat, hat sich die im Grunde gutmütige russische Seele wieder gefangen und sich ihrer selbst vergewissert.

Acht Jahre Krieg gegen die russische Bevölkerung des Donbass — einst das Ruhrgebiet und Hightech-Standort der UdSSR —, angezettelt von amerikanischen Geostrategen, die das „Herzland“ unter ihre Kontrolle bringen wollen, ständige Aufrüstung direkt an der russischen Grenze und schließlich die angestrebte NATO-Mitgliedschaft ließen jedes Fass überlaufen. Die bereits von Putin auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 genannten roten Linien waren überschritten.

Putins Einmarsch setzte ein Zeichen der Abschreckung: bis hierhin und nicht weiter. Da in diesen acht Jahren die ukrainische Armee von den Amerikanern mit modernsten Waffen ausgerüstet wurde — sogar Bundeskanzlerin Merkel hat zugegeben, dass Minsk II nicht ernst gemeint war, sondern den Zeitrahmen für diese Aufrüstung schaffen sollte —, entwickelte sich die geplante Militäraktion anders als erwartet. Putin hatte ursprünglich vorgehabt, diejenigen zu verhaften und vor Gericht zu stellen, die er für die Bombardements der Großstädte im Donbass verantwortlich machte — Kräfte, die er als „Faschisten“ und „Nazis“ bezeichnete. Doch die Operation blieb im Stellungskrieg stecken. Nach russischer Darstellung konnten immerhin viele Biowaffenlabore geschlossen werden, in denen man Kampfstoffe entwickelte, die speziell slawische Ethnien krank machen sollten und die im Bereich der russischen Grenze „mit Erfolg“ getestet worden seien.

Von all diesen Hintergründen und Argumenten erfahren die Deutschen nichts — die russischen Quellen wurden, soweit möglich, geblockt; der Angeklagte wird nicht gehört. Abschreckung ist wie unter Hitler wieder das Maß aller Dinge.

Und so breitet sich diese Denkweise wie ein Virus aus: Wie eine ansteckende Krankheit, die sich im Gegensatz zu Corona von Mutation zu Mutation verschlimmert, greift das Abschreckungsvirus immer weiter um sich. Alle rüsten wie verrückt, die Grünen vergessen die Umweltzerstörung, die CDU vergisst die christliche Botschaft, die SPD vergisst die „kleinen Leute“, die sowieso als Erste draufgehen, die Linken vergessen die Solidarität mit den Schwachen — und alle zusammen vergessen die Atombomben.

Das ist nun wirklich der Gipfel der Absurdität, dass in einer Zeit, in der wieder Abschreckungsideologen regieren, die Mutter aller Abschreckung, nämlich die Atombombe, vergessen wird. Dabei stehen wir heute näher am Atomkrieg als jemals zuvor seit der Kubakrise 1962. Die Weltuntergangsuhr der Atomwissenschaftler zeigt 90 Sekunden vor Mitternacht — so nah am Abgrund waren wir noch nie.

Wer die Logik der Abschreckung zu Ende denkt, landet bei der atomaren Vernichtung der Menschheit. Das ist die ultimative Konsequenz dieser Denkweise: die totale Zerstörung als letztes Argument.

Genau deshalb ist der Pazifismus heute keine romantische Utopie, sondern ein Gebot des Überlebens. Die Alternative zur Abschreckungslogik ist nicht Unterwerfung — die Alternative ist das Erwachen zu unserer fundamentalen Verbundenheit, die Erkenntnis, dass der Schmerz des anderen unser eigener Schmerz ist, dass es keinen wirklichen Sieg geben kann, wenn er auf dem Leid anderer fühlender Wesen beruht.

Doch die Logik der Abschreckung verlangt das Gegenteil: Sie erklärt andere Menschen zu Werkzeugen des Teufels, damit wir uns als Werkzeuge Gottes sehen können. Der Feind denkt allerdings genauso. Aber in dem furchtbaren Totalitarismus, der aus dieser Denkweise erwächst, gilt eine solche Erkenntnis als Wehrkraftzersetzung. Man kann dafür an die Wand gestellt werden. Denn der Sieg muss unser sein — sonst wären unsere Helden ja umsonst gestorben.