Alte Risse, neue Gräben

Durch Selbstverantwortung können Zerwürfnisse in der Coronafrage überwunden werden.

Selten zuvor hat ein Thema die Menschen so gespalten wie Corona mit all den damit verbundenen Maßnahmen und Meinungen. Durch viele Familien ziehen sich seit Monaten tiefe Gräben, und so manche Freundschaft hat aufgrund fundamental unterschiedlicher Ansichten ein konfliktgeladenes Ende gefunden. Wie konnte es so weit kommen? Und vor allen Dingen: Gibt es eine Chance für Wiederannäherung — im persönlichen Umfeld wie auch in der Gesellschaft als Ganzes?

Besonders diejenigen, die dem offiziellen Narrativ widersprechen und in Corona in erster Linie einen Vorwand für den tiefgreifenden Umbau der Gesellschaft sehen, machen dafür gerne Politik und Mainstream-Medien verantwortlich. Deren einseitige und Angst schürende Berichterstattung habe zu einer völlig überzogenen Gefahreneinschätzung und Hetze gegen Andersdenkende geführt.

Andersherum sieht der linientreue Teil der Bevölkerung das Problem in selbsternannten Aufklärern, Verschwörungstheoretikern und radikalen Sektenführern, die gefährliche Fake News verbreiten und die Demokratie gefährden. Von ihnen und ihren Anhängern müsse man sich deshalb aufs Schärfste distanzieren.

Doch so einfach ist die Sache nicht. Natürlich tragen diverse Medien durch tendenziöse und emotionale Berichterstattung zu einer radikalisierten Meinungsbildung bei. Umgesetzt und vollzogen wird die Spaltung jedoch von uns Menschen.

Hier beginnt es interessant zu werden, erreichen wir doch damit den Punkt der Verantwortung eines jeden Einzelnen. Und es stellen sich die Fragen: Wie konnte es so weit kommen? Und wie gehen wir nun damit um?

Aus feinen Rissen werden tiefe Gräben

Meine Beobachtung der vergangenen Monate ist, dass Gräben in Beziehungen immer da entstanden sind, wo vorher bereits Risse waren. Über diese Makel konnte man vor Corona hinwegsehen. Man konnte die oftmals darunter liegende Verletztheit oder den Groll um des lieben Friedens willen verdrängen. Bei genauerer Betrachtung war jedoch schon vor der Pandemie erkennbar, dass der Anstrich aus freundlichem und höflichem Umgang miteinander an der ein oder anderen Stelle eine darunterliegende Dissonanz nicht wirklich abzudecken vermochte.

Aus diesen unscheinbaren Rissen erwuchsen durch das Beben der Pandemie vielerorts ausgeprägte Spalten und Brüche. Woher aber stammen diese Verletzungen im Beziehungsgebäude, und warum führten manche zu unüberbrückbaren Differenzen und andere nicht?

Die Ursache für diese Gräben findet sich meist in ungelösten Konflikten und verdrängten Emotionen der Vergangenheit.

Nichts wirklich Weltbewegendes, eher der ganz normale Beziehungsalltag: das nagende Gefühl von Ungerechtigkeit und ungleicher Behandlung unter Geschwistern; ein paar blöde, herablassende Bemerkungen der Freundin; mangelnde Aufmerksamkeit und Unterstützung durch die Eltern; der Schwager, der sich mit seiner respektlosen Art schon in der Vergangenheit häufiger danebenbenommen hat; die Cousine, die schon immer irgendwie unsympathisch und arrogant rüberkam …

Wir Menschen sind Meister darin, Groll-Punkte im Rabattmarkenheft zu sammeln. Besonders wir Deutschen. Für jeden Fehltritt, für jede spitze Bemerkung, für jedes Ins-Wort-Fallen gibt es einen weiteren Punkt. Nicht selten über viele Jahre hinweg. Denn gleichzeitig sind wir ja wohlerzogen und darauf bedacht, nach außen hin ein harmonisches, intaktes Familienbild abzugeben und keinen Ärger zu machen.

Der energiegeladene Aufruhr der Pandemie kommt dann wie gerufen, um all diese Sammelpunkte gebündelt auf den Tisch zu legen, die lange angestaute emotionale Wut, Enttäuschung und Verletztheit sich entladen zu lassen und den Kontakt zu diesem — wie man sowieso schon lange wusste — egoistischen, dummen, unbewussten oder gar böswilligen Menschen abzubrechen.

Natürlich ist die Beziehungsrealität meist komplexer als hier dargestellt. Um die grundlegenden Abläufe zu verstehen, sollte diese vereinfachte Darstellungsweise jedoch ausreichen.

Gegen intakte Beziehungen hat Hetze keine Chance

Wenn wir ehrlich zu uns sind, wird uns schnell klar: Von Menschen, die uns wirklich am Herzen liegen, zu denen wir eine respektvolle, wertschätzende Beziehung haben, lassen wir uns durch keine Propaganda dieser Welt wirklich trennen. Wir mögen konträre Meinungen haben, vielleicht sogar heftig diskutieren. Aber unterm Strich wird das Fundament der Beziehung immer stärker sein als die Differenzen. Trotz eines emotional aufgeladenen Themas ist da ein grundlegendes Bemühen, den anderen zu verstehen und seine Sichtweise zumindest zu akzeptieren.

Mir scheint, dass uns der Grundsatz „Trenne Mensch und Verhalten“ bisweilen abhandengekommen ist. Gerade in Beziehungen sollten wir uns diese Unterscheidung jedoch dringend wieder ins Gedächtnis rufen: Das Verhalten eines Menschen kann und darf — mitunter sogar scharf — kritisiert werden. Seine Würde und sein Wert als Mensch jedoch sind unantastbar.

Natürlich gibt es auch berechtigte Gründe, Beziehungen zu beenden. Ist jedoch die Zeit eines gemeinsamen Weges einfach abgelaufen, so trennt man sich meist einvernehmlich, unaufgeregt und mit den besten Wünschen für den jeweils anderen. Ist eine Trennung von Emotionalität begleitet, so deutet das dagegen darauf hin, dass Verletztheit und Groll die treibenden Motive sind. Und die verschwinden nicht, indem man die andere Person aus seinem Leben verbannt.

Die eigenen Wunden lecken

Aus dieser Misere führt mit oder ohne Corona nur ein Weg: sich die eigene Verbitterung, Enttäuschung oder Wut bewusst zu machen und die Verantwortung dafür zu übernehmen. Denn auch wenn wir das meist gar nicht gerne hören: Der andere ist nicht für unsere Emotionen verantwortlich.

Gefällt uns ein bestimmtes Verhalten nicht, so liegt es an uns, dies — je nach Situation — angemessen zu kommunizieren oder eine klare Grenze zu setzen. Für den Groll, der sich unter Umständen in uns aufbaut, sind in der Folge einzig und allein wir zuständig.

Und da dieser Unmut erstens in keiner Weise zu einer Lösung führt und zweitens langfristig unserer Gesundheit schadet, tun wir gut daran, über unseren Schatten zu springen und uns mit unseren Emotionen auseinanderzusetzen: Welche wunden Punkte hat unser Gegenüber berührt? Welche alten, sehr vertrauten Gefühle, wie beispielsweise sich nicht verstanden, ungerecht behandelt oder übergangen zu fühlen, hat der andere wieder in uns aktiviert? Durch welches Verhalten fühlen wir uns getriggert und warum?

Egal, ob kleine Risse oder große Spaltungen — sie entstehen immer durch Rückzug und Distanzierung, meist als Reaktion auf Kränkung, Enttäuschung oder Verurteilung. Doch selbst wenn wir die andere Person weitestgehend aus unserem Leben verbannen können, die emotionale Ladung bleibt. Die übliche Reaktion darauf ist, sie nach anfänglicher Empörung herunterzuschlucken und zu verdrängen. Das funktioniert so lange, bis die nächste Person in unserem Leben exakt die gleichen Knöpfe drückt und das gleiche Spiel von vorne beginnt.

Also warum nicht Corona als Chance begreifen und die Spaltung im Familien- und Freundeskreis zum Anlass nehmen, um die eigenen emotionalen Wunden zu erkennen und zu heilen?


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