Angemaßte Objektivität

Wenn Wissenschaftler ihre eigene Fehlbarkeit verleugnen, bereiten sie den Boden für totalitäres Handeln.

Wissenschaft strebt nach Erkenntnisgewinn. Sie ist ergebnisoffen und schafft neues Wissen, indem sie untersucht, beschreibt und zu erklären versucht. Ohne jeden Zweifel ist die Wissenschaft das beste Werkzeug, das den Menschen derzeit zur Verfügung steht, um die eigene Ignoranz zu überwinden und so der unerreichbaren, universellen Wahrheit ein Stückchen näher zu kommen. Seriöse Wissenschaft ist etwas Gutes, eine kulturelle Errungenschaft, ein Triebwerk des Fortschritts. Ihre Forschungsstätten sind Erkenntnismanufakturen. Folglich ist es nur naheliegend, bei der Konfrontation mit einem bestimmten Problem die Mittel der Wissenschaft zu bemühen, um dieses zu bewältigen. „Hört auf die Wissenschaft!“, klingt es dann aus den Kehlen besorgter Bürger, die, bewaffnet mit neuer Kenntnis, den zeitgenössischen Erschwernissen den Garaus machen wollen. Eigentlich logisch. Und eigentlich auch der richtige Weg — sofern man aus der vielfältigen Wissenschaft keinen einfältigen Glauben macht.

Wären da nur nicht die Schattenseiten eben jener Wissenschaft. Also zum Beispiel ihre Beeinfluss- und Korrumpierbarkeit, welche die Gefahr in sich bergen, die Forschung — allen guten Intentionen zum Trotz — vom Weg der Rechtschaffenheit zu drängen. Nur, wohin begibt man sich stattdessen? Im Gleichschritt in Richtung eines evidenzbasierten Totalitarismus? Zugegeben, das mag nun reichlich dramatisch klingen. Und es soll damit auch nicht suggeriert werden, dass dies den Status quo darstellen würde.

Doch in einer Zeit, in der — vorgeblich — auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse grundlegende Freiheitsrechte aus den Angeln gehoben werden, darf es kein Tabu sein, derlei Bedenken auszusprechen. „Folgt der Wissenschaft!“, hieß es schließlich auch von jener Regierung, die zu Beginn der Coronakrise Forscher einspannte, um auf Basis panikbefördernder Rechenmodelle Maßnahmen „präventiver und repressiver Natur“ rechtfertigen zu können.

Doch nicht allein aus diesem Grund ist die häufig gebrauchte Floskel „Folgt der Wissenschaft!“ problematisch. Denn was in einem solchen Fall mit „Wissenschaft“ zumeist gemeint ist, stellt nur jenen winzigen Teilbereich dar, der in einem direkten Zusammenhang mit einer bestimmten Problemstellung steht. Im Kontext von Corona wäre dies die Virologie und im Kontext der globalen Erderwärmung die Klimatologie.

Eine Wissenschaft, die jedoch 99 Prozent aller anderen Teilgebiete sowie alles „Unwissenschaftliche“ aus ihrer Gleichung zur Problembewältigung ausschließt, ist keine Wissenschaft mehr, sondern schlicht eine Anmaßung.

Und eine Gesellschaft, die unkritisch einer solchen Wissenschaft folgt, degradiert sich alsbald vom handelnden, demokratischen Subjekt zum passiven Objekt einer Virolo-, Klimatolo- oder wie auch immer gearteten Expertokratie.

Wer demzufolge appelliert, man solle zur Bewältigung einer Krise auf „die Experten“ vertrauen, hiermit in Wirklichkeit aber nur die Vertreter eines einzelnen, eng abgesteckten Forschungsfeldes meint, begeht damit denselben Fehler, den viele Wissenschaftler sogenannten Verschwörungstheoretikern gerne zum Vorwurf machen: Komplexitätsreduktion zur Bewahrung des Überblicks.

Das mag nun in den Ohren des ein oder anderen wie ein Plädoyer gegen die Expertise an sich anmuten. Doch das ist es nicht. Im Gegenteil: Vielmehr soll hiermit eine Lanze für die Expertise gebrochen werden. Für die Expertise in ihrer vollen Bandbreite.

Also die Expertise, die direkt und indirekt durch eine Krise tangiert ist und sich mit einer Vielfalt an Herausforderungen konfrontiert sieht. Die Expertise, die um die Begrenztheit der eigenen Methoden weiß und den Irrtum als notwendiges Übel zum Fortschritt nicht nur anerkennt, sondern auch zu schätzen weiß. Die Expertise, die, da sie im Reinen mit ihrer eigenen Fehlbarkeit ist, niemals auf die Idee kommen würde, Widerspruch zu verbannen. Diesen Experten, diesen Wissenschaften, diesen Menschen sollte man zuhören, ihnen Fragen stellen und mit ihnen gemeinsame Strategien entwerfen.

Und ja, selbstverständlich wird man bei Auftreten eines Virusproblems zunächst ganz besonders den Worten jener Experten lauschen, die ihr Leben dem Studium von organischen Kleinstlebewesen verschrieben haben. Dagegen ist nichts einzuwenden.

Was wir in Zukunft allerdings überdenken könnten, ist die Strategie, nach monatelanger Konfrontation mit ein und demselben Problem bei der Beratung darüber, wie wir damit umgehen, immer nur den Stimmen einer kleinen auserlesenen Gruppe zu lauschen, die dadurch, dass sie dies widerspruchslos so hinnimmt, ja sich vielleicht sogar daran ergötzt, zu Vertretern dieser anderen, falschen, eminenzblasierten Expertise werden. Einer Expertise, die kraft des Zaubers eines weißen Kittels und der Erfahrung medialer Verstärkung andere mundtot zu machen vermag und damit gleichsam in Kauf nimmt, den der Wissenschaft inhärenten, fragenden Geist ins Exil zu verbannen, wodurch sie allerdings letzten Endes nur die Wissenschaft an sich zu Grabe führt.

Ein Experte ist eine Person, die hinterher genau sagen kann, warum ihre Prognose nicht gestimmt hat (Winston Churchill).

Wenn alle Experten sich einig sind, ist Vorsicht geboten (Bertrand Russell).

Scientists who support silencing opposing voices are actually priests (ein Twitteruser).