Auf dem Weg zur Europaarmee?

Die Vereinbarung über eine Ständige Strukturierte Zusammenarbeit in Fragen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik

Am 13. November 2017 einigten sich 23 der 28 Mitgliedstaaten der EU auf eine Ständige Strukturierte Zusammenarbeit in Fragen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP). Verteidigungsministerin von der Leyen bezeichnete diesen Beschluss euphorisch als den Start einer „Europäischen Verteidigungsunion“. Im Folgenden soll es um den Hintergrund dieser Einigung und ihre Bedeutung gehen.

Auf dem Weg zu einer Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit

Ausgangspunkt einer engeren militärischen Zusammenarbeit waren die Schlussfolgerungen des „Europäischen Rats zu Sicherheit und Verteidigung“ vom Juni 2017 zur Begründung einer „Ständigen Strukturierte Zusammenarbeit“. Dort heißt es: „Im Hinblick auf die Stärkung der Sicherheit und Verteidigung Europas angesichts des derzeit schwierigen geopolitischen Umfelds und zur Verwirklichung der in der Globalen Strategie der EU aufgeführten Zielvorgaben der EU hält es der Europäische Rat für notwendig, dass eine inklusive und ehrgeizige Ständige Strukturierte Zusammenarbeit (…) begründet wird.“[1]

Die rechtliche Grundlage für diese „Ständige Strukturierte Zusammenarbeit“ - englisch: The Permanent Structured Cooperation (PESCO) - bietet der Vertrag von Lissabon. Danach können sich EU-Länder entscheiden, Mitglied einer solchen Zusammenarbeit werden zu wollen.[2] So kann vermieden werden, dass ehrgeizige Projekte einer engeren Zusammenarbeit an der Hürde der grundsätzlich notwendigen Einstimmigkeit bei Beschlussfassungen in Fragen der GSVP scheitern. Dies war bereits ein Anliegen des deutschen Außenministers Josef Fischer und seines französischen Kollegen Dominique de Villepin im Europäischen Verfassungskonvent im November 2002: „Es wird aber Situationen geben, in denen nicht alle Mitgliedstaaten bereit oder in der Lage sind, sich an der Zusammenarbeit zu beteiligen. Für diesen Fall muss denjenigen, die dies wünschen, die Option einer Zusammenarbeit mit einigen anderen im Rahmen des Vertrages offen stehen.“[3] Ein solches Vorgehen birgt jedoch das Risiko, dass es abermals – nach der Etablierung des Schengen-Raums und der Schaffung des Euros –zum Vorangehen nur eines Teils der Mitgliedsländer kommt mit dem Ergebnis eines Europas der verschiedenen Geschwindigkeiten dann auch in der Außen- und Sicherheitspolitik. Zwar hofft man in Brüssel darauf, dass sich einer Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit in Fragen der GSVP alle, zumindest aber die meisten Mitgliedsländer anschließen werden, sicher ist das aber nicht.

Angestoßen wurde die Initiative durch die im September 2016 vorgelegte deutsch-französische Erklärung „Erneuerung der GSVP - hin zu einer umfassenden, realistischen und glaubwürdigen Verteidigung in der EU“. Vorgestellt wurde sie von den Verteidigungsministern der beiden Länder, Ursula von der Leyen und Jean-Yves Le Drian.[4] Es heißt darin: „Wir empfehlen die Entwicklung eines klaren Fahrplans zur Erneuerung einer transparenten und integrativen GSVP der 27 - offen für alle EU Mitgliedstaaten. Hierbei sollten einige unserer Vorschläge zudem im Rahmen der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (PESCO) betrachtet werden, (…).“[5]

Paris und Berlin reagierten damit auf die mit der britischen Brexit-Entscheidung grundlegend veränderte Situation in Europa, auch in der Sicherheitspolitik: „Unter der Prämisse der Entscheidung des Vereinten Königreichs, die Europäische Union zu verlassen, ist es nun unser Ziel, zu 27 weiter voranzuschreiten.“[6] Der Austritt Großbritanniens schwächt die militärischen Fähigkeiten der EU erheblich, verlässt doch damit jenes Land die Union, das über die stärkste und kampferfahrenste Armee aller Mitgliedsländer verfügt. Großbritannien besitzt zudem eine große und hochentwickelte Rüstungsindustrie. Diesen Verlust wird die EU nur kompensieren können wenn es ihr gelingt, das ihr verbliebene militärische Potential zumindest teilweise zusammenzulegen. Der Ausstieg Großbritanniens bietet den daran Interessierten aber auch die Chance, mit einer solch engeren Kooperation endlich Ernst machen zu können. Denn entgegen allen Bekenntnissen zur Zusammenarbeit hatte es London, mal offen mal verdeckt, immer wieder geschafft, konkrete Schritte dahin unmöglich zu machen. Mit Großbritannien saßen immer auch die USA mit am Tisch, und die achteten genau darauf, dass jede europäische Verteidigungsinitiative im Rahmen der NATO verblieb.

Der Streit über einen europäischen Militärstab 2003

Einen guten Einblick in die Abhängigkeit von den USA bot der Streit über die Einrichtung eines eigenständigen EU-Militärstabs. Im April 2003 vereinbarten Frankreich, Deutschland, Belgien und Luxemburg auf dem sicherheitspolitischen Brüsseler Gipfel die Einrichtung einer Planungszelle zur Einsatzvorbereitung ziviler und militärischer Krisenreaktionskräfte. Ein Quartier dafür – im Brüsseler Vorort Tervuren – stand bereits fest. Nach zähen Verhandlungen mit der britischen Regierung, die sich dabei offen als Vertreterin der USA zu erkennen gab, wurde zwar erreicht, dass sich die EU eigene operationelle Fähigkeiten in Form eines Militärstabes zulegen kann, festgelegt wurde aber zugleich, dass dieser Stab nur in Ausnahmefällen genutzt werden soll, europäische Einsätze in der Regel aber von einem der nationalen Hauptquartiere geführt werden sollen. Zur Vermeidung von Konflikten wurde überdies festgeschrieben, dass die NATO Verbindungsoffiziere in diesen europäischen Militärstab schicken könne.[7] Vom ursprünglichen Plan bleib also nicht viel übrig.

Künftig soll das anders sein. Im deutsch-französischen Papier heißt es: „Die strategischen Planungsfähigkeiten sollten innerhalb der Krisenmanagementstruktur des Europäischen Auswärtigen Dienstes (EAD) und die Kommandokette unter der politischen Kontrolle des Politischen und Sicherheitspolitischen Komitees (PSK) der Europäischen Union verbleiben. Wir bekräftigen, dass ein permanentes EU Headquarter (HQ) für militärische und zivile GSVP Missionen und Operationen – eine permanente militärische EU Planungs- und Durchführungsfähigkeit und eine permanente zivile EU Planungs- und Durchführungsfähigkeit – unser mittelfristiges Ziel bleibt.“[8]

"Wir Europäer müssen unser Schicksal wirklich in unsere eigene Hand nehmen"

Mit der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten im November 2016 kam ein weiterer Grund für die Ertüchtigung der GSVP hinzu: „Der Republikaner fordert von den Europäern ein deutlich stärkeres Engagement in diesem Bereich. Zudem wird auch in der EU die Notwendigkeit gesehen, in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik unabhängiger von den USA zu werden.“[9] Vor und nach seiner Wahl hatte Trump sogar den Sinn der NATO infrage gestellt. Inzwischen nahm er diese Aussage zwar wieder zurück und bekannte sich ausdrücklich zu ihr, doch zugleich kritisierte er die europäischen NATO-Staaten scharf, zu wenig für ihre eigene Verteidigung zu tun. „Die Bündnisverpflichtung in der NATO wurde inzwischen bekräftigt, noch weiß jedoch niemand in Europa, was das konkret bedeutet.“ [10] Die Wahl von Trump sorgte denn auch für einen gehörigen Schrecken in den europäischen Hauptstädten. Bundeskanzlerin Merkel reagierte auf die neue Lage mit den unbeholfenen Sätzen: „Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, die sind ein Stück weit vorbei. Das habe ich in den letzten Tagen erlebt. Und deshalb kann ich nur sagen: Wir Europäer müssen unser Schicksal wirklich in unsere eigene Hand nehmen. Natürlich in Freundschaft mit den Vereinigten Staaten von Amerika.“[11] Worte, die es immerhin bis in das CDU/CSU-Programm für die Bundestagswahlen 2017 schafften.

Am 13. November 2017 einigten sich 23 der 28 Mitgliedstaaten auf eine Ständige Strukturierte Zusammenarbeit in Verteidigungsfragen.[12] Nicht dabei sind – neben Großbritannien und Dänemark, die aufgrund einer Bestimmung des Vertrags von Maastricht nicht an der militärischen Kooperation teilnehmen – Irland, Portugal und Malta. Das wichtigste Ziel der Vereinbarung ist die Zusammenarbeit bei Forschung und Entwicklung sowie bei der Rüstungsbeschaffung. Dafür wird ein Europäischer Verteidigungsfonds gegründet, der 2019 und 2020 mit insgesamt 500 Millionen Euro ausgestattet werden soll. Ausdrücklich verpflichten sich die beteiligten Mitgliedsländer zu einer Erhöhung ihrer Rüstungsausgaben auf das Niveau von zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Dies entspricht dem 2014 von den Staats- und Regierungschefs der NATO-Staaten festgelegten Ziel.

Es ist aber zu bezweifeln, ob damit der Durchbruch bei der Begründung einer Sicherheits- und Verteidigungsunion erreicht wurde, wie euphorisch von der Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen verkündet wurde. Eine europäische Armee kommt damit nicht in Sicht: „Nichts gibt ein Staat unwilliger aus der Hand als seine Verteidigung, denn hier kann es im Ernstfall ums nackte Überleben gehen. Dass in der EU auf diesem Feld seit Jahren nur Trippelschritte möglich sind, hat viel damit zu tun, dass kein Land die Entscheidung über Krieg und Frieden nach Brüssel delegieren will, nicht einmal das so integrationsfreundliche Deutschland.“[13]

Die Nützlichkeit äußerer Feindbilder

Der Zeitpunkt für die neue Initiative in der militärischen Zusammenarbeit war günstig gewählt, entspricht sie doch einem gewachsenen Sicherheitsbedürfnis unter den europäischen Bevölkerungen. Der reale Terrorismus aber auch die von Politik und Medien geschürten Ängste vor einem wieder erstarkenden Russland und vor der neuen Weltmacht China eignen sich hervorragend zur Legitimation einer solchen Politik.

In einer Studie des Pariser Büros der der SPD nahestehenden Friedrich-Ebert-Stiftung wurde ein weltweites Bedrohungsszenarium entwickelt, dem sich die EU angeblich ausgesetzt sieht: „Der strategische Kontext, in dem sich die Europäische Union befindet, ist in den letzten zehn Jahren deutlich angespannter geworden. Im Osten hat die wiedererstarkende Macht Russlands zu zwei Konflikten mit seinen Nachbarn geführt: erst 2008 in Georgien, dann 2014 in der Ukraine. Im Süden folgten auf die Hoffnungen des ῾arabischen Frühlings῾ von 2010 Konflikte in Libyen und in Syrien, deren Folgen sich nun auch in der Flüchtlingskrise niederschlagen, mit der Europa konfrontiert ist. Der islamistische Terrorismus (…) hat sich auf die Sahelzone und anschließend auf den Irak und auf Syrien ausgeweitet. Zu diesen Bedrohungen in der unmittelbaren Nachbarschaft kommen noch weitere beunruhigende geopolitische Entwicklungen hinzu, wie die Spannungen im Chinesischen Meer oder das Risiko einer Destabilisierung durch die Verbreitung von Kernwaffen in Nordkorea und im Iran.“[14] Einmal abgesehen davon, wie groß die hier beschriebenen militärischen Gefahren – etwa des Terrorismus - für die EU wirklich sind, ist bemerkenswert, dass die Autoren der Studie die Europäische Union bzw. ihre Mitgliedsländer nur als Opfer, nicht aber als eigenständig Handelnde sehen, etwa bei der Einkreisung Russlands mittels der Ostausdehnung der NATO, beim militärischen Angriff auf den Irak und Libyen, bei der Intervention in Afghanistan oder bei der Destabilisierung Syriens. Der Status eines Opfers bzw. eines Bedrohten eignet sich eben immer gut für die ideologische Einstimmung als Voraussetzung einer Mobilmachung der Truppen.


Redaktionelle Anmerkung: Die Erstveröffentlichung dieses Artikels erfolgte auf „Andreas Wehr – Autor von Büchern und Artikeln zu Europa, Philosophie und Geschichte sowie zur aktuellen Politik, Mitbegründer des Marx-Engels-Zentrums Berlin“.


Anmerkungen und Quellen:

[1] Vgl. Schlussfolgerungen des Europäischen Rats zu Sicherheit und Verteidigung vom 22.6.2017, Innere Sicherheit und Bekämpfung des Terrorismus, Pressemitteilung 417/17, http://www.consilium.europa.eu/de/press/press-releases/2017/06/22-euco-security-defence/
[2] Artikel 42 Absatz 6 des EU-Vertrags bestimmt: Die Mitgliedstaaten, die anspruchsvollere Kriterien in Bezug auf die militärischen Fähigkeiten erfüllen und die im Hinblick auf Missionen mit höchsten Anforderungen untereinander weitergehende Verpflichtungen eingegangen sind, begründen eine Ständige Strukturierte Zusammenarbeit im Rahmen der Union (…).
[3] „Beitrag von Herrn Dominique de Villepin und von Herrn Joschka Fischer, Mitglieder des Konvents: "Gemeinsame deutsch-französische Vorschläge für den Europäischen Konvent zum Bereich Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik", CONV 422/02, CONTRIB 150, S. 4f. http://register.consilium.europa.eu/doc/srv?l=DE&f=CV%20422%202002%20INIT
[4] Erneuerung der GSVP - hin zu einer umfassenden, realistischen und glaubwürdigen Verteidigung in der EU, http://augengeradeaus.net/2016/09/dokumentation-deutsch-franzoesische-initiative-fuer-europaeische-verteidigung/
[5] Ebd.
[6] Ebd.
[7] Der britische Guardian schrieb über den Verlauf dieser Verhandlungen: “Mr. Blair has twice been in telephone contact with President George Bush in the past few days to assure him the laboriously negotiated deal will not weaken Nato.”, Washington accepts EU’s independent plans, in: The Guardian vom 12.12.2003
[8] Erneuerung der GSVP - hin zu einer umfassenden, realistischen und glaubwürdigen Verteidigung in der EU, a.a.O.
[9] Ein Grund: Trump: Europäische Verteidigungsunion kommt voran, in: Handelsblatt vom 7.9.2017, http://www.handelsblatt.com/politik/international/ein-grund-trump-europaeische-verteidigungsunion-kommt-voran/20294842.html
[10] Erhard Crome, Trump und die Deutschen, Berlin, S. 57
[11] Wie gestört sind die Beziehungen zu Trumps USA? in: Der Tagesspiegel vom 29.5.2017, http://www.tagesspiegel.de/politik/merkels-zitat-und-die-folgen-wie-gestoert-sind-die-beziehungen-zu-trumps-usa/19866206.html
[12] Vgl. Notification on Permant Structured Cooperation (PESCO) to the Council and to the High Representative of the Union for Foreign Affairs and Security Policy
[13] Trippelschritt, in: FAZ vom 14.11.2017
[14] Erneuerung der GSVP - hin zu einer umfassenden, realistischen und glaubwürdigen Verteidigung in der EU, a.a.O.