Aufstehen gegen diese EU!

Wehren wir uns gegen ein Europa der Massenverarmung.

Nachdem Innenminister Horst Seehofer die Flüchtlingskrise von 2015/16 zur „Mutter aller Probleme“ erklärt hatte, wurde und wird über die Stichhaltigkeit dieser Aussage heftig gestritten (1). Von links heißt es etwa: Die Mutter aller Probleme sei der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit. Das ist so richtig wie nichtssagend. Doch gibt es sie überhaupt, die eine Ursache für den Vertrauensverlust in die herrschende Politik und die Rechtsentwicklung, die sich im Aufstieg der AfD manifestiert?

Die 2007 einsetzende internationale Finanzkrise hat in den Peripheriestaaten der EU zu Staatsschuldenkrisen geführt. Aus ihnen ging die Eurokrise hervor. In Griechenland führte der faktische Staatsbankrott zur Abhängigkeit des Landes von Kreditzahlungen der übrigen Euroländer. Im Ergebnis wuchs die Verschuldung des Landes weiter an und die Bevölkerung verarmte. Acht Jahre nach Beginn der „Rettungspolitik“ hat das Land heute ein Viertel seiner Wirtschaftsleistung verloren. Im gleichen Zeitraum vergaben die Euroländer, mit Deutschland an der Spitze, Kredite an Griechenland in Höhe von nicht weniger als 288 Milliarden Euro (2).

Bis heute wird in Berlin behauptet, bei der „Rettung“ Griechenlands sei bisher kein Geld verlorengegangen. Doch dem ist nicht so:

„Das Bundesfinanzministerium beziffert die deutschen Kosten für die Stundung der Zinszahlung auf 34 Milliarden Euro“ (3).

Zudem kann niemand heute sagen, ob diese Kredite jemals vollständig oder auch nur zum Teil zurückgezahlt werden. Für Griechenland wird die letzte Kredittranche erst im Jahr 2060 fällig. Dann werden jene Politiker und sonstigen Verantwortlichen, die die Entscheidungen in der Eurogruppe, im Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) und in der Europäischen Zentralbank (EZB) getroffen haben, längst vergessen sein. Womöglich werden nicht einmal mehr die Parteien existieren, von denen sie in ihre Ämter geschickt wurden.

Und Griechenland ist nicht das einzige Land, dem in der Eurokrise mit vielen Milliarden ausgeholfen wurde — auch Irland, Portugal, Spanien und Zypern erhielten hohe Summen aus Mitteln des Europäischen Stabilitätsmechanismus. Und auch ihnen wurden lange Fristen für die Tilgungen eingeräumt.

Zur Bewältigung der Eurokrise wurden nicht nur Kredite vom ESM vergeben. Auch die EZB wurde eingespannt. Im Rahmen des „Securities Markets Programme“ (SMP) wurden von ihr zwischen Mai 2010 und September 2012 Staatsanleihen zur Stabilisierung notleidender Euroländer in Höhe von 223 Milliarden Euro aufgekauft. Auf dem Höhepunkt der Krise um Griechenland, im Juli 2012, gab EZB-Präsident Mario Draghi sogar das Versprechen ab, dieses Aufkaufprogramm unbegrenzt fortzusetzen: „What ever it takes“ (Was auch immer nötig ist), und er fügte hinzu: „And believe me, it will be enough“.

Ab 2015 wurde mit dem Programm „Quantative Easing“ erneut ein Aufkaufprogramm aufgelegt, in dem nun nicht nur Staatspapiere, sondern auch Anleihen europäischer Institutionen und sogar Schuldpapiere von Unternehmen aus den Krisenländern im Umfang von bisher mehr als zwei Billionen Euro aufgekauft wurden. Und auch die Geldpolitik wurde von der EZB zur Krisenlösung eingesetzt: Um die Refinanzierungsmöglichkeiten vor allem der Krisenländer Italien und Spanien auf den Finanzmärkten zu sichern, wurde der EZB-Leitzins in schnellen Schritten auf null gesenkt.

Die 2010 begonnene Vergabe von Krediten an notleidende Defizitländer durch andere Euroländer verstieß gegen das im Eurosystem vertraglich festgelegte Haftungsverbot der Länder untereinander. Und die Indienstnahme der EZB zur Krisenbewältigung ist nicht vereinbar mit der offiziell immer wieder beschworenen geldpolitischen Neutralitätspflicht der Zentralbank. Die führenden europäischen Politiker verstießen damit gleich zweimal gegen wichtige Versprechen, die sie bei der Einführung des Euros gegeben hatten.

So wird denn auch diese Politik seit Beginn der Eurokrise scharf kritisiert, zunächst nur von konservativen Wirtschaftswissenschaftlern, dann aber auch von immer mehr Abgeordneten der CDU/CSU und FDP, die sich im Bundestag bei den Abstimmungen über Hilfsprogramme für Griechenland in wachsender Zahl verweigerten. Die Unzufriedenheit führte schließlich 2013 zur Gründung der Partei Alternative für Deutschland (AfD), der bereits 2014 — und damit noch vor der Flüchtlingskrise 2015/2016! — mit 7,1 Prozent der Einzug in das Europäische Parlament gelang. Die Wahl des Parteinamens stellte übrigens eine Antwort auf das Merkel‘sche Postulat dar, dass die Rettung des Euros „alternativlos“ sei (4).

Anders also als es uns Horst Seehofer glauben machen will, ist nicht die Migration die „Mutter aller Probleme“. Am Anfang stand vielmehr die politische Unzufriedenheit mit der kostspieligen Eurorettungspolitik. Die verfehlte Flüchtlingspolitik kam erst später als Krisenverstärker hinzu. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung sieht es so:

„Aufgrund von Vertrauenserosion ist auch die Europa spaltende Flüchtlingspolitik eine Nachwirkung von Lehman. Ein wachsender Teil der Wähler macht das Kreuz bei Protestparteien, weshalb man inzwischen von einer Krise der liberalen Demokratien des Westens sprechen kann“ (5).

In Deutschland ist es inzwischen sogar vorstellbar, dass es zu einem Ende des traditionellen Parteiensystems, bestehend aus zwei Volksparteien, die eine Mitterechts, die andere Mittelinks, kommt. In Frankreich, Österreich und in Italien ist dies bereits eingetreten.

In den Jahren der Eurokrise zerbrach das Vertrauen in das Glücksversprechen einer „immer engeren Union“, wie der Leitspruch der EU lautet. Es ist die Angst großer Bevölkerungsgruppen vor instabilen Staatsfinanzen und vor Geldwertverlust, die die Radikalisierung bewirkte. Ein Vergleich mit der Entwicklung in der Weimarer Republik drängt sich auf: War es seinerzeit die Inflation von 1923, die zur Entfremdung von der jungen Republik führte, so ist es heute die Eurorettungspolitik.

Zu den Besorgten gehören auch viele Lohnabhängige. Zwar gelang es mit der Eurorettungspolitik die Krise halbwegs einzudämmen und damit zugleich viele Arbeitsplätze zu sichern, doch der Preis dafür war hoch. Die Sparguthaben der gern als „kleine Leute“ Bezeichneten werden durch die Nullzinspolitik der EZB seit Jahren schleichend entwertet. Selbst bei einer langfristig niedrigen Inflationsrate von 2 bis 3 Prozent verliert ein solches Guthaben innerhalb von 25 Jahren die Hälfte seines Werts. Geringe Zinsen verschlechtern zudem die Finanzlage von Pensionsfonds, Betriebsrentenfonds, von Lebensversicherern und Stiftungen. Auf deren Zahlungen sind aber auch viele Lohnabhängige und ihre Angehörigen im Alter, bei Arbeitsunfähigkeit oder Tod angewiesen.

Die Lohnabhängigen und Armen mussten erfahren, wie der Staat in der Finanzkrise zwar die Banken und Fondsgesellschaften rettete, dies aber am Ende vor allem zu ihren Lasten geschah, indem man die Kosten dafür sozialisierte. Die Vermögenden hingegen nutzen die zur Eindämmung der Krise ergriffenen Maßnahmen, um ihren Reichtum zu vermehren. Sie ergriffen die Chance, zu Niedrigzinsen Kredite aufnehmen zu können, mit denen sie dann Aktien, Rohstoff-Fonds oder Immobilien erwarben. Die aus der stark gestiegenen Nachfrage nach Häusern und Wohnungen resultierende Überhitzung des Wohnungsmarktes führt vor allem in Ballungsräumen zu stark steigenden Mieten — dies ist eine der gravierendsten Folgen der Nullzinspolitik der EZB für viele Lohnabhängige und Arme. Entgegen den offiziellen Beteuerungen, dass die Inflation weiterhin sehr niedrig sei, stellen die Mietpreissteigerungen für viele eine starke Steigerung der Lebenshaltungskosten dar.

Die Kritik an der desaströsen Eurorettungspolitik muss daher auch von Links, wie von der Bewegung „Aufstehen“, artikuliert werden. Neben der Kritik an der Erpressung der Defizitländer muss die sogenannte Europarettungspolitik als das bezeichnet werden, was sie für Deutschland bedeutet: Die Enteignung und Ausplünderung der kleinen Leute, um ein Eurosystem am Leben zu erhalten, das in erster Linie der Exportwirtschaft und der Finanzindustrie dient.

Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine haben in ihren Reden und Stellungnahmen immer wieder auf diese beiden Aspekte hingewiesen. In dem von ihnen geprägten Aufruf „Aufstehen — Gemeinsam für ein gerechtes und friedliches Land“ dominiert mit Blick auf die EU ein sehr kritischer Ansatz: „Vor allem große Unternehmen und ihre Eigentümer sind die Gewinner von Globalisierung, Freihandel, Privatisierung und EU-Binnenmarkt“, heißt es dort. Und anders als es die Partei DIE LINKE sieht, wird darin der Nationalstaat nicht als Auslaufmodell gesehen, sondern werden seine Potenziale gewürdigt:

„Die Spielräume für die Politik in einzelnen Ländern sind auch heute noch weit größer als uns eingeredet wird. Eine vernünftige Politik kann den sozialen Zusammenhalt wiederherstellen und den Sozialstaat erneuern. Sie kann die Bürger vor dem globalen Finanzkapitalismus und einem entfesselten Dumpingwettbewerb schützen.“

Damit wird all jenen eine Absage erteilt, die einen europäischen Staat anstreben. Im Aufruf wird stattdessen „ein europäisches Deutschland in einem geeinten Europa souveräner Demokratien“ gefordert.

Es gilt daher nicht länger der politischen Rechten — und hier vor allem der AfD — die radikale Kritik an der Europolitik zu überlassen. Es muss vielmehr heißen: Aufstehen gegen die Enteignung von oben!


Quellen und Anmerkungen:

(1) Vgl. Seehofers Mutterkomplex, in: FAZ vom 07.09.2018
(2) Vgl. zur Kritik an der Eurorettungspolitik Andreas Wehr, Europa, was nun? Trump, Brexit, Migration und Eurokrise, vor allem S.11-50, PapyRossa Verlag Köln, 2018
(3) Holger Steltzner, Lehmann und die Krise des Westens, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 14.09.2018
(4) Vgl. Aufstand gegen Merkels alternativlose Politik, in faz.net vom 14.04.2013 http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftspolitik/gruendungsparteitag-der-afd-aufstand-gegen-merkels-alternativlose-politik-12148549.html
(5) Holger Steltzner, a.a.O.