Aus Alt macht Neu

Die gegenwärtigen global-gesellschaftlichen Strukturen sind nicht recycelbar — die Menschheit steht an einem Point of no Return. Teil 1/2.

Wachstum gegen die Wirtschaftskrise. Waffen gegen den Krieg. Wissenschaft gegen Krankheiten. Derzeit werden wir von multiplen Krisen gebeutelt. Die Rezepte, die uns zu deren Bewältigung angeboten werden, sind allerdings allesamt „Old School“. Meist versucht man uns mehr dergleichen aufzuschwatzen — oder nur Varianten derjenigen Prinzipien, die uns erst in die Krise geführt haben. Die meisten Lösungsansätze sind Ausdruck eines einseitigen Menschenbildes, das uns von einem Teil unseres Wesens abschneidet — vor allem von jenen Anteilen, die mit Intuition und Mitgefühl zu tun haben. Wir werden lernen müssen, dass wir mit einem bloßen Reload schlechter und schädlicher Programme nichts Konstruktives bewirken können. Vielmehr müsste ein ganz neues Programm geschrieben werden. Der Autor widmet sich in seinem zweiteiligen Artikel tiefergehenden Fragen über die Zukunft des Menschseins.

Es wurde zu den aktuellen Krisen viel geschrieben, viel analysiert. Was haben wir aus den vergangenen zwei Jahren gelernt? Oder anders gefragt: Was haben die vergangenen zwei Jahre zutage treten lassen? Was sagt der Spiegel an der Wand? Und wo kann es hingehen?

Ein Blick darauf braucht schonungslose Ehrlichkeit. Dazu ist es erforderlich, die gewohnten Brillen abzulegen. Alle Maßstäbe eingefahrener und auch liebgewordener Normalität müssen infrage gestellt werden, und zwar aus dem einfachen Grund, weil es eben genau diese Normalität war, welche diese Welt an den Punkt gebracht hat, wo sie jetzt steht.

Können wir uns als Menschheit diese Gewohnheit, diese Normalität noch weiter leisten?

Wir verhalten uns seit langem so, als wäre all unser Tun und all unsere Maßnahmen eine unumgängliche Reaktion auf Umstände, die über uns hereinbrechen. Ein Virus taucht auf und die Gegenmaßnahmen bestehen aus Freiheitsentzügen verschiedenster Art. Eine Nation greift einen Staat an und die ganze westliche Welt reagiert in kriegerischer Manier. „Wir impfen uns Gesundheit herbei und bomben uns in den Frieden“ las ich irgendwo.

Kann es sein, dass unsere Reaktionen vielmehr zeigen, wer wir sind, als notwendige Maßnahmen realer Gefahrenabwehr zu sein? Sind wir im Kern womöglich noch gar nicht friedensfähig, nicht kooperationsfähig, nicht kompatibel?

Eine nachhaltige Ethik

Wer sich einmal mit dem zentralen Werk unserer christlich-abendländischen Kultur, der Bibel, näher befasst hat, wird feststellen, dass insbesondere das Alte Testament mit seinen Geschichten als Spiegel der moralischen Entwicklung des Menschen verstanden werden kann. Gesetze und Opfer waren ein zentraler Bestandteil dieser Entwicklung, genauso wie der Krieg der „Guten“ gegen die „Bösen“.

Irgendwann tauchte ein Zimmermann aus Nazareth auf und war bemüht, die nächste Stufe der Entwicklung einzuleiten: Liebe, Mitgefühl und All-Verbundenheit. Man war aber noch nicht so weit. 2000 Jahre später scheint es nicht besser auszusehen. Gesetze und Opfer bestimmen das Leben der Allermeisten, wer gut und wer böse ist, ist auch von oben festgelegt.

Wir sind im Kampf; nicht etwa, weil die Welt uns andauernd tatsächlich gefährdet, sondern weil unsere Art und Weise, die Welt zu sehen, selbst eine kriegerische ist. Wir bewundern indigene Völker, denen es gelingt „im Einklang mit der Natur“ zu leben, können uns das aber selbst nicht im Entferntesten vorstellen. Wir schotten uns vom planetaren Gefüge ab, anstatt unseren wirklichen Platz zu finden und uns einzufügen. Metaphorisch ausgedrückt: Wir betonieren und asphaltieren unsere Heimat und wundern uns über den verlorenen Kontakt zur Erde.

Das ist nicht übertrieben.

Der Lebensstil, der heute zur westlichen Normalität gehört, ist ein Lebensstil auf Kredit — auch dieses Wissen ist ein paradoxer Allgemeinplatz dieser Normalität.

Wir verwandeln fossile Ressourcen in hochproblematische Umweltbelastungen, ohne wirklich zu wissen, welche uns unbekannten Funktionen sie möglicherweise innerhalb des Planeten erfüllen. Nicht alleine aus der Einsicht dessen bestehen Bemühungen, dieses Verhalten zu ändern, sondern aus der selbstverständlichen Annahme, dass Wohlstand und Fortschritt eben genau so aussieht, wie wir ihn bisher definiert haben. Wir fühlen unseren Mangel nicht, weil unsere Ersatzbefriedigungen systemimmanent geworden sind.

„Erlöse uns von unserer Schuld ...!“

Und wer Schaden anrichtet, wird schuldig. Nicht immer auch mit einem Bewusstsein dafür, wie es bekanntlich schon bei unseren Prototypen Adam und Eva war: „Die Frau, die du mir gabst ...!“ meinte Adam nämlich, um sich vor Gott zu rechtfertigen, als er das Gebot übertreten hatte, nicht vom Baum der Erkenntnis zu essen. Die „Frau“ verwies ihrerseits auf die Schlange, welche sie dazu verführt hätte.

Schuld wird eben gerne delegiert. Ein Virus, der russische Aggressor, eine dunkle Elite– solche Ansätze lassen außer Acht, dass das beschuldigte System nicht außerhalb von uns liegt. Wir sind das System. Wir haben kollektiv mit unserer Art, die Welt zu sehen, und unserem Selbstverständnis genau dieses System erschaffen. Dieses System bringt infolgedessen alle Komponenten und Protagonisten hervor, die der „Spielaufbau“ erfordert.

Nun haben wir aber von der Frucht des „verbotenen Baumes“ gegessen, der in der Bibel übrigens „Baum der Erkenntnis“ genannt wird. Wir müssen schuldig werden, um zu höherer Erkenntnis zu kommen. Das Paradies war zu statisch. Aber: „Erkenntnis verpflichtet“ könnte man sagen. Der unreife Mensch muss die Schuld verlagern und projizieren. Er ist noch nicht fähig, Verantwortung zu tragen.

Aber die einzige Antwort auf Schuld, die wirklich funktioniert, ist Verantwortung.

Mit Verantwortung hört Schuld auf, etwas per se Schlechtes zu sein, denn diese ist unveränderbarer Teil menschlichen Lebens. Nur der Umgang damit ändert sich: Die Schuldursache wird zur Erfahrung, deren Integration dann zur Chance und Möglichkeit höherer Erkenntnis und Grundlage einer umfassenderen Ethik werden kann.

Der Turmbau zu Babel

Dazu muss der Wahnsinn erkannt werden. Das ist allein auf Verstandesebene nicht möglich, dort erschließt sich nicht die ganze Katastrophe, auch wenn wir noch so viele Statistiken bemühen würden, die verdeutlichen, wie sehr wir diese Welt an den ökologischen Exitus gebracht haben. Die Katastrophe muss erfühlt, sie muss „mit dem Herzen gesehen“ werden.

Die Lebenspraxis des westlichen Menschen ist durchgängig auf Gewalt gegründet. Gewalt ist ihre Grammatik. Sie ist strukturell und vielfach auch unsichtbar geworden. Wir bekämpfen statt zu integrieren, wir konkurrieren statt zu kooperieren, wir verdrängen statt zu sorgen. Unsere Grundversorgung hängt an einer globalisierten Industrie — die Terminologie des Kapitalismus ist alternativlos, denn unsere Maßstäbe für „Produktivität“ oder „Erfolg“ sind gar nicht mehr davon zu lösen, wir bekommen sie bereits in der Grundschule vermittelt, und es sind definierte Größen, die uns weitestgehend unbemerkt durchs Leben lenken. Religiös formuliert, ist Fleiß der Versuch der Selbsterlösung von unserer Schuldhaftigkeit.

Diesem Teufelskreis müssen wir entkommen. So kann es nicht weitergehen.

Die globale Situation ist ein Weckruf, den „Spielaufbau“ neu zu gestalten. Nun müssen wir Erfahrung in Erkenntnis verwandeln.

Aus dieser Erkenntnis kann wirkliche Kreativität entstehen. Das System muss neu gedacht werden, und zwar radikal (lat. „Radix“, die Wurzel).

Die Lösung für unsere Probleme liegt außerhalb unserer Kategorien.

Das Alte schafft sich selbst ab, es stirbt an den eigenen Mitteln: Das Römische Reich zerbrach an seiner Dekadenz und Größe, das Dritte Reich an seiner eigenen Gewalttätigkeit, der Kommunismus an seiner Starrheit. Bisher gelang es nicht, ein System zu erneuern; ein „Great Reset“ aus dem Alten heraus wird nicht funktionieren, denn er lässt die Tatsache unberücksichtigt, dass der Mensch nicht lediglich freier Gestalter, sondern Teil des Systems ist. Wir müssen das sinkende Schiff verlassen, zuerst mental und dann wirklich.

Jeder „Reset“, der den Menschen als autonomen, isolierten Bewohner dieser Welt sieht, kann keine Aussicht auf längerfristigen Erfolg haben.

Gott verwirrte die Sprache der Menschen, als sie ihm mit ihrem Turmbau zu nahekamen, ohne den richtigen Weg zu nehmen. Damit scheiterte das imperialistische Projekt. Heute sind wir auch „verwirrt“, wir haben keine gemeinsame Sprache. Die müssen wir wiederfinden, jenseits der ehrgeizigen und gewaltdurchseuchten Projekte falscher Überhöhung unserer Spezies.

Ein neues Bild vom Menschen

Der Mensch ist nicht nur Teil seiner Heimatwelt. Er ist „sich selbst bewusst gewordene Evolution“ (Julian Huxley). Der biblische Auftrag Gottes, sich „die Erde untertan zu machen“ ist kein Freibrief für deren gewaltsame Ausbeutung, sondern ein Bild der fürsorglichen Pflege, denn wir selbst sind das Auge, mit dem sich diese Welt, „Gott selbst“ betrachtet. Ohne den Menschen gibt es keine erhabenen Naturschauspiele, keine faszinierende Fauna, keine Verortung unserer Welt im Kosmos.

Welche Würde impliziert ein solches Menschenbild? Welche Achtung und welchen Respekt hätten wir uns und dem Leben im Allgemeinen gegenüber? Wäre Krieg überhaupt noch möglich, egal ob gegen unsere eigene Spezies oder gegen andere Teile unserer Ökosphäre?

Wenn unsere gesellschaftliche und ökonomische Situation uns spiegelt und zeigt, wie wir sind, können wir nach Überwindung des Scham-Moments die Frage stellen, wer wir sein wollen. Wir dürfen und müssen fragen, ob unsere selbstgeschaffenen Lebensstrukturen und unsere Abhängigkeiten tatsächlich alternativlos sind. Wir dürfen und müssen Neues wagen.

Der Verstand alleine wird uns den Weg nicht weisen; er hat uns hierhergebracht.

Verstand ohne Mitgefühl ist destruktiv. Vernunft ist die Synthese aus Intuition, Mitgefühl und Verstand.

Wir brauchen keine nostalgisch-verklärten Gesellschaftsvorstellungen, aber auch keine Rettungsversuche. Es ist an der Zeit, die grundlegenden Fehler im System zu erkennen und in das Größere hineinzuwachsen, was in uns angelegt ist, also herauszufinden, was das „Reich Gottes inwendig in uns“ ist. Dazu müssen wir die Begrenzungen und Dynamiken sichtbar machen, welche wir aus Angst und Kontrolle in Jahrhunderten aufgebaut und inzwischen unsichtbar haben werden lassen.

Das wird das Thema des zweiten Teils werden.


In seinem Buch „Die Biblische Geschichte — eine kurze Reise durch eine lange Story“ führt Marcus Zeller den Leser philosophisch, aber humorvoll hochkomprimiert durch das Grundlagenwerk unseres christlich-abendländischen Selbstverständnisses. Hier können Sie das Buch bestellen: shop.tredition.com