Beschleunigte Totalüberwachung

QR-Codes breiteten sich mit der Coronakrise überall aus — ihre Gefahren werden zu wenig gesehen, selbst die „Gegenöffentlichkeit“ trägt kritiklos zur Verbreitung bei.

Der „Quick Response“-Code (QR-Code) hat in den vergangenen dreieinhalb Jahren unseren Alltag durchdrungen und sich buchstäblich epidemisch ausgebreitet: Fahrkarten im Zug, Speisekarten im Restaurant, die Abholstelle der erwarteten Postsendung, Informationen zu Waren oder ausgeschriebenen Stellen, allerdings auch Flugblätter und andere Blickfänge kritischer Initiativen der Gegenöffentlichkeit sind täglich anzutreffende Beispiele für die Allgegenwart des schwarz-weißen Pixelquadrats. Der schnelle Griff zum Mobiltelefon oder Tablet sollte kritisch betrachtet und hinterfragt werden. Dieser Kommentar soll als Anregung zur Diskussion dienen.

Nüchtern und naiv betrachtet, hat der QR-Code lediglich die Aufgabe, das Aufrufen einer Internetseite ohne manuelle Eingabe der URL in der Adresszeile eines Webbrowsers zu erleichtern: scannen und bestätigen genügt. Abseits des Nüchternen und Naiven wurde der QR-Code während der 2G/3G/2.5G-Phase zur Zugangskontrolle bei Gebäuden sowie zum Nachweis des Impfstatus verwendet. Wer keinen passenden QR-Code vorweisen konnte, blieb vor der Tür oder musste, bei unnachgiebigem Bekunden seiner Absicht, seine Arbeit zu verrichten, mit Strafe bis zur Entlassung rechnen. Jeder kennt jemanden ...

Es ist unkontrollierbar, welche Informationen die Betriebssysteme für mobile Geräte beim Aufruf der mit dem QR-Code verknüpften Internetseite mitsenden — besonders schutzbedürftig sind zum Beispiel Adressbücher, das Such- oder Einkaufsverhalten, Onlinebanking sowie amtliche Dokumente oder ärztliche Befunde —, ebenso ob zwischen dem mobilen Gerät und der zum QR-Code gehörigen oder einer weiteren Internetseite nach der ersten Anfrage weitere Kommunikation stattfindet.

Kritiker werden einwenden, dass die technischen Spezifikationen der Betriebssyteme, mobilen Applikationen und Bibliotheken über das Verhalten der Software Auskunft erteilen.

Die Komplexität des Gesamten spricht allerdings gegen diesen Einwand, denn wie lässt sich beispielsweise gewährleisten, dass ein technisches Protokoll nicht „unter der Haube“ durch unveröffentlichte Eigenschaften erweitert wurde oder dass sich Softwareverhalten durch Installieren von Updates oder neuen Applikationen nicht verändert? Auch wenn bei der durch Scannen des QR-Codes ausgelösten Kommunikation keine Daten ohne Zustimmung ihres Eigentümers übertragen werden, trägt das Scannen zum Profil — ein Gutteil der digitalen Identität — des Eigentümers bei, das später, im Rahmen einer anderen Kommunikation, ausgewertet werden kann.

Angesichts etwa der angekündigten verfassungswirksamen Änderungen der internationalen Gesundheitsvorschriften, des Pandemieabkommens der Weltgesundheitsorganisation, des digitalen Geldes oder zukünftiger „Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Gesundheit“ zeigt sich in Bezug auf den QR-Code ein Widerspruch, der in der Debatte der kritischen Öffentlichkeit kaum beachtet wird: Einerseits warnt die Gegenöffentlichkeit — meines Erachtens mit Fug und Recht — vor staatlich installiertem Kontroll- und Überwachungskapitalismus globalen Ausmaßes mit unabsehbaren Folgen. Andererseits verknüpfen zahlreiche Initiativen ihre Flugbätter, Plakate, T-Shirts, Kaffeetassen ausgerechnet per QR-Code mit vertieften Informationsangeboten — ohne Hinweis auf die durch den QR-Code rund um den Globus mögliche indivuelle Überwachung und Zugangskontrolle, sofern die zur Idenfizierung des Einzelnen erforderlichen Daten erfasst, verfügbar und die benötigten Geräte installiert sind.

Der unkritische Gebrauch des QR-Codes ist aus wenigstens zwei Gründen bedenklich: Erstens, je öfter wir einen QR-Code scannen, desto mehr gewöhnen wir uns an die Situation und den Umgang damit. Die Wiederholung schläfert die Aufmerksamkeit gegenüber dem Neuen und Unnatürlichen ein und schwächt den notwendigen Widerstand für den Fall, dass der QR-Code bei den in Zukunft zu erwartenden „Notlagen“ — falls nicht schon zuvor, im Rahmen der „Bereitschaft“ (Preparedness) im Hinblick auf diese Notlagen — erneut als Kontrollinstrument eingesetzt wird.

Je unbedachter wir mit dem QR-Code umgehen, desto mehr Menschen werden zusätzlich in Betrieb genommene Kontroll- und Überwachungstechnik widerstandslos hinnehmen, nachdem ihnen die Bedienung bereits vertraut ist.

Zweitens, je öfter wir einen QR-Code scannen, desto mehr tragen wir zur Genauigkeit und Vervollständigung unseres digitalen Profils bei, mit dem wir zur Ware werden. Es bleibt im Unklaren, welche Parameter erfasst, welche Einrichtung sie mit welchen Verfahren und welchem Ergebnis auswertet, erst recht aber, was mit dem Ergebnis geschieht.

Ist es im Hinblick auf das Ausgreifen der digitalen Vernetzung zu weit hergeholt, sich vorzustellen, dass in absehbarer Zukunft zum Beispiel die traditionelle Postanschrift aus Straße, Hausnummer und Wohnort verschwindet und durch den QR-Code ersetzt wird? Reisende hätten ohne Mobiltelefon oder Tablet erhebliche Schwierigkeiten, Geschäfte, Restaurants, Hotels oder Konferenzorte zu finden, und zielstrebige Bewegung in der Fremde wäre ohne mobile Geräte oder ortskundige Begleiter wenigstens erschwert, wenn nicht ausgeschlossen.

Je mehr QR-Codes ausgebracht und gescannt werden, desto enger und dichter wird die Bindung des Einzelnen ans digitale Netz. Der Abstand des Einzelnen vom Netz nimmt ab (Enge), die Anzahl der Verbindungen zum Netz nimmt zu (Dichte). Die Häufigkeit und das praktisch unbegrenzte Habitat des QR-Codes sind ein Maß für die Feinkörnigkeit, mit der das digitale Netz die Gesellschaft durchdringt. Das Scannen eines QR-Codes bewirkt, dass „das Netz“ gewissermaßen einen Angelhaken auswirft, der sich beim Eigentümer des mobilen Geräts verfängt. Anschließend zieht „das Netz“, bis sich die Schnur spannt, und drückt damit die Botschaft aus: „Gefangen! Ich führe, du folgst.“ Alltäglicher kritikloser Umgang mit QR-Codes bewirkt, dass Aufmerksamkeit und Widerstand angesichts derartiger Durchdringung unseres Lebens durch das digitale Netz bedenklich erlahmen.

Verstehen Sie mich recht: Ich falle der Aufklärungs- und Widerstandsbewegung keineswegs in den Rücken. Im Gegenteil! Ich möchte auf einen Gesichtspunkt aufmerksam machen, der nach meinem Empfinden im Schatten der Aufmerksamkeit der Gegenöffentlichkeit steht.

Für mich überwiegt das Ehrbare an den vielen Intitiativen, die seit Anfang 2020 entstanden sind, und ich werbe für die Verbreitung des Informationsmaterials; allerdings mit einer ausschlaggebenden Einschränkung: Man nehme einen dicken Stift zur Hand und streiche — vor den Augen des Empfängers — das Brandzeichen des Neuen Sklavenstandes durch! Das sollte fürs Erste genügen, um zum Beispiel ein Flugblatt zusammen mit der Kritik am QR-Code zu verbreiten. Mein Einwand bleibt: Jedes Scannen eines QR-Codes erhöht das Akzeptieren und verringert die kritische Distanz.


Anmerkung
Dieser Text erschien zuerst bei tkp unter dem Titel: QR-Code in der Gegenöffentlichkeit: Wolf im Schafsfell?