Beschuldigte Opfer
Wolf Biermann wendet sich mit einem Zitat von Golda Meir gegen Pazifismus in Kriegszeiten und damit ab von den Werten, die er eigentlich für sich reklamiert.
Er ist immer wieder für einen Aufreger gut. Während Wolf Biermann gemeinhin gesellschaftliche Anerkennung für sein kritisches Wirken in der DDR erfährt, polarisiert er von Zeit zu Zeit immer wieder mit Aussagen, die seine Kritiker als verstörend empfinden. So auch neulich bei der Verleihung des Deutschen Filmpreises. Mit einem Zitat der ehemaligen Premierministerin Israels Golda Meir lenkte er die Aufmerksamkeit auf das Sterben in Gaza und suggerierte, dass die Schuld dafür primär bei den Palästinensern liege. Was Biermann bei dem Publikum des Abends Applaus einbrachte, löste in der Musikerin und Autorin Alexa Rodrian Empörung und Entsetzen aus.
Wolf Biermann, ähnlich wie Konstantin Wecker — welch großer politischer und lyrischer Einfluss für so viele in diesem Land. Umso größer die Ernüchterung ob beider Geschichtsvergessenheit und Ignoranz! Deshalb drängt es mich, den Auftritt Wolf Biermanns auf der Verleihung des deutschen Filmpreises wie folgt zu beschreiben.
Zu Anfang ist es wichtig zu erwähnen, dass Biermanns Darbietung unter einem traurigen Licht beginnt, denn sein Vorredner Igor Levit erfährt, just bevor er selbst die Bühne betritt, dass Margot Friedländer im Alter von 103 Jahren verstorben ist. Eine bemerkenswerte Frau, die ihrem Namen Ehre gemacht hat, denn sie hat ihr Leben dem Frieden gewidmet. Eine bekennende Pazifistin, deren höchst bewegendes Buch „Versuche dein Leben zu machen“ ich mehr als einmal gelesen habe.
Margot Friedländers Einsatz und ihre Worte für den Frieden haben mich viele Jahre meines Lebens begleitet; insbesondere „Wir sind alle gleich. Es gibt kein christliches, kein muslimisches, kein jüdisches Blut. Es gibt nur menschliches Blut“ gehört für mich, aus ihrem Munde, zu den schönsten je gesprochenen Friedensworten. Wer diese Wort kennt und ernst nimmt, müsste theoretisch entsetzt sein über diesen fast schon bösartig anmutenden Auftritt Biermanns.
Zum Hergang. Nach einem Potpourri verschiedenster Stile, an der Gitarre, setzt Biermann zu seiner Rede an.
„Ihr wisst es wohl, ich bin ein erstaunlich alt gewordenes Kommunisten- und Judenkind (…). Leider, leider konnte einer wie ich niemals Pazifist sein, es ist so ein schönes Gefühl“, fügt er dem Anlass angemessen mit theatralischem Lächeln hinzu und dann obendrauf ein schluchzendes „Ich bin auch für den Frieden“. Er erwähnt noch den Krieg in der Ukraine und den von ihm so bezeichneten in Israel, bevor er kurz danach einen Satz von Golda Meir zitiert, den er wie folgt wiedergibt:
„Dass ihr unsere Söhne ermordet habt, werden wir euch eines Tages verzeihen müssen, und wir werden es auch tun, aber wir werden euch niemals verzeihen können, dass ihr unsere Söhne gezwungen habt, Mörder zu werden.“
Mir war schon vor dem Zitat unwohl, jetzt aber wandelt sich mein Unwohlsein in tatsächliche Übelkeit, ich empfinde fast körperlichen Schmerz, und bin fassungslos.
Hat das Publikum nicht gerade entsetzt auf die Todesnachricht Margot Friedländers reagiert und lässt jetzt ein derart brutales und kriegerisches Zitat unkommentiert?
In meinen Augen wäre ein Aufschrei im Saal im Sinne des Weltfriedens jetzt ein „Muss“ gewesen, leider aber weit gefehlt: nicht in Deutschland und nicht, wenn es um Palästina geht.
Ist das vielleicht ein Hinweis darauf, dass man sich hier einer einseitigen Geschichtserzählung bedient, diese zwar mit großem Pathos belegt, aber gleichzeitig keinen Funken Empathie übrig zu haben scheint für das, was derzeit vor den Augen der ganzen Welt wirklich passiert?
Selbst wenn oben genanntes Zitat nicht von einer bekennenden Zionistin und offensiven Kolonialistin wäre, die wirklich behauptet hat, es gäbe kein palästinensisches Volk, ist es nach „Wir sind doch alle so humanistisch und sensibel“-Manier ein Unding, das auf die heutige Zeit zu übertragen.
Auge um Auge, Zahn um Zahn, mal schnell wieder salonfähig gemacht — beim Deutschen Filmpreis: Du hast mich zum Mörder gemacht, deshalb töte ich dich, deinen Clan und noch Tausende dazu, und schuld daran bist du!
Das ist krankhafter und gefährlicher Narzissmus, wie er im Buche steht. Man kann das heutzutage täglich und beinahe schon inflationär in den Sozialen Medien wiederfinden oder sogar aus Büchern lernen — aber hier und heute, an diesem Abend, kein Wort der sonst so Empörten. Wenn Herr Biermann dann auch noch pietätlos von einem Krieg in Israel spricht, wo derzeit weitgehend normal weitergelebt wird, während 71 Kilometer Luftlinie von Tel Aviv entfernt das Grauen eines Genozids tobt ... nein, Herr Biermann und verehrte Filmschaffende, es ist kein Krieg in Israel: Eine rechtsextreme, ultrazionistische Regierung begeht einen Völkermord, auf den in Israel einige mutige und international viele jüdische Menschen, unter ihnen etliche Opfer des Holocaust, laut und verzweifelt aufmerksam machen.
Sie brauchen unsere Solidarität und Freundschaft — nicht Benjamin Netanyahu und der derzeit in Deutschland anwesende israelische Staatspräsident Yitzak Herzog, der als guter persönlicher Freund von Frank-Walter Steinmeier tatsächlich behauptet, dass in allen Wohnzimmern in Gaza die Terrorstruktur der Hamas zu finden sei, um so weiterhin das brutale Vorgehen Israels zu rechtfertigen.
Zum Schluss noch einmal kurz zu Biermann und seinem andächtig schweigenden Publikum.
Wolf Biermann hat seinen Vater im Alter von sieben Jahren verloren, getötet in Auschwitz von deutschen Nazis — ein grauenhafter, brutaler und sinnloser Mord. Er war Jude und Kommunist im Widerstand und muss gewürdigt sein, auch er soll niemals vergessen werden. Aber genau wegen seiner Biografie würde man erwarten, dass der Liedermacher jede Form von Ungerechtigkeit und Grausamkeit, egal wo und wann sie passiert, erkennt und sich dagegen auflehnt.
Seit Jahrzehnten denke ich nun schon über das für mich schwer zu verstehende Verhältnis von Deutschland zu Israel nach und versuche es mir zu erklären. Man könnte sagen, es ist eigentlich ganz einfach, wir sprechen hier von einem kollektiven Trauma der Opfer und der Täter. Unsere Beziehung zu Israel ist eine Art moralisch-politische Sonderbeziehung, die Deutschland in bedingungslose Solidarität zu zwingen scheint.
Wer dennoch Kritik wagt, wird bestraft, ausgeschlossen, jüngst sogar ausgewiesen und — last but not least — als Antisemit beschimpft, sogar wenn man selbst Jude ist. Ein Konstrukt, das übrigens in jeder Paartherapie als höchst problematisch und pathologisch angesehen wird.
Biermann nutzt diese Schieflage, indem er mit seiner Biografie und seiner Ansprache sein deutsches Publikum schlichtweg erpresst!
Golda Meir war Feministin, Sozialistin und Israeli — alles Attribute, die heutzutage nicht selten instrumentalisiert und idealisiert werden. Wer sich diese Attribute zu eigen macht, bekommt sozusagen einen Freibrief: Feministinnen dürfen Männer generalisierend beschimpfen, Sozialisten werden zu totalitären Kriegstreibern, und Israel verkauft den tausendfachen Tod unschuldiger Kinder und Menschen als historisch gerechtfertigte Notwehr.
So hatte ich das nicht kommen sehen. Wirklich gerne würde ich für all das eine kongruente Erklärung parat haben, leider aber habe ich die nicht. Dafür bin und bleibe ich aber ganz im Sinne Margot Friedländers Pazifistin, und das, Herr Biermann, da haben Sie völlig recht, ist ein schönes Gefühl.