Bewährungsprobe für Christen

Jesus Christus war ein Meister des zivilen Ungehorsams.

Anfang Mai 2020 wurde im Rubikon, bei KenFM und anderen alternativen Portalen der Aufruf von Peter Herrmann veröffentlicht: „Nikolaikirche ist überall“. Diese transkulturelle Einladung, die nicht aus einem institutionell-kirchlichen, sondern vielmehr aus einem offenen spirituellen ganzheitlichen Aspekt heraus formuliert wurde, findet inzwischen vielerorts in kirchlichen Gemeinden Anklang. Auf diese Weise bekommen diese heiligen Räume, die sehr oft auch auf alten vorchristlichen Kraftorten errichtet worden sind, wieder einen neuen Impuls: Asyl bietend für jeden Menschen, der sich hier in Sicherheit bringen möchte, ungeachtet dessen, woran er glaubt. Pfarrer Hanns-Martin Hager von der Evangelisch-Lutherischen Kirchengemeinde Garmisch-Partenkirchen schildert in wundervoll klaren Worten seine Beweggründe aus einem puren wie transkulturell nachvollziehbaren ur-christlichen Verständnis des Mitgefühls heraus, in diesen Zeiten Gesicht zu zeigen.

von Hanns-Martin Hager

Jesus aus Nazareth ist ein wahrer Meister gewesen in allen Angelegenheiten zwischen Himmel und Erde, ganz besonders in der Kunst des zivilen Ungehorsams. Um Gottes und der Menschen willen hat er Tabus gebrochen und Übertretungen sozialer Normen begangen. So hat er zum Beispiel Menschen besucht, die wegen ansteckender Krankheiten von der Gesellschaft isoliert und in extra ausgewiesene Quarantäne-Siedlungen verbannt worden waren. Nach den Berichten der Evangelien ist Jesus diesen Ausgestoßenen ohne besondere Vorsichtsmaßnahmen begegnet.

Er sah weder die Gefahr, sich selbst noch andere mit irgendwelchen Krankheiten anzustecken. Er trug keinen Mundschutz. Er ließ sich von niemandem den Mund verbieten und ließ sich keinen Maulkorb umhängen. Vielmehr hat er sich die Freiheit genommen, unmenschliche Verhältnisse offen beim Namen zu nennen — und zwar überall, wo er sie beobachtete. Das hat ihm den Zorn der Herrschenden eingebracht.

Seit Beginn der letzten Aprilwoche im Jahr 2020 nach Christus herrscht in unserem Land Mundschutzpflicht in allen Geschäften und in öffentlichen Verkehrsmitteln. Die Bereitwilligkeit zum unbedingten Gehorsam hinsichtlich behördlich verhängter Verbote in diesen Corona-Zeiten sind so beeindruckend wie beängstigend. Kritiklos nimmt es die Mehrheit der Bevölkerung hin, dass die grundgesetzlich garantierten Freiheiten — sich uneingeschränkt in der Öffentlichkeit zu bewegen und zu versammeln, sich frei in Kirchen zur gemeinschaftlichen Religionsausübung zu treffen — aufgehoben sind. — Wo ist der Protest der Gläubigen?

Mir fällt auf: Praktisch nirgendwo im Bereich des kirchlichen Lebens wird jetzt kontrovers diskutiert. Es gibt nicht den Hauch von Kritik gegenüber den aktuellen Maßnahmen — im Sinne eines Jesus von Nazareth, der die Menschen radikal in seine Nachfolge ruft und dazu aufruft, kritisch hinzuschauen auf alles, was in dieser Welt geschieht und zu prüfen, ob es dem Mitmenschen dienlich ist oder nicht. Stromlinienförmig werden die als alternativlos verkündeten Maßnahmen der Regierenden umgesetzt. Kommentare kirchlicher „Influencer“ kommen im Ton ehrerbietiger Unterwürfigkeit daher und versuchen, die verfügten Bestimmungen theologisch noch zu überhöhen.

Mich dagegen macht es hellhörig, wenn eine wachsende Zahl von medizinischen Experten die regierungsamtlich verordnete Wahrheit gut begründet infrage stellt. Wenn zum Beispiel der Vorstandsvorsitzende des Weltärztebundes Dr. Frank Ulrich Montgomery die allgemeine Mundschutzpflicht als unsinnig, ja als schädlich bezeichnet und wenn sogar führende Persönlichkeiten der Weltgesundheitsorganisation sich skeptisch äußern.

Gerade jetzt, wo zum Shutdown der Lookdown hinzukommt, wo die vermummten Menschen verstört ihren Blick senken, zeige ich mein Gesicht und sage, was ich sehe, — um auf diese Weise zu signalisieren:

Ich stehe zum Nachfolgeruf dieses Jesus aus Nazareth, der sich obrigkeitlich verordnetem Gehorsam verweigert hat — um Gottes und der Menschen willen.


Hanns-Martin Hager, Jahrgang 1959, ist seit 2018 Gemeindepfarrer im oberbayerischen Grainau (Erlöserkirche) — Evangelisch-Lutherische Kirchengemeinde Garmisch-Partenkirchen, 1992 machte er eine Klinische Seelsorgeausbildung und 1999 als Heilpraktiker für Psychotherapie. Von 1990 bis 2018 war er Klinikpfarrer in Murnau und Garmisch-Partenkirchen. Von 1999 bis 2017 hielt er Vorträge an der Evangelischen Akademie Tutzing zu medizinethischen und seelsorgerlichen Themen.


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Redaktionelle Anmerkung: Der Text erschien zuerst in der Reihe „AnGEDACHT“ am 29. April 2020 in der Evangelisch-Lutherischen Kirchengemeinde Garmisch-Partenkirchen.