Chichi und Sie

Auch wenn dies in der modernen Welt undenkbar zu sein scheint: Es gibt ein Leben nach der Handy-Sucht.

„Ohne dich könnte ich nicht leben.“ Das klingt nach Liebesfilm oder Schlager. Tatsächlich ist derartige Liebesglut heutzutage selten geworden. Wenn eine Beziehung zu Ende geht, sucht man sich eben Ersatz. Wirklich unentbehrlich — so unentbehrlich, dass der Verlust das eigene Leben sinnlos erscheinen ließe — ist eigentlich nur einer oder eine. Es handelt sich eher um einen Gegenstand als um eine Person: das Handy. Es ist buchstäblich das Tor zur Welt und das Mädchen für alles. Die wenigsten von uns haben die Sucht nach dem kleinen rechteckigen Ding im Griff — vielmehr hat das Ding uns im Griff. Es schiebt sich penetrant zwischen uns und das wirkliche Leben. Hier schreibt eine Frau, die eine wirklich radikale Konsequenz aus ihrer Handy-Sucht gezogen hat. Sie hat den Quälgeist in Wasser ertränkt — quasi ermordet.

von A. Stange

Hey Sie, ja, Sie da mit dem kleinen Computer in der Hand, auf dessen Bildschirm Sie gerade gucken. Keine Ahnung, wie lange Sie schon auf diesem Planeten unterwegs sind, vielleicht kennen Sie ja noch eine Welt ohne dieses Gerät. Aber unabhängig davon wird es Ihnen sicher etwas Mühe bereiten, sich ein Leben ohne es vorzustellen, oder nicht?

Wenn ich Ihnen sage, dass es genau das ist, was gewisse Leute von Ihnen wollen, dann regt sich möglicherweise ein µ Widerstand in Ihnen und Sie wollen sich das Leben ohne dieses Teil wenigstens einmal vorstellen.

Aber zunächst einmal: Ich kenne diesen Zustand. Das Gerät ist sehr praktisch. Es ist Wecker, Kalender, Telefon, Fernseher, Rabattgarant, Geldbeutel und Tor zum weltweiten Netz. Es ist auch Musik-Abspieler, das vergaß ich fast, und wenn es noch die Haare trocknen könnte, wäre es perfekt.

Es ist handlich vor diesem Hintergrund, ohne Frage, und doch, möchte ich behaupten, tragen Sie Ihre Unfreiheit damit herum, auf die Sie nicht verzichten wollen. Absurd, oder nicht? Selbst wenn Sie auf das Gerät verzichten wollen würden, dann müssten Sie feststellen, dass das gar nicht so leicht ist.

Wer kennt sie nicht, die manchmal panisch anmutende Hektik, wenn selbst der Batteriesupersparmodus das vorübergehende Sterben der Batterie nicht mehr verhindern kann und das Ladekabel nicht griffbereit ist? Ach, Sie haben so eine Power-Bank? Ladekabel überall? Na, dann kennen Sie das vielleicht noch von vorher und haben vorgesorgt.

Sie kennen sicher auch den reflexartigen Griff in die Tasche, sobald eine Leere droht, die manchmal lediglich bedeutet, dass Ihr Gesprächspartner kurz Wasser aufsetzen geht. Sie bedeutet auch: Keine Busfahrt, kein Warten, keine Pause, ohne dass Ihre Hand in die Tasche rutscht und Sie Ihr Gerät fragen: Was gibt es Neues?

Hat jemand geschrieben oder immer noch nicht geantwortet? Noch nicht mal gesehen hat er/sie es. Blöd. Dann spielen Sie eben Candy Crush oder schauen sich das Neueste vom Neuen an, kostet ja nichts, beziehungsweise ist alles mit einem Zwanni schon bezahlt für den Monat. Sind die „mobilen Daten“ aufgebraucht, ist das nächste gratis WLAN nicht weit, stimmt's?

Wer kennt ihn nicht, den allmorgendlichen Griff, oft noch im Dunkeln, der verrät, welches der bunten Quadrate auf dem Bildschirm kleine runde Kreise hat, meist rot, und Sie morgens schon damit beschäftigt, was die Welt von Ihnen will?

Nun geben Sie es doch zu: Sie sind recht abhängig von diesem Gerät. Sie können gar nicht ohne. Es hat Sie erfolgreich trainiert oder, vielleicht treffender, erfolgreich dressiert.

Ja klar, das Gerät ist ein Wunderwerk. Allein: Egal wo Sie und, sagen wir, Ihr Chichi sind, Sie können Mutti — oder wen auch immer — alles, was Sie wollen, wissen lassen. Manchmal ist es nur besser, Sie verdrängen, dass das nicht nur für den Adressaten bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag zu wiederholen ist.

Sie kümmern sich liebevoll um Chichis Akkustand, schützen es besser vor Gefahren als manch Ihre Kinder, und empfinden seinen Verlust, wenn er auch temporär ist, als wäre Ihnen eine Gliedmaße abhandengekommen.

Ich vergaß noch viel mehr: Ihr Chichi ist auch Ihr Fotoapparat, Ihre Videokamera und Ihr Diktiergerät. Alles immer dabei.

Chichi darf überall hin mit und so ziemlich jede Situation unterbrechen, auch weil es Ihre Hirnkrücke ist, von der Sie gar nicht merken, dass Sie sie nicht brauchen. Sie sind eins geworden mit diesem Ding.

Sie und Ihr Chichi. Ja, machen Sie doch, streicheln Sie einmal zärtlich über das vielleicht angeknackste Bildschirmglas, ganz mitfühlend.

Sie denken vielleicht, so haben Sie alle Ihre Liebsten nah, und falls etwas ist, müssen Sie doch erreichbar sein. Wie haben das Menschen früher nur geschafft? Ohne Chichi. Lang lebe Chichi!

Es ist auch Ihr Navigationsgerät, Ihr Lexikon, Ihre Einkaufsmeile — da ist doch nicht drauf zu verzichten!

Doch, sage ich Ihnen, das müssen Sie sogar, wenigstens zeitweise, wenn die Gemeinschaft mit Ihnen genesen will. Schlimm genug, dass auch die kommenden Generationen derartig angefixt werden, dieses Mithörgerät immer bei sich haben zu wollen. Man munkelt, manch einer hat schon beim ersten Schrei im Kreißsaal zur Beruhigung das Ding vor die Nase gehalten bekommen.

Also auf jetzt, Richtung Genesung mit Ihrem geübten Verzicht!

Aber lassen Sie es sich gleich gesagt sein: Ganz ohne Chichi zu leben ist ohne Weiteres tatsächlich kaum mehr möglich. Wir kommen zu spät, so gesehen, aber wehren ist noch drin. Wie bereits erwähnt, es gibt ein Interesse daran, dass Ihr Chichi und Sie so ein Abhängigkeitsverhältnis haben, insofern überrascht es nicht, dass die Hürde, frei davon zu sein, hoch ist. Eine Entfremdung aber ist allemal möglich.

Angenommen, Sie würden anfangen oder wieder anfangen, sich ohne die Navigationsfunktion von Chichi zu bewegen und — wie früher — bereit sein, andere Menschen nach dem Weg zu fragen. Ihnen würde auffallen, wie außerordentlich gut beschildert die Welt ist, und dass viele Menschen regelrecht erfreut sind, Ihnen Auskunft zu geben.

Angenommen, Sie würden anfangen, Ihr Chichi öfter mal zuhause zu lassen. Sie fahren zum Beispiel einkaufen, Ihr Chichi bleibt da. Ihre Freiheit kostet etwa 1,20 Euro verpassten Rabatt über die nicht vorhandene Supermarkt-App beim Kassiervorgang. Sie werden so auch kein Videotelefonat vor dem Kühlregal führen können, um zu klären, ob es nun dieser oder jener Frischkäse Natur sein soll, okay, aber dafür haben Sie … Ruhe. Probieren Sie es mal.

Wenn Sie dann wiederkommen vom Einkauf, werden Sie alsbald den Drang verspüren zu schauen, was Sie verpasst haben, und werden feststellen, dass Sie auf die zwei Gedankenpupse im Gruppenchat, das Herz von Inge sowie den elektronischen Brief voller Neuigkeiten Ihres Lieblingsmodehauses ganz gut verzichten konnten. Achten Sie mal drauf, wie sehr Ihr Chichi Sie in der Hand hat. Wo ist der Punkt, an dem Sie das empört?

Vielleicht schaffen Sie es gar bald, Ihrem Chichi regelmäßig den Saft abzudrehen über Nacht, aber halten Sie sich deswegen nicht gleich für überlegen. Wenn Sie richtige innerliche Muskeln entwickeln wollen, widerstehen Sie in der ersten Stunde nach dem Aufwachen der Versuchung, es anzuschalten.

Angenommen, Sie treffen sich demnächst zum Kaffeeklatsch und schließen Chichi aus. Kein „Ich zeig dir mal schnell das Essen von letzter Woche“ und kein „Weiß nicht, wie warm das Wasser im Schwimmbad gerade ist, Moment…“ ding „Wassertemperatur im Schwimmbad in Musterstadt“ ding Chichi: „Die Wassertemperatur in Masterstadt beträgt gerade 19 Grad.“ „Neeeeein, nicht Masterstadt, Musterstadt!“. Einfach nur Sie und das Gesicht Ihres Gegenübers. Schauen Sie doch mal, ob und wie Sie damit noch klarkommen.

Denn vielleicht sind Sie sehr gestresst von ihrem Chichi und dessen Welt der All-Information und Sofort-Übertragung und merken das kaum, weil Sie überzeugt davon sind, dass es zu Ihnen gehört.

Ja, in einsamen Stunden hat Chichi Sie auch oft getröstet, aber im Grunde hat es Sie eher abgelenkt, oder nicht? Wir kennen wohl alle das Wohlgefühl, wenn Chichi unsere Aufmerksamkeit für das bewegte Bild und den erforderlichen hypnotischen Blick mit einer kurzen Realitätszensur belohnt.

Diese scheußlich-schmerzhafte Realität, in der Sie höchstwahrscheinlich zumindest partiell missachtet oder misshandelt werden, ausgebeutet oder egalisiert. Wenn Sie dann einmal von Ihrem Bildschirm aufschrecken und sich umschauen, wer Ihnen beistehen könnte, dann sehen Sie Ihre Mitmenschen vor allem eines: In ihre Chichis vertieft.

Da will man nachvollziehbarerweise zurück zu den heilen Welten der Videos über Tierkinder oder sich mit den zwei neuen Herzen auf Instant-Gram ablenken.

Ging mir auch so.

Dann, vor anderthalb Jahren, versenkte ich etwas melodramatisch mein Chichi im städtischen Brunnen. Ich war es satt zu sehen, wie es mich dressiert hatte. So satt, dass es oft das Letzte sein wollte, was am Tag noch wichtig war, und schon am nächsten Morgen wieder dasselbe forderte. Ich war es satt, dass meine Stimmung beeinträchtigt wurde von der Anzeige, wer und wie viele — wieder, schon wieder, nicht, noch nicht, immer noch nicht und vielleicht nie wieder — mich mit einem Kontaktgesuch ereilten, während ich noch schlaftrunken war. 12 Prozent Rabatt, nur heute!

Ich war es satt, dass selbst ungefragte elektronische Neuigkeitenbriefe mich von der Einsamkeit ablenkten, die entstand, weil eben niemand mehr nach dem Weg fragen würde und man lieber eine Suchmaschine tätigte, statt mit jemandem zu rätseln.

Seitdem geht es ohne Chichi.

Fast.

Vorher habe ich wohl eher zu den moderaten Nutzern gezählt und das Chichi gern zuhause gelassen. Dennoch: Abhängigkeit war da.

Chichi zu ertränken war deswegen vor allem befreiend. Jetzt war es wie früher. Einmal am Tag kommt der Postbote und bringt Briefe, ansonsten kommuniziert mit mir, wer von Angesicht zu Angesicht vor mir steht.

Endlich war Entschleunigung angesagt. Wollte ich jemanden besuchen, kündigte ich mit Postkarte mein Kommen an. Der eingeübte Reflex, jemandem schnell noch zu schreiben, was einem gerade zwischendurch einfiel, wie es mit Chichi praktiziert wurde, ließ nach ungefähr fünf Postkarten nach.

Ich schrieb wieder Briefe, wenn etwas etwas mehr Platz brauchte. Auch da: Zu wissen, dass es Tage dauern würde, bis meine Zeilen den anderen erreichten … Es ließ Luft zum Atmen im Vergleich zur allgegenwärtigen Sofortübertragung.

Und dann diese Ruhe. HERRLICH. Kein Geklingel, kein Piepen, kein Vibrieren, kein blinkendes Licht.

Ich zog alsbald um. Die netten neuen Nachbarn fanden es recht ungewöhnlich, dass die Dame von nebenan ohne Chichi auszukommen vermochte. Hatten doch manche noch nicht genug Nähe mit dem Gerät und dauerhaften Körperkontakt mit dessen Verlängerung am Handgelenk oder im Ohr.

Wie froh ich war, dass der Neuanfang bedeutete, dass ich nie mehr von wem auch immer wann auch immer wegen was auch immer unmittelbar von fernab zu kontaktieren war. Für echte Dringlichkeiten oder herkömmliche Bequemlichkeit gab es ein althergebrachtes Festnetztelefon.

So war ich diese soziale Last los, mir Sachen von Leuten reinziehen zu müssen, dir mir nichts zu sagen hätten, wenn sie dafür bei mir vor der Tür stehen müssten. Der Zugzwang des Antworten-Müssens griff ins Leere.

Das Problem war am Ende lediglich eines: Ohne Chichi sind heutzutage wohl keine Bankangelegenheiten mehr zu erledigen. Also zog ein Chichi wieder ein, dessen Nummer niemand hat. Es hat seinen festen Platz, ausgeschaltet auf der Fensterbank im Gäste-WC, wo es alles hören darf und für die Übermittlung eines Überweisungscodes mal angeschaltet wird. Bis ein anderer Weg für Bankgeschäfte gefunden ist oder diese obsolet geworden sind.

Anderthalb Jahre bin ich nun ganz ohne unterwegs und kann empfehlen: Homo sapiens, lass Chichi (auch mal) los, und wir haben eine Chance zu genesen.

Immer wieder bin ich betrübt über das, was ich sehe, wenn ich nach einer Nachtwanderung durch den Wald mit Grundschülern auf Klassenfahrt am Lagerfeuer sitze, wir Stockbrot rösten, und um das Feuer herum in der sternenklaren Nacht alle Lehrer versunken in ihre Chichis sind. Quo vadis Menschheit? So sicherlich nur bis zum nächsten Laternenpfahl. Dong!