Das Berührungsverbot

Der Begriff „Social distancing“ ist ein Widerspruch in sich — die Verhinderung von Kontaktritualen löst Verlassenheitsgefühle aus.

In kurzen Gedankensplittern mit unerwarteten Bezügen zerlegt Rolf Steinbrecher-Unruh das Konzept des „Social distancing“, eine Kernkomponente der neuen Solidarität, und zeigt so exemplarisch und eindrücklich, dass die Verdrehung jeder Semantik das Fundament der Macht ist, welche die Welt „resetten“ will.

Erinnern Sie sich, wie es war, als Sie auf die Welt kamen?

Nein? Schade!

Bei Ihrer Geburt, bei der Ihre Mutter fast ihr Leben verloren hatte, erblickten Sie das Licht der Welt und erhielten einen „Scheidenkuss“, durch den Sie schon mit den ersten Bakterien und Bestandteilen des Mikrobioms Ihrer Mutter geprimet wurden. Dies gilt zumindest für den Fall, dass Sie eine relativ herkömmliche Geburt hatten und nicht durch einen Kaiserschnitt auf die Welt kamen.

Man legte Sie auf den Oberbauch Ihrer Mutter in Richtung der linken Brust.
Schon vergessen? Macht nichts, das geht uns fast allen so!

Ihre Mutter schaute Sie an — sie schaute Ihnen in die Augen und sprach zu Ihnen.
Hätte sie das nicht getan und hätte Sie sonst auch niemand berührt, Sie angeschaut, zu Ihnen gesprochen und Sie angelächelt, wären Sie gestorben.

Wäre in dieser Situation social distancing durchgeführt worden, so wären Sie elendiglich verreckt.

Exkurs: Friedrich II. von Hohenstaufen, der Fürst aus dem 12. Jh. mit der berühmten oktagonalen Palastanlage, der die meiste Zeit seiner Regentschaft auf Sizilien verbrachte, war sehr an Wissenschaft interessiert und fragte sich, ob Sprache angeboren sei oder erworben werden müsse. In seinen Palastanlagen ließ er von Ammen mehrere Säuglinge aufs Beste versorgen, stillen und füttern. Den Säuglingen fehlte es an nichts.

Die Ammen durften lediglich mit den Babys nicht sprechen. Diese Anweisung des Herrschers wurde strikt durchgesetzt — alle Kinder starben.

So berichten es die Chronisten von Friedrich II.

Über viele, viele Stunden in den nächsten Jahren hielt Ihre Mutter Sie auf der linken Seite (Herzschlag!) im Arm, schaute Sie freundlich an, plauderte mit Ihnen und lächelte.

Später saßen Sie auf Mutters, Großmutters, Vaters oder Kita-Erzieherins Schoß und die Menschen lächelten Sie immer noch an und sprachen freundlich zu Ihnen —
Sie erinnern sich nun?

Ihre Mutter hatte Sie mit Liebe aufgeladen, wie man einen Trecker-Reifen mit Luft auffüllt, damit er gut übers Land komme. Hätte sie, und alle anderen liebevollen, freundlichen Menschen das nicht getan, so würden Sie diese Zeilen jetzt in einer psychiatrischen Anstalt lesen. Gut, dass das nicht der Fall ist.

Später haben Sie dann Freunde gefunden; mit diesen haben Sie gebalgt, gerauft, ihnen den Arm um die Schulter gelegt oder auf die Schulter geklopft. Wenn Sie ein Mädchen waren, haben Sie ihrer Freundin die Haare gekämmt und sie geschminkt.

In der Sportmannschaft, im Team, haben Sie den Schulterschluss geübt oder einander im Erfolg oder der Niederlage umarmt. Sie haben geweint und wurden durch Berührung getröstet oder haben durch Berührung getröstet.

Als Sie erwachsen wurden, haben Sie Menschen mit Handschlag begrüßt und angelächelt.

Übrigens ist es bei uns homo sapiens sapiens so, dass wir bei Begrüßung anderer Menschen ganz kurz, zum Teil unmerklich, die Augenbrauen heben, Augenkontakt suchen und gemeinhin den musculus angolus levator ori aktivieren und die Mundwinkel heben.

Sie haben sogar Sex gehabt, eine Erfahrung bei der social distancing äußerst schwierig durchzuführen ist. — Hier fällt es schwer, nicht an gewisse Geschehnisse in der sogenannten Sado-Maso-Szene zu denken, wo Sexualität maskiert, im Latex-Ganzkörperkostüm berührungslos ausgeübt wird. — Jedenfalls bleibt festzuhalten, hier ist unsere Sprache wieder sehr sinnfällig: fest halten —, dass Erotik und Sexualität, und damit auch in den meisten Fällen Zeugung, kaum berührungslos und mit Abstand freudvoll geschehen können.

Hier hoffe ich, dass Sie sich erinnern und nicht über längere Zeit ihren Kopf zerbrechen müssen, um zu einem Verständnis dieser Angelegenheiten betreffs Ihrer eigenen Körperlichkeit, Erotik und Sexualität zu gelangen!

Fazit

Auf Dauer sind Sie auf freundlichen direktionalen Augenkontakt — wir haben eine weiße Fläche um unsere Iris! — angewiesen.

Sie brauchen Ansprache durch einen unbedeckten Mund, damit Sie das Gefühl bekommen, als Mensch ausreichend Kontakt zu anderen Menschen zu haben.

Bei dieser Ansprache darf nicht zu viel Raum zwischen Ihnen und Ihrem Mitmenschen sein; liebevolle Ansprache funktioniert nicht über eine Zwei-Meter-Distanz!

Im städtischen Raum, bei Feierlichkeiten sowie Veranstaltungen, also wo viele Menschen zusammenkommen, ist ein Minimum an körperlicher Berührung wie zum Beispiel der bürgerliche Handschlag, das Schwabinger Bussi-bussi oder eine kurdische Begrüßung mit dreifachem Wangenkuss unmaskiert erforderlich.

Werden die oben beschriebenen menschlichen Kontaktrituale unterbunden, so führt dies zu Angst, Verlassenheitsgefühlen, Depression, Soziopathie und Suizid, weil wir uns nicht mehr ausreichend zugehörig fühlen können.

Distancing kann niemals sozial sein.

Es dient anderen Zwecken.