Das Diktat der Technik
Digitaler Fortschritt passiert so schnell und erscheint so unvermeidlich, dass die Gesellschaft verpasst, sich zu fragen, ob er ihr überhaupt nützt.
Wir leben in einer Ära der Digitalisierung, die nicht länger Technik beschreibt, sondern eine Machtverschiebung. Sie ist nicht neutral, nicht nur Werkzeug, sie ist Struktur, Kontrolle, Vorentscheidung. Die politische Debatte aber bleibt weit hinter dem Tempo der Entwicklungen zurück. Dabei geht es längst um mehr als Technologie: Es geht um Macht, Freiheit und die Zukunft einer offenen Gesellschaft. Es ist notwendig, dass sich die Politik konkret mit dem Thema künstliche Intelligenz (KI) und Digitalisierung beschäftigt und dabei nicht irgendwelche Lippenbekenntnisse formuliert, sondern die Bürger aktiv aufklärt.
Die Rhetorik des Fortschritts klingt zunächst harmlos: „digitale Teilhabe für alle“, „effiziente Verwaltung“, „moderne Kommunikation“ … doch hinter diesen Schlagworten baut sich ein Überwachungsapparat auf, wie ihn sich selbst Orwell kaum ausmalen konnte. Jeder Klick, jede Bewegung, jede Zahlung: registriert, gespeichert, bewertet. Ohne richterlichen Beschluss, ohne politische Kontrolle, oft ohne Bewusstsein der Betroffenen. Und genau das ist das Problem.
Noch immer wiegt sich ein Großteil der Bevölkerung in Sicherheit.
Der Satz „Ich habe doch nichts zu verbergen“ ist zur Lebenslüge einer Gesellschaft geworden, die ihre Freiheit gegen Bequemlichkeit eintauscht.
Doch wer so denkt, versteht nicht, wie Macht heute funktioniert. Nicht der einzelne Akt ist entscheidend, sondern das Muster. Nicht der Inhalt, sondern die Verbindung. Wer wann mit wem spricht, wer welche Websites besucht, welche Krankheiten recherchiert, wem er folgt, wem er vertraut: All das ergibt ein Bild. Und dieses Bild wird gewertet, gespeichert, weiterverkauft oder im schlimmsten Fall missbraucht.
Ein Mann in der Provinz trifft eine Frau in einem politischen Forum. Sie diskutieren über die Bundeswehr, über Waffenlieferungen. Was er nicht weiß: Sie stand einst auf einer internen Liste, weil sie Kontakte zu einer als „linksextrem“ eingestuften Gruppe hatte. Jahre später fällt sein Name in einem digitalen Raster auf. Kein Verbrechen, kein Verdacht, nur eine Verbindung. Es kommt zur Hausdurchsuchung. Der Grund? „Hinweise auf sicherheitsrelevante Kontakte.“ Die Presse schweigt.
Eine Journalistin schreibt kritisch über die europäische Rüstungspolitik. Wochen später wird ihr Konto bei einer Online-Bank gekündigt. Ohne Angabe von Gründen. Sie fragt nach, erhält nur vage Formulierungen: „Wir behalten uns das Recht vor ...“. Intern heißt es: Reputationsrisiko. Keine Straftat, keine Lüge, kein Extremismus. Nur eine Meinung, die nicht passt. Auch das ist heute Realität.
Ein Rentner googelt Medikamente gegen Demenz. Zwei Tage später wird seine Krankenkasse aktiv. „Frühintervention“ heißt es. Ein KI-gestützter Algorithmus habe einen Risikohinweis generiert. Beratungsgespräch, verpflichtend. Die Versicherung verweist auf Datenschutzkonformität. Der Mann versteht die Welt nicht mehr. Niemand hat ihn gefragt.
All das sind keine Zukunftsvisionen. Es sind reale Entwicklungen, die sich vor unseren Augen abspielen. Die EU arbeitet an einem Gesetz zur Durchsuchung privater Kommunikation, angeblich um Kindesmissbrauch zu bekämpfen. Tatsächlich würde dieses Gesetz das Ende der Ende-zu-Ende-Verschlüsselung bedeuten. Ein Dammbruch, wie ihn selbst China bislang nicht vollzogen hat.
Gleichzeitig plant die Europäische Zentralbank ein digitales Zentralbankgeld. „Digital Euro“ nennt sich das Projekt. Offiziell freiwillig, aber mit einer Infrastruktur, die eine umfassende Überwachung aller Transaktionen ermöglicht. Die Bundesdatenschutzbeauftragte warnt vor einer „totalen Öffnung des finanziellen Lebens“. Und wieder bleibt die öffentliche Debatte aus. Die Tagesschau spricht von „Innovation“. Kritik? Fehlanzeige.
Und während wir gläserner werden, bleiben jene, die uns durchleuchten, im Dunkeln. Facebook, Google, Amazon — sie entscheiden, was wir sehen, was wir glauben, was wir kaufen. Ihre Algorithmen sind Betriebsgeheimnis, ihre Verantwortung verschleiert.
Whistleblower wie Frances Haugen riskieren ihre Existenz, um die Wahrheit ans Licht zu bringen. Sie zeigen, dass Hass, Lüge und Spaltung nicht Ausrutscher sind, sondern Kalkül. Dass Transparenz ein Marketingbegriff ist. Und dass es keine demokratische Kontrolle mehr gibt.
Die Politik reagiert träge. Zu komplex, zu technisch, zu weit weg. Und vielleicht auch: zu bequem. Denn diese neue Form der Macht erlaubt es, Verantwortung abzugeben. Wer sich auf Daten beruft, muss nicht mehr argumentieren. Wer einen Algorithmus befragt, braucht keinen Diskurs. So entsteht eine Technokratie, die vorgibt, objektiv zu sein, und doch täglich politische Entscheidungen trifft.
Die Medien tragen ihren Teil dazu bei. Statt zu hinterfragen, wird bestätigt. Statt aufzuklären, wird verharmlost. Der Journalismus hat sich von der Macht distanziert, aber nicht von der Machtlogik. Kritik an Überwachung gilt schnell als „schwurblerisch“. Zweifel an Digitalgesetzen als „reaktionär“. Und so wird aus Technik ein Dogma. Wer nicht mitmacht, ist verdächtig.
Doch wer die Augen öffnet, sieht die Linie. Von der Vorratsdatenspeicherung über biometrische Videoüberwachung bis hin zur digitalen Identität. Alles ist bereits da. Alles ist bereits beschlossen. Es fehlt nur noch die flächendeckende Anwendung. Und die Zustimmung der Bürger.
Diese Zustimmung basiert auf Unwissen. Auf Angst. Auf Bequemlichkeit. Und auf einer politischen Klasse, die entweder unfähig oder unwillig ist, das zu ändern. Die Folge ist ein schleichender Kontrollverlust — nicht des Staates, sondern der Gesellschaft. Wir geben das Recht auf Anonymität auf. Auf freien Diskurs. Auf Fehler. Auf Vergessen. Auf Menschlichkeit.
Was tun? Wir müssen fordern, was selbstverständlich sein sollte: ein Recht auf analoges Leben. Auf Offline-Sein. Auf Bargeld. Auf Verschlüsselung. Auf Datenschutz, der nicht nur auf dem Papier steht. Wir brauchen Medien, die wieder fragen. Politiker, die wieder denken. Und Bürger, die verstehen, dass Freiheit nicht darin besteht, keine Geheimnisse zu haben, sondern im Recht, welche zu besitzen.
Diese Debatte muss jetzt geführt werden. Nicht morgen, nicht nächstes Jahr, nicht nach dem nächsten Gesetz. Denn was einmal eingeführt ist, wird nicht mehr zurückgenommen.
Kein Staat hat je auf Kontrolle verzichtet, wenn er sie einmal besaß.
Freiheit stirbt nicht durch Verbot. Sie stirbt durch Zustimmung. Durch Schweigen. Durch Gleichgültigkeit. Und durch das Vertrauen in Systeme, die keine Rechenschaft mehr kennen.
Wer heute nichts zu verbergen hat, hat morgen vielleicht nichts mehr zu verteidigen.