Das Ding und sein Mensch

Die Objekte der äußeren Welt binden uns an die Materie und halten uns von tieferer Selbstwahrnehmung ab.

Die Dinge haben uns fest im Griff. Sie wollen, dass wir sie besitzen wollen. Sie wissen, wie man es anstellen muss, um begehrenswert zu erscheinen, und verlocken uns mit ihrem unschlagbaren Preis. Sie sind überall. Tag und Nacht verfügbar. Ein allgegenwärtiges Versprechen, dessen Erfolg gerade darin besteht, dass es sich niemals erfüllt. Das wissen wir zwar, dennoch ist uns die unvermeidliche Enttäuschung keine Warnung, sondern im Gegenteil Ansporn, immer weiterzumachen. Die Dinge geben nicht auf. Ohne uns seid ihr nichts, flüstern sie uns so lange ins Ohr, bis wir ihnen am Ende tatsächlich glauben.

Die Spur der Dinge

Auf Schritt und Tritt stößt man in Großstädten auf Sachen, die Menschen irgendwo an der Straße oder in Hauseingängen abgestellt haben. Manchmal handelt es sich um Müll, häufig um Alltagsgegenstände, die kaum benutzt wurden, oft um Bücher, die keiner mehr lesen will. Ein Mensch, der noch eine Bratpfanne mit deutlichen Gebrauchsspuren zu sich nach Hause trägt, findet sich offenbar immer. Einmal erzählte mir eine Frau, wie sie morgens in die Stadt fahren wollte, um Kaffeetassen zu kaufen und diese prompt am Straßenrand fand. Problem gelöst, und auch noch ganz umsonst!

In den Kriegstagebüchern der Journalistin Ruth Andreas Friedrich fand ich folgendes Notat: Ein russischer Offizier hatte ihr das räuberische Verhalten seiner Männer im besetzten Berlin damit erklärt, dass sie die Gründe nicht nachvollziehen konnten, aus denen heraus Deutschland Krieg gegen ihr Land angezettelt hatte. Aus ihrer Sicht führte man Krieg, weil man arm war und folglich haben wollte, was der andere hatte, damit es einem selbst besser ging. Als sie realisierten, wie viele Dinge, von denen sie niemals zu träumen gewagt hätten, den Zerstörungen des Krieges zum Trotz überlebt hatten, geriet ihr Weltbild ins Wanken. Dass ein reiches Land Krieg gegen ein armes führte, diese Absurdität wollte einfach nicht in ihre Köpfe, und so sahen sie es als ihr gutes Recht an, sich der Dinge des reichen Landes zu bemächtigen.

November 1989. Mauerfall. Eine ostdeutsche Frau betritt zum ersten Mal einen westdeutschen Supermarkt. Sichtlich irritiert. Hin- und hergerissen zwischen Faszination und Verzweiflung ruft sie aus: „Wir wissen ja gar nicht, was wir kaufen sollen!“

Hinterlassenschaften.

Einst war es ein Kästchen mit Hochzeitsfoto, Ehering und Sparbuch. Heute beauftragt man am Ende ein professionelles Entrümpelungsunternehmen. Ein florierendes Geschäft. Die Dinge tauchen dann irgendwann auf Flohmärkten wieder auf. Erst will man sie nicht mehr, dann will man sie doch wieder. Man ist unentschieden. Hardcore-Minimalismus halten nur die wenigsten durch. Am anderen Ende der Skala steht der Messie, der sich wie ein Maulwurf durch Räume graben muss, die so voll sind, dass für ihn selbst kein Platz mehr ist.

Ding und Ware

Ein entscheidender Schritt auf dem Weg zur Menschwerdung ist die Herstellung von Werkzeugen, die unseren Vorfahren das Leben erleichterten und mit deren Hilfe sie begannen, ihren Alltag zu organisieren. Zufall oder Absicht? Es wird sich um einen dynamischen Prozess aus Versuchen und Rückschlägen gehandelt haben, der, einmal in Gang gesetzt, immer raffiniertere Hilfsmittel hervorbrachte.

Der Umgang mit Dingen gehört per definitionem zum Menschen, und tatsächlich stehen wir in ethnologischen Sammlungen immer wieder fasziniert vor der atemberaubenden Vielfalt der Objekte vergangener Epochen.

In Europa erreichte das Handwerk seinen Höhepunkt im Spätmittelalter, als sich in den rasch wachsenden Städten Zünfte bildeten, die von einem neuen Selbstbewusstsein des schöpferischen Menschen zeugen. Die Fähigkeiten versierter Handwerker waren gefragter denn je: bei der Errichtung von Sakral- und Profanbauten ebenso wie in den Privathäusern des aufstrebenden Bürgertums, wo Dinge die soziale Funktion übernahmen, Persönlichkeit und Stand ihrer Besitzer Ausdruck zu verleihen.

Der Primat des praktischen Nutzens verschiebt sich zugunsten eines immateriellen Bedeutungshorizonts, was zur Folge hat, dass sich die Preiskalkulation verändert. Der Wert eines Gegenstandes wird nicht mehr allein von seinem Materialwert, sondern maßgeblich von der Qualität seiner Ausführung und dem guten Ruf des Ausführenden bestimmt.

Während sich das Volk mit Gebrauchsgegenständen einfachster Machart begnügen muss, kann die Oberschicht es sich leisten, Geschmack zu entwickeln. Ihre Kaufkraft ermöglicht es den Handwerkern, raffinierte Artefakte von zeitloser Schönheit zu erschaffen, deren Aura bis heute ungebrochen weiterwirkt.

Der Stolz persönlicher Urheberschaft endet mit dem Aufkommen der industriellen Produktionsweise, die den Handwerker zum Arbeiter herunterstuft, der mit einigen wenigen standardisierten Handgriffen zur maschinellen Fertigung eines Massenprodukts beiträgt.

So wird aus dem Ding eine Ware.

Als Warenfetisch bezeichnet Marx das pseudoreligiöse Verhältnis zu Gegenständen, die in arbeitsteiliger Produktionsweise hergestellt werden und deren Marktwert sich im Wesentlichen nach Angebot und Nachfrage richtet. Die Entkopplung von Wert und Preis einer Ware ist das Spezifikum kapitalistischer Ökonomie, deren Kalkulation auf Erzeugung und Aneignung des Mehrwerts angelegt ist. Als Wegwerfprodukt konzipiert, verlieren die serienmäßig hergestellten Dinge Wert und Würde des Beständigen. Der Arbeiter bekommt zwar einen Stundenlohn, hat aber keinen Einfluss auf die Fertigungsabläufe, noch ist er am Gewinn beteiligt.

Fremd und beliebig sind ihm die Waren, die er produziert und konsumiert, und fremd steht er am Ende vor sich selbst in denselben Kleidern, die alle tragen — als everyman seiner Zeit.

Die nekrophile Gesellschaft

Mit dem Begriff Verdinglichung wird in den Sozialwissenschaften die Versachlichung der menschlichen Beziehungen im kapitalistischen Wirtschaftssystem bezeichnet. Der alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens dominierende Warencharakter determiniert gleichermaßen die Eigen- und Fremdwahrnehmung des Individuums, das auf die Summe seiner systemrelevanten Fertigkeiten reduziert wird.

Durch die Verbindung von Ideologie und Technologie ist die Durchsetzung des funktionalen Menschen als gesellschaftliches Leitbild in den vergangenen Jahrzehnten bedrohlich nahe gerückt. Die Würde des Menschen, die in den Verfassungen demokratischer Gesellschaften als unantastbar apostrophiert wird, erscheint in der Realität gefährdeter denn je.

Alle Verdinglichung ist ein Vergessen, heißt es in der Dialektik der Aufklärung, womit Horkheimer und Adorno die Selbstvergessenheit des Menschen meinen, der sich in seinem Alltag nur noch als Funktion von Algorithmen und nicht mehr als eigenverantwortlich handelndes Wesen erlebt. Aus psychoanalytischer Sicht hat Erich Fromm in seinem Spätwerk Anatomie der menschlichen Destruktivität in diesem Zusammenhang den Begriff der Nekrophilie, der Liebe zu den toten Dingen, als pathologische Reaktionsform auf den Verlust der eigenen Lebendigkeit ins Spiel gebracht.

Die Ohnmacht vor dem Leben, dessen Qualität man zwar ahnt, aber nicht mehr zu spüren vermag, erzeugt Angst, die man im schlimmsten Fall durch die Zerstörung dessen zu entkräften versucht, an dem man keinen Anteil mehr hat. Das Gefühl der Ohnmacht verwandelt sich dann in die Illusion der Allmacht, die aktive Sorge für das Leben in den blinden Glauben an den technischen Fortschritt, der nun richten soll, woran man selbst gescheitert ist.

Dass die Dinge einmal nicht mehr dem Menschen, sondern umgekehrt der Mensch den Dingen dienen könnte, diese Verkehrung der uns bekannten Ordnung antizipiert Fromm bereits in den frühen 1970er Jahren, ohne dass er die Zäsur, die der Eintritt ins Digitalzeitalter markiert, auch nur hätte ahnen können.

Wo keine Götter sind, walten Gespenster schrieb Novalis seinen Zeitgenossen 1799 ins Stammbuch, um sie davor zu warnen, der Idee einer dem Menschen grundsätzlich wohl gesonnenen Götterschar zu entsagen und sich den Gespenstern in die Arme zu werfen, die in Krisensituationen auf den Plan treten: als Aberglaube, Demagogie oder — wie wir es gegenwärtig erleben — als mit pseudoreligiöser Bedeutung aufgeladene Megamaschine, deren angebliche Unfehlbarkeit an die des Papstes erinnert.
Die Gefahr ist real.

Doch müssen wir ihr deshalb zwangsläufig erliegen?

Alles zu beleben ist das Ziel.

In seinen Blüthenstaubfragmenten entfaltet der junge Bergbauingenieur Friedrich von Hardenberg, alias Novalis, ein vibrierendes Tableau der unerschöpflichen Formen des Lebendigen. Der zunehmenden Entfremdung des Menschen setzt er die innere Haltung der Romantisierung der Welt entgegen: So findet man den ursprünglichen Sinn wieder. Romantisieren ist nichts als eine qualitative Potenzierung. Das niedere Selbst wird mit einem besseren Selbst in dieser Operation identifiziert. Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es. Ohne vollendetes Selbstverständnis wird man andere nie wahrhaft verstehen lernen.

Selbsterkenntnis und Welterkenntnis fallen, indem der Mensch die kosmischen Zusammenhänge, in denen er steht, immer tiefer durchdringt, am Ende zusammen. Nicht um den Austritt aus der Wirklichkeit geht es dabei, sondern gerade darum, das äußere Erleben durch Innenschau zu erweitern und zu vertiefen.

Novalis schreibt nicht über das Leben, sondern versucht, es in seinen Schriften selbst zu Wort kommen zu lassen. In seiner Utopie einer versöhnten Gesellschaft ist der Unterschied zwischen Lebendigem und Toten, Organischem und Anorganischen aufgehoben.

Alles ist lebendig.

Alles atmet.

Alles spricht.

So sehr ist Novalis zugleich ganz bei sich und ganz in der Welt, dass wir beim Lesen seiner Schriften das Defizitäre unseres erschöpften Lebensumfeldes und dessen Verfallenheit an die Surrogate künstlicher Wirklichkeiten umso deutlicher erkennen.

Wir können Novalis lesen, müssen es aber nicht.

Es genügt im Grunde, mit offenen Augen durch die Welt zu laufen, mitunter still zu werden und den Blick erst nach innen und dann wieder nach außen zu wenden. Etwa auf unser zufälliges Gegenüber in der U-Bahn. Ich bin du. Und du bist ich.

Vielleicht, wer weiß, haben wir beide ein Loch im Strumpf; fest steht, dass wir nicht wissen können, was im nächsten Augenblick geschehen wird. Kann sein, der eine wird gleich aussteigen, wo er noch niemals war, kann sein, der andere hat seinen Mut längst verloren. Die Verantwortung für unsere Lebendigkeit kann uns niemand abnehmen. Was uns jenseits der ausgetretenen Pfade vorgefertigter Agenden erwartet, ist ungewiss. Auf diese Ungewissheit müssen wir vertrauen.