Das Ende der Selbstwirksamkeit
Ein Disput über die Auswirkungen von künstlicher Intelligenz auf unsere Kinder ist überfällig.
Was macht uns glücklich? Eine Frage, die den Menschen beschäftigt, seit es ihn gibt, und auf die Generationen von Philosophen, Psychologen und spirituellen Lehrmeistern seit jeher verschiedenste Antworten finden. Kaum eine dieser Antworten jedoch lautet: Glücklich ist der Mensch, wenn alles funktioniert, ihm alles abgenommen wird, wenn er mit nichts mehr Mühe hat. Doch genau diese Entwicklung ist es, die durch die gesellschaftliche Etablierung von künstlicher Intelligenz im Alltag forciert wird. Besonders bei Kindern, die sich erst in dieser Welt orientieren und im Idealfall jeden Tag eine Kleinigkeit lernen, fällt das ins Gewicht. Immer ist da jemand, der es besser kann.
Das war schon immer das Schicksal der Kids: Umgeben zu sein von welchen, die es besser wussten. Besser konnten. Sehr viel besser. Die waren ja auch schon älter. Sehr, sehr viel älter. Aus kindlicher Sicht: uralt.
Doch obwohl da welche waren, die alles sehr viel besser konnten, sehr viel schneller auch, machte das Kind das, was es konnte, selbst. Durfte es das, was es konnte, selbst tun. Jedenfalls, wenn alles gut lief. Fraglos gibt und gab es auch immer dumme Erwachsene. Ungeduldige, dumme Erwachsene. Solche, die immer unter Zeitdruck stehen. Die immer eine Deadline haben. Eine, die wichtiger ist als das Kind.
Die sagen dann: „Lass mal, ich mach schon!“ Und nehmen dem Kind ab, was es selbst schon kann. Halt langsamer. Ungeschickter. Mit seinen kleinen Händen. Für manche Kids ist das auch okay. Warum sich selbst anstrengen, wenn da jemand ist, der so viel Expertise hat! Die geben gern nach. Und Lernchancen ab.
Andere gucken bedröppelt. Wenn man da einfach was aus der Hand genommen kriegt. Man hätte das eigentlich gern selbst ausprobiert. Die dickfelligen unter den ungeduldigen, dummen Erwachsenen bemerken das nicht.
Die klugen Älteren wissen: „Nehme ich dem Kleinen alles ab, lernt er nie!“
Das Gute damals war, dass die Großen, die Alten auch nicht alles konnten. Das hat man erfahren. Da gab es zwar welche, die konnten manche Sachen unglaublich gut. So gut … wow, echt umwerfend. Papierflieger basteln zum Beispiel. Die konnte man als Dreikäsehoch richtig anhimmeln für das, was sie konnten. Papi zum Beispiel. Wenn der in der Werkstatt werkelte. Und mit den Sachen, mit denen er die Werkstatt bestückt hatte, Dinge geschaffen hat — da hast du nur staunen können. Als kleiner Zwerg. Der gerade mal so über die Werkbank lugen konnte. „Das will ich auch mal können!“, dachte der sich vielleicht. Und wer weiß. Vielleicht kann er es heute.
Ich möchte über das unselige Thema künstliche Intelligenz sprechen. „Unselig“ deshalb, weil ich es eigentlich am liebsten meiden möchte. Weit wegschicken möchte. Es nervt mich. In seiner Penetranz. Es kotzt mich, ehrlich gesagt, richtig an. Kaum eine Stunde, in der nicht irgendeine Pressemitteilung mit irgendwas von wegen KI eintrudeln würde. Die Zeiten sind ja auch allzu günstig.
Im Abschwung verlockt es geradezu, mit etwas, das vergleichsweise neu ist, den Aufschwung zu prophezeien.
Kleine Kostprobe gefällig?
Eine beliebige Woche
Dann greife ich irgendeine beliebige Woche heraus. In besagter Woche verkündete das Bundesinstitut für Risikobewertung zusammen mit dem Julius-Kühn-Institut, dass die Anwendung von Methoden der künstlichen Intelligenz für beide Institutionen eine Voraussetzung zur Ausschöpfung von Innovationspotenzialen sei. Der HNO-Kongress beleuchtete den Einsatz von künstlicher Intelligenz in der Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde. Das Bundesland von Nordrhein-Westfalen ließ mitteilen, dass künstliche Intelligenz erstmals in der Steuerveranlagung zum Einsatz kommt.
Weiter erklärte die Bauhaus-Universität Weimar, dass digitale Wasserzeichen dabei helfen, KI-generierte Texte zu identifizieren. Beim 30. Gewerkschaftstag der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) Ende Mai 2025 geht es ebenfalls um künstliche Intelligenz, selbstverständlich auch beim bundesweiten Digitaltag am 27. Juni. Der internationale Tag für Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit am 28. April wurde gleichfalls unter das Motto „KI und Digitalisierung“ gestellt. Und so weiter. Und so fort.
Dieser Tage meinte ein Professor, ein kritischer Mensch, mit dem ich mich über dieses Thema unterhalten hatte, dass es einfach unglaublich sei, wie affirmativ und apologetisch mal wieder alle sind. Allen voran die Medien. KI wird wie ein Bonbon präsentiert. So vieles wird dadurch leichter. So vieles besser. So vieles perfekter. Wie so oft in jüngster Zeit schlägt kaum einer mal die Augen auf, guckt sich um und fragt: „Was tun wir da eigentlich?“ Wie so oft in letzter Zeit erscheint Widerstand von vornherein sinnlos. Es heißt, mitzumachen. Am Ball zu bleiben. Sonst wird man abgehängt. Doch irgendwann wird auch dieses Bonbon ausgewickelt sein …
Der Ausgangspunkt liegt lange zurück. Es hat sich schon sehr viel getan. Da ist schon sehr viel entstanden. Wieder mal wurde ein Blitzkrieg gegen uns geführt. Und nun wird willig akzeptiert: Es gibt kein Zurück mehr! KI greift um sich. Wie man so schön sagt. Wohlwissend, dass der Sache ein Risiko anhaftet. Vor ziemlich genau zwei Jahren, Ende Mai 2023, warnten führende Experten davor, diese Risiken zu unterschätzen. Die Gefahren durch KI, meinten sie, seien ähnlich hoch wie jene von Pandemien. Oder jene eines Atomkriegs. Stephen Hawking hatte bekanntlich schon vor vielen Jahren vor KI als schlimmstem Ereignis der Zivilisationsgeschichte gewarnt.
Vor etwa einem Jahr, am 3. Juni 2024, veröffentlichte Golo Roden, Gründer von „the native web GmbH“, auf „Heise“ einen Bericht mit der Überschrift „Künstliche Intelligenz ist unser Untergang”. Er warnte vor sozialer und emotionaler Verkümmerung. Fatal für ihn ist, dass die Gesellschaft gar nicht merkt, in welchem Maße sie in etwas zutiefst Negatives abgleitet. Eigentlich müsste da nicht nur ein Alarmglöckchen klingeln. Eine ganze, große Alarmanlage müsste längst losgegangen sein.
Der Chatbot bewirbt sich
Ich mag das Thema nicht und komme jetzt doch damit an. Auslöser war eine Jugendliche. Diese Jugendliche wollte gern einen Praktikumsplatz. Und was macht man, wenn man einen Praktikumsplatz haben will? Man schreibt eine Bewerbung. Also, so war das jedenfalls bisher. Heute ist das anders. Sie ließ die Bewerbung schreiben. Von einem Chatbot.
Ob sie den Praktikumsplatz ergattert hat oder nicht, weiß ich nicht. Aber die Sache gab mir zu denken. So einfach machen sie es sich also. Und wer könnte es ihnen verdenken.
Da ist etwas in der Hosentasche, das kann alles tausendmal besser und schneller als man selbst. Bewerbungen schreiben. Aufsätze. Briefe. KI malt Bilder. KI komponiert Musik. KI bietet sich als Freund an.
Mittelschullehrer meinten mir gegenüber, dass die Hausaufgaben heute in aller Regel wohl vom Chatbot stammen. Aber warum sollte man sich auch selbst anstrengen? Wenn es doch derart einfach geht, das, was zu tun ist, machen zu lassen? Es wäre unlogisch. Absurd. Ja, ich verstehe das.
Und das ist der Unterschied zu früher. Als man von Großen, Alten, Klugen umgeben war, die alles so viel besser wussten. Und alles so viel schneller hinkriegten. Deren Wissen hat man anzapfen können. Aber die haben das nicht so ohne Weiteres hergegeben. Da musste man noch selbst grübeln. Selbst probieren. Dabei konnte man in ganz schöne Schwierigkeiten geraten. Das musste man dann auch noch mit sich selbst abmachen. Musste selbst Auswege finden. Jedenfalls dann, wenn die Großen auch nur einen Hauch von pädagogischer Ahnung hatten. Dann sagten sie: „Versuch es! Das kannst du ganz bestimmt! Zeig‘s mir!“
Es wird selbst gekritzelt
Und dann hat man mit seinen kleinen, ungeschickten Händen selbst begonnen, etwas zu wagen. Etwas zu basteln. Oder zu kritzeln. Und dann hat man es geschafft, die Fahrradkette wieder einzusetzen. Und erhielt ein A! Ein O! Zumindest von jenen, die auch nur einen Hauch von pädagogischer Ahnung hatten. Und was war man stolz. Das Rad geht wieder! Und ist das nicht ein superschönes Bild geworden? Eine superschöne Geschichte?
Und dann träumte man davon: Schriftstellerin zu werden. Oder Maler. Und bekannt würde man werden. Bewundert. Ein Pädagoge, mit dem ich mich dieser Tage unterhalten hatte, meinte zu mir: „Die Kids schert nicht mehr, ob sie eine Lehrstelle bekommen oder nicht. Die sagen zu mir: ‚Ich werde eh Influencer.‘“
Man hat sich manchmal durchbeißen müssen. Manchmal hat man dreimal begonnen. Ist immer noch nichts geworden. Hat immer noch nicht geklappt. Man hat die Zähne zusammenbeißen müssen.
Die Erwachsenen hatten dafür das Wort „Disziplin“. Oder auch „Durchhaltevermögen“. Und dass es keinen Preis gebe ohne Fleiß. Und so hatte man sich die eine oder andere Kunst draufgeschafft.
Und manchmal hat man die damals Alten, die damals Großen überflügeln können. Irgendwann. Hat man es in der jeweiligen Kunst so weit geschafft, dass man selbst viel besser war als sie. Aus Altersgründen kamen die bei bestimmten Sachen sowieso irgendwann gar nicht mehr mit. Dann hat man denen was zeigen können. Dann sind die auf einen zugekommen: „Zeig mir doch mal, wie das geht!“ Auch das ein wunderbares Gefühl. Wissen weitergeben. Geschick.
Das Thema wird uns sicherlich in nächster Zeit noch arg in Atem halten. Was die unterschiedlichen Facetten betrifft. Mich sorgt: Was wird aus den Kids? Was wird aus denen, für die es absurd geworden ist, sich anzustrengen? Ein Kind sagte neulich zu seinem Lehrer: „Was soll ich rechtschreiben lernen! Es wird doch alles automatisch korrigiert.“
Und damit hat es ja auch recht. Es wird automatisch korrigiert. Man blamiert sich nicht, wenn man irgendwas zusammenstöpselt und dann wegschickt. Es wird schon richtig (geworden) sein. „Und überhaupt“, sagte das Kind, „das mit der Orthografie wird nicht mehr so genau genommen.“ Was nicht lange zu beweisen ist. Ein Blick in die digitalen Netzwerke genügt. Auch damit hatte das Kind recht.
Aber was bleibt dann noch? Was bleibt inmitten der Maschinen und der künstlichen Intelligenz? Was bleibt, wenn alles auf Druckknopf funktioniert, alles auf Druckknopf ausgespuckt wird, alles auf Druckknopf entsteht? Was bleibt, wenn die Wäsche automatisch gewaschen und automatisch getrocknet wird? Was bleibt, wenn die smarte Waschmaschine das optimale Waschprogramm ermittelt?
Vor allem aber: Was wird aus den Kindern? Worauf werden sie reduziert? Wie werden sie, von künstlicher Intelligenz ausgehöhlt, verarmt, verkrüppelt, künftig miteinander umgehen? Mit sich selbst? Was werden sie noch tun? Was werden sie noch können? Was wissen sie noch? Oder bleiben sie forever dumm?