Das Geister-Kabinett
Noch nach dem Tod Hitlers und der Kapitulation Deutschlands hielten sich Überbleibsel des „Dritten Reichs“ in Schleswig-Holstein am Leben.
Nach der bedingungslosen Kapitulation am 8. Mai 1945 hätte sich eigentlich die deutsche Reichsregierung auflösen müssen. Von da an wären von Rechts wegen die Alliierten am Zug gewesen. Doch Großadmiral Karl Dönitz regierte in Flensburg einfach weiter. Und nicht nur das: Er bekam noch einen englischen und einen britischen Offizier als Aufpasser zur Seite gestellt. Der Brite und der Amerikaner sollten das gespenstische Treiben der letzten Reichsregierung beobachten und kommentieren. Warum durfte Dönitz nach der deutschen Kapitulation das Naziregime in Flensburg noch 23 Tage ungehindert weiterführen? Wer könnte ein handfestes Interesse daran gehabt haben? Der Artikel geht einem wenig bekannten, dubiosen Kapitel der deutschen Geschichte nach.
Prolog im Kinderzimmer
Ich bin nach dem Zweiten Weltkrieg in Flensburg aufgewachsen. Damals eine Industriestadt ohne besonderen Glanz. Als Kind hörte ich, dass dieses Flensburg tatsächlich mal für sehr kurze Zeit Hauptstadt des Deutschen Reichs gewesen sei. Nein, nicht Hitler habe in Flensburg regiert. Der war ja schon tot. Ein Marineadmiral mit Namen Karl Dönitz war der Nachfolger des „Führers“. Voll Faszination schaute ich auf das Ostufer der Flensburger Förde, zur Mürwiker Marineschule. Die war der Marienburg nachempfunden. Dahinter, in den schmucklosen Räumen der Marinesportschule, tagte tatsächlich damals die letzte deutsche Reichsregierung. Am 5. Mai 1945 setzte Reichspräsident Dönitz den früheren Finanzminister Johann Ludwig Graf Schwerin von Krosigk als seinen Regierungschef ein. Krosigk war zudem für Außenpolitik zuständig.
Außenpolitik? Nun ja, da gab es nicht mehr viel zu tun. Deutschland war isoliert und geächtet. Das reale Außenministerium mit seinem ganzen diplomatischen Apparat war unter den Trümmern von Berlin versunken.
Am 7. Mai 1945 erteilte Reichspräsident Dönitz seinen Generälen dann die Erlaubnis, zuerst im französischen Reims und dann noch einmal am 9. Mai in Berlin die bedingungslose Totalkapitulation des deutschen Reiches im Beisein der Vertreter der alliierten Kommandanten zu unterschreiben. Nach den Vereinbarungen von Jalta auf der Krim vom 4. bis zum 11. Februar 1945 sollte das Deutsche Reich zwischen den vier Siegermächten Sowjetunion, USA, Großbritannien und Frankreich in Besatzungszonen aufgeteilt werden. Die vier Besatzungsmächte sollten sich laut der Vereinbarung von Jalta regelmäßig im alliierten Kontrollrat in Berlin treffen. Eine deutsche Zentralregierung war in diesem Vertragswerk nicht vorgesehen (1).
So, und nun geschah das Seltsame:
Nach der bedingungslosen Kapitulation hätte sich eigentlich die deutsche Reichsregierung auflösen müssen. Von nun ab wären von Rechts wegen die Alliierten am Zug gewesen. Doch Großadmiral Dönitz regierte in Flensburg einfach weiter. Und nicht nur das: Er bekam noch einen englischen und einen britischen Offizier als Aufpasser zur Seite gestellt. Der Brite und der Amerikaner sollten das gespenstische Treiben der letzten Reichsregierung beobachten und kommentieren.
Wie war das möglich? Erst am 23. Mai zitierten die alliierten Offiziere die Mitglieder der Dönitz-Regierung zu sich. Sie eröffneten den abgetakelten Naziregenten, dass sie hiermit verhaftet seien (2).
Die Frontlage Anfang Mai 1945
Kurz gesagt, das deutsche Reich hatte sich in den letzten Jahren in seinen Kriegsanstrengungen massiv übernommen. Das Nazisystem hatte ein riesiges Territorium erobert. Viel zu groß, um das Terrain mit deutschen Mitteln auf Dauer halten zu können. Nun war die Wehrmacht mittlerweile sogar von den rumänischen Ölfeldern abgeschnitten. Und jetzt rückte die übermächtige Rote Armee nach Berlin vor. Bei der Schlacht auf den Seelower Höhen vom 16. bis zum 19. April 1945 hatten eine Million sowjetische Soldaten etwa 120.000 Soldaten der Wehrmacht überwältigt. Damit war die deutsche Militärmacht in eine südliche und eine nördliche Hälfte geteilt, und damit war auch jede Kommunikation durch diesen Keil unterbrochen. Es folgte noch der aufreibende Häuserkampf um Berlin, der mit Luftangriffen flankiert wurde und so das Ende besiegelte.
Am 30. April beging Adolf Hitler, so die Geschichtsschreibung, in seinem Führerbunker Selbstmord. Sein treuester Paladin Joseph Goebbels folgte seinem Herrn am 1. Mai in den Tod.
Noch machten sich Hermann Göring und Heinrich Himmler Hoffnungen, die Nachfolge Hitlers antreten zu dürfen. Doch daraus wurde nichts. Denn Hitler hatte in seinem politischen Testament den drögen Großadmiral Karl Dönitz zu seinem Nachfolger bestimmt (3). Warum das? Während Hitler sich bei Göring und Himmler nie so sicher sein konnte, ob beide nicht letzten Endes gegen ihn selber intrigieren würden, indem sie mit den Westmächten paktierten, konnte sich der „Führer“ sicher sein, dass Dönitz ihm treu ergeben blieb.
Karl Dönitz hatte sich als führender Marineoffizier schon immer stark gemacht für den Einsatz von Unterseebooten in der deutschen Kriegsführung. Hitler, obwohl selber kein Freund der Marine, ließ Dönitz gewähren. Die U-Boote konnten in der frühen Phase des Krieges dem Gegner empfindliche Verluste zufügen. Doch schnell hatten die Westmächte ihre Radartechnik so perfektioniert, dass die U-Boote leicht geortet und vernichtet werden konnten. Von den 40.000 Soldaten in den Unterseebooten fanden auf diese Weise allein 30.000 den Tod (4). Dönitz ließ nicht locker. Als allerdings eine neue U-Boot-Generation endlich zur Verfügung stand, war das Reich schon am Ende. Es war vielleicht diese Unerbittlichkeit bis in den Tod, die Hitler imponierte.
Dönitz verkündete dann über Volksempfänger, sein Amtsvorgänger Hitler sei „heldenhaft bis zum letzten Atemzug gegen die bolschewistische Sturmflut kämpfend in seinem Führerbunker gefallen“ (5).
Dann begab sich der neue Reichspräsident und oberste militärische Befehlshaber nach Ostholstein, hinter die feindlichen Linien. Denn die englischen Verbände standen schon vor Hamburg, das der dortige Gauleiter Karl Kaufmann bald darauf an die Alliierten kampflos übergab und damit viele Leben geschont hatte. Doch auch am Plöner See wurde es Dönitz bald zu heiß, und er zog weiter in die nördlichste Großstadt Flensburg, an der dänischen Grenze. Entsprechend seiner Waffengattung quartierte er sich in der Marinesportschule des Stadtteils Mürwik mit seinen Mitstreitern ein. Hier überblickte der Feldherr sein Rest-Reich.
Das nette Horrorkabinett
Das Rest-Reich des Karl Dönitz war so klein nun auch wieder nicht. Neben dem nördlichen Teil von Schleswig-Holstein gehörten zum Imperium noch die Niederlande, das komplette Dänemark und das komplette Norwegen (6). In die Niederlande schickte Dönitz den Statthalter Arthur Seyß-Inquart. Der sollte die Niederlande vorübergehend noch verwalten, bis die Amerikaner und Briten dort kampflos einrücken würden. Nachdem die alliierten Truppen Hamburg übernommen hatten, stießen sie auch gleich nach Lübeck vor. Damit war es auch technisch unmöglich, von Flensburg aus die Niederlande für die Nazis zu halten. Aber die Alliierten dachten einstweilen nicht daran, den Nazis Dänemark und Norwegen abzuknöpfen. Die komplette Infrastruktur der Nazi-Besatzung funktionierte dort noch einwandfrei.
Wer waren die Leute, die jetzt über dieses Rest-Imperium herrschten?
Über Dönitz haben wir schon gesprochen. Er hatte keinerlei administrative Erfahrung im Zivilsektor. Dafür war allerdings sein Allzweck-Minister Johann Ludwig Schwerin von Krosigk zuständig. Der Edelmann hatte schon in der Weimarer Republik unter Kanzler Franz von Papen das Finanzministerium geleitet. Auch unter Hitler behielt von Krosigk diesen Posten in all den zwölf Jahren. Unter Dönitz wurde er zum Regierungschef und zusätzlich zum Außenminister befördert. Viel zu tun gab es allerdings in diesem Super-Ressort nicht mehr. Wer hatte jetzt noch diplomatische Angelegenheiten mit dem darniederliegenden Deutschen Reich zu regeln? Es fehlte an den elementarsten Kommunikationsmitteln. Immerhin dachte von Krosigk jetzt darüber nach, die Reste des Nazireichs gleitend in eine pluralistische Parteiendemokratie zurück zu verwandeln. Es blieb allerdings bei Gedankenspielen.
Albert Speer wurde unter Krosigk Wirtschaftsminister. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass Speer einer der größten Kriegsverbrecher des Naziregimes gewesen ist. Hitler war geradezu vernarrt in den Architekten Albert Speer. Speer entwarf für die Reichshauptstadt Berlin prachtvolle Prunkbauten, die der „Führer“ mit kindlicher Freude bestaunte. Nachdem der damalige Rüstungsminister Fritz Todt im Jahre 1942 bei einem Flugzeugabsturz zu Tode kam, ernannte Hitler Albert Speer zum neuen Rüstungsminister. Entgegen den Erwartungen seiner Gegner in der NS-Hierarchie krempelte Speer die Rüstungsmaschine radikal um. Menschenleben spielten dabei keine Rolle. Die Rüstungswirtschaft erlebte unter Speer einen unglaublichen Aufschwung. Das war nur möglich durch die rücksichtslose Ausnutzung der Arbeitskraft von sieben Millionen Zwangsarbeitern. Etwa 2,7 Millionen dieser Industriesklaven fanden dabei den Tod. Nur etwa 42 Prozent der aus der Sowjetunion verschleppten Zwangsarbeiter überlebten diese Tortur.
Innenminister wurde Wilhelm Stuckart. Stuckart hatte an der Umsetzung der Nürnberger Rassengesetze mitgewirkt. Zudem nahm er an der Wannseekonferenz im Jahre 1942 teil, wo die endgültige Vernichtung der Juden beschlossen wurde und wo Stuckart die Sterilisation der Juden vorgeschlagen hatte. Zudem war er SS-Funktionär.
Herbert Backe wurde Minister für Landwirtschaft und Ernährung. Im Zweiten Weltkrieg hatte er sich mit dem sogenannten „Hungerplan“ einen Namen gemacht. Backe schlug vor, den Menschen in den von der Wehrmacht besetzten sowjetischen Gebieten die Nahrung konsequent zu entziehen, um die Nahrungsmittel der Wehrmacht oder der „Heimatfront“ zuzuführen. Eine Durchsetzung des „Backe-Plans“ hätte den elenden Hungertod von dreißig Millionen Menschen zur Folge gehabt.
Minister für Verkehr und Post wurde Julius Dorpmüller. Dorpmüller hatte sich bereits unter Hitler als Reichsbahnchef und Verkehrsminister durch die perfekte Organisation nicht nur der Züge der Wehrmacht nach Osten, sondern auch durch die gut getakteten Viehwaggon-Züge für deportierte jüdische Mitbürger in die Vernichtungslager qualifiziert.
Auch Heinrich Himmler wollte Krosigks Kabinett angehören. Aber der Mann war denn doch durch und durch kompromittiert und galt als extrem verlogen.
Die Westmächte betreuen das Dönitz-Regime
Man kann also nicht gerade behaupten, dass mit dem Flensburger Gruselkabinett ein sittlicher Neuanfang gewagt wurde. Natürlich bleibt wenigstens festzuhalten, dass Dönitz nicht die sich bietende Gelegenheit genutzt hatte, das sinkende Schiff mithilfe der sogenannten „Rattenlinie“ in Richtung Lateinamerika zu verlassen. Auch in Flensburg kreuzten Nazis auf, die sich mit dem Unterseeboot davonmachen wollten. Das wenigstens hat Dönitz nicht zugelassen. Dönitz war ja Marineadmiral. Er hatte also gelernt, dass der Kapitän das sinkende Schiff als Letzter verlässt. Und in seiner Eigenschaft als Reichspräsident genehmigte er den Generälen, die bedingungslose Totalkapitulation zu unterzeichnen und damit erst den sofortigen Waffenstillstand zu ermöglichen. Das geschah zuerst am 7. Mai 1945 im französischen Reims durch General Alfred Jodl und dann noch einmal in Berlin-Karlshorst am 9. Mai durch General Wilhelm Keitel.
Damit wäre eigentlich die Arbeit von Reichspräsident Dönitz beendet gewesen. Denn nach der bedingungslosen Kapitulation würde nach den Vereinbarungen von Jalta vom Februar 1945 die deutsche Zentralregierung aufgelöst, und der Alliierte Kontrollrat würde die Regierungsgeschäfte übernehmen.
Doch weit gefehlt.
Das Horrorkabinett von Dönitz regiert in seinem Nordreich einfach weiter. Oder spielen sie nur noch Reichsregierung?
Denn bereits einen Tag nach der Karlshorster Totalkapitulation mieten sich der britische Brigadegeneral Edward J. Foord und der US-amerikanische Generalmajor Lowell W. Rooks auf dem Schiff „Patria“ in der Flensburger Förde ein. Die beiden Gentlemen beobachten das obskure Treiben der Dönitz-Leute, unternehmen aber nichts. Walter Lüdde-Neurath, der auch zum Stab von Dönitz gehörte, behauptet zwar in seinen Erinnerungen, Nazifahnen und Reichskriegsflagge seien seit dem 10. Mai aus dem Verkehr gezogen worden, aber andere Quellen berichten, dass noch bis zum bitteren Ende Nazisymbole und Hitler-Gruß üblich waren. Dessen ungeachtet behandelten der Brite und der Amerikaner die Deutschen mit allem militärischen Respekt (7).
Also was wollen Dönitz und seine Freunde noch im Regierungssessel? Ihre Begründung, die sie der Nachwelt erzählten: Sie mussten noch so lange im Amt bleiben, bis auch die letzten vor den Bolschewisten fliehenden Soldaten und Zivilisten sich in die Westzonen geflüchtet hatten. Es ging darum, so Dönitz und Speer, Menschenleben zu retten und zu schonen. Mit diesem Narrativ konnten die alten Herren die Historiker noch lange einseifen. Sie hatten ja doch viel Zeit und Aufmerksamkeit geopfert für die Interviews mit den Historikern. Da fällt es Letzteren doch schwer, den netten Senioren eine böse Kritik hinterher zu werfen (8).
Dabei ist die Erzählung von dem humanitären Unternehmen Dönitz in sich nicht schlüssig. Denn erstens hatte die englische Administration nominell bereits das Oberkommando über die deutsche Marine seit der Totalkapitulation übernommen (9). Zweitens: Inwiefern wird Leben gerettet, indem deutsche Kriegsschiffe mit Reichskriegsflagge Flüchtlinge vor den sowjetischen Streitkräften über die Ostsee schippern? Wäre nicht die Sicherheit der Flüchtlinge viel eher gesichert gewesen, wenn die deutschen Schiffe mit britischen oder amerikanischen Fahnen ausgestattet wären? Oder unter dem Schutz des Internationalen Roten Kreuzes?
Um das Wohl der Menschen ging es den Dönitz-Leuten sicher nicht. Vielmehr wurden nach der Totalkapitulation vom Flensburger Regime fünf Matrosen zum Tode verurteilt und auch tatsächlich exekutiert, nur weil diese jungen Männer sich auf eigene Faust auf den Weg nach Hause machen wollten.
Anerkennung für Albert Speer durch die Amerikaner
Albert Speer schrieb nach zwanzig Jahren im Gefängnis Spandau im Jahre 1966 seine Erinnerungen nieder und wurde allein damit gleich wieder Millionär. In jenen Erinnerungen versucht Speer die Flensburger Episode kleinzureden und ins Lächerliche zu ziehen, wie folgende Passagen zeigen:
„Nach einigem Hin und Her wurde entschieden, dass das Staatsoberhaupt weiter mit dem Titel ‚Großadmiral‘ anzureden sei; ein Informationsdienst wurde eingerichtet, von einem alten Radioapparat wurden die neuesten Rundfunkmeldungen abgehört. Sogar einer von Hitlers großen Mercedes-Wagen hatte sich nach Flensburg verirrt und diente jetzt dazu, Dönitz zu seiner fünfhundert Meter entfernten Wohnung zu fahren“ (10).
„Wir verfassten Denkschriften ins Leere, versuchten unserer Unwichtigkeit durch eine Scheintätigkeit entgegenzuwirken. Jeden Morgen um zehn Uhr fand im sogenannten Kabinettssitzungssaal, einem früheren Schulzimmer, eine Kabinettssitzung statt, und es hatte den Anschein, als ob Schwerin-Krosigk alle nicht stattgefundenen Kabinettssitzungen der vergangenen Jahre nachholen wollte“ (11).
Das kann schon sein; abgehalfterte Stars wirken lächerlich. Der Stararchitekt Speer hielt sich indes von dieser Truppe lieber fern. Er residierte standesgemäß im Wasserschloss Glücksburg, als Gast des Prinzen zu Holstein.
Speer bekommt unerwarteten Besuch aus Amerika. Fast das ganze Spitzenpersonal des United States Strategic Bombing Survey versammelt sich im Glücksburger Schloss. Es handelt sich hier um eine von US-General Dwight D. Eisenhower eingerichtete Arbeitsgruppe, die Stärken und Schwächen des US-amerikanischen Bombardements auf Deutschland untersuchen soll. Und nun treffen die Forscher hier in der deutschen Provinz den Baumeister der deutschen Rüstungsprogramme seit 1942! Eine erstklassige Quelle für die Analysen der amerikanischen Bombenbeschauer. Viele Befunde des Bombing Survey stützen sich auf das, was ihnen Albert Speer hier im Glücksburger Schloss am Kamin anvertraut hat. Die Verfasser des Survey sind alle hochkarätige Experten. Vorsitzender der Survey-Arbeitsgruppe ist Franklin D’Olier. Er war jahrelang Präsident der American Legion. Es handelt sich um eine paramilitärische Schocktruppe, die streikende Arbeiter verprügelte und pazifistische Gruppen vermöbelt hat. Dann Henry C. Alexander vom Bankhaus JP Morgan. Oder John Kenneth Galbraith, der Wirtschaftsprofessor, der später viele Bestseller schreiben sollte, die den unaufhaltsamen Massenwohlstand voraussagten. Oder Paul Nitze, der wenige Jahre später für den Nationalen Sicherheitsrat der USA das Geheimpapier NSC 68 verfasste.
Diese Schrift bereitete den Weg für eine spontane Vervierfachung des Rüstungshaushaltes im Jahre 1950 und zum Krieg gegen die Sowjetunion. Für Ronald Reagan war er Chefunterhändler in den Gesprächen mit der Sowjetregierung. Die Herrschaften freunden sich an, und das Treffen mit Speer mutiert bald zu einem richtigen Rüstungs-Workshop (12).
Doch schon deuten sich Dissonanzen zwischen Dönitz-Regierung und den Westalliierten an. Es fängt damit an, dass der exzentrische US-General Patton mit einem feuchtfröhlichen Sektfrühstück in Gesellschaft von Hermann Göring Aufregung in der West-Presse auslöst, wie Speer berichtet. Die Öffentlichkeit fängt so langsam an, den deutschen Nazis und deren Freunden etwas mehr als bisher auf die Finger zu schauen.
Der Zirkus löst sich auf
Es ist nichts so falsch wie die Annahme, es gäbe monolithische Blöcke: hier die Nazis, dort die Westalliierten Großbritannien und die USA. Innerhalb der US-Eliten gab es Kreise, die immer mit den Nazis Geschäfte machten. Und die anderen im Kreis um Präsident Roosevelt, die den bedingungslosen Krieg gegen die Nazis betrieben. Genauso auch in Großbritannien. Stark sind die Kreise in beiden Ländern, die auf keinen Fall mit der Sowjetunion zusammenarbeiten wollen.
Sicher ist auch Eisenhower kein Kommunistenfreund gewesen. Doch war er, genau wie sein Präsident Roosevelt, der festen Überzeugung, dass man die Verabredungen mit den Sowjets einhalten muss. Und so schickt Eisenhower seinen politischen Berater, den Diplomaten Robert Murphy, zu Dönitz (13). Murphy fragt Dönitz rundheraus, aufgrund welcher Legitimation er eigentlich hier noch Hoheitsrechte ausübt? Dönitz schwätzt sich heraus mit der uns schon bekannten humanitären Option. Ob Murphy davon so recht überzeugt ist, wissen wir nicht.
Doch nun wird es zunehmend ungemütlich für die Dönitz-Clique. Die Briten hatten ganz verschämt den Sowjets nichts von ihrer Anwesenheit bei Dönitz verraten wollen. Aber Stalin erfährt von seinen Top-Spionen im britischen Geheimdienst von den Flensburger Machenschaften. Stalin bezeichnet Churchill aufgebracht als einen „Verräter“. Er schickt den Generalmajor Nikolai Trussow nach Flensburg. Als Trussow mit seinen Leuten in Flensburg aufkreuzt, hält sich die Begeisterung der britischen und US-amerikanischen Offiziere an Bord der „Patria“ in der Flensburger Förde in Grenzen. Denn was Trussow sieht, beschreibt der Spiegel so:
„Die Delegation sah dort Verblüffendes: In der Stadt wehten Hakenkreuzfahnen.
Wehrmachtoffiziere waren bewaffnet unterwegs, trugen Naziorden und grüßten mit ‚Heil‘“ (14).
Klar, dass Trussow aufgebracht ist. Es ist mittlerweile der 17. Mai 1945. Vor acht Tagen war doch Totalkapitulation. Trussow macht Druck. Er lässt nicht locker. Die ertappten Schulbuben aus dem US-amerikanischen und britischen Offiziersklub geben klein bei. Am 22. Mai bestellen Rooks und Foord die Dönitz-Regierung für den kommenden Vormittag bei sich ein. Am Morgen des 23. Mai ist die Weltpresse angereist. Dönitz, Speer, Krosigk und ihr Anhang geben coole Bilder ab für die New York Times, wie sie da im Polizeihof in Flensburg mit hinter dem Kopf verschränkten Armen stehen müssen. Das müssen sie für weitere Shootings öfter wiederholen. Damit verschwinden sie aus unserer Geschichte.
Churchill unter Druck
Enter Winston Churchill. Der britische Premierminister und oberste englische Kriegsherr hatte bezüglich der Dönitz-Regierung eine deutlich andere Auffassung als Eisenhower. Churchill sah das mit der Totalkapitulation nicht so eng. Immer wieder argumentierte er, die Besatzungsmächte könnten Deutschland nie wirklich beherrschen und verwalten. Da blieb er auch gegen seinen Außenminister Anthony Eden stur, der sich vehement für die Entfernung von Dönitz starkmachte.
Ja, konterte Churchill, mag ja sein, dass der Dönitz ein Kriegsverbrecher ist. Das soll uns aber egal sein, solange die Dönitz-Leute „nützliche Werkzeuge sind“ (15).
Doch am 15. Mai knöpft sich Eisenhower den britischen Premier vor. In einem Gespräch zwischen Eisenhower, Churchill und dem britischen Oberbefehlshaber Bernard L. Montgomery knickt Churchill schließlich ein. Er insistiert nicht länger auf ein Fortbestehen des Dönitz-Regimes (16). Am 20. Mai feuert die russische Tageszeitung Prawda noch eine Breitseite ab und skandalisiert die britische Unterstützung von Dönitz. Zusammen mit dem resoluten Auftreten von Generalmajor Trussow waren das die finalen Axthiebe gegen den Flensburger Spuk.
Damit war das Dritte Reich an sein unrühmliches Ende gelangt.
Wir bleiben noch ein bisschen bei Churchill. Dass Churchill kein Freund der Kommunisten war, ist bekannt. Und dass Churchill in seinem Leben nicht gerade wenige lobende Worte zum Faschismus und zu Hitler gefunden hatte, machte uns schon Sebastian Haffner deutlich (17). Doch es geht noch viel weiter. Denn Churchill hatte im Frühjahr ein Thesenpapier in Auftrag gegeben, das streng geheim blieb bis zu einer Veröffentlichung im Jahre 1998. Das Papier trägt den Namen „Operation Unthinkable“ —N die undenkbare Operation (18). Operation Unthinkable bedeutet: Unmittelbar nach der deutschen Kapitulation sollen die Streitkräfte der USA und Großbritannien den Krieg gegen die Sowjetunion eröffnen. Diese Truppen sollen zusätzlich verstärkt werden durch ein Kontingent von 100.000 Mann aus dem Personal der Wehrmacht, aber auch der Waffen-SS. Das Papier ist in einem rotzigen Ton gehalten:
„Das allgemeine oder politische Ziel besteht darin, Russland (sic!) den Willen der USA und des Britischen Imperiums aufzuzwingen (…). Ein rascher Erfolg könnte die Russen dazu veranlassen, sich unserem Willen zumindest für absehbare Zeit zu unterwerfen; das muss aber nicht eintreffen. Das müssen die Russen selber entscheiden. Wenn sie den Totalen Krieg haben wollen, können sie ihn bekommen“ (19).
Doch glückliche Umstände haben uns diesen Totalen Krieg erspart. Denn das Papier „Operation Unthinkable“ landete erst am 22. Mai 1945 bei Churchill auf den Tisch. Am nächsten Tag wurde ja bereits das Dönitz-Regime verhaftet. Und noch ein glücklicher Umstand: Am 7. Juli 1945 fanden zum ersten Mal seit Kriegsbeginn wieder Unterhauswahlen statt. Aber die Überraschung für Churchill war fundamental. Denn nicht er, der Kriegsheld, gewann die Wahlen. Die gegnerische Labour-Partei gewann in einem Erdrutschsieg. Churchill konnte fürs Erste nicht mehr in die Politik lenkend eingreifen. Die Labour-Partei entsprach dem Wählerwillen nach Frieden und Wohlstand. Statt Aufrüstung nahm man jetzt viel Geld in die Hand für Wohnungsbau und Gesundheit.
Wehrmachtssoldaten noch einmal in den Krieg gegen die Sowjetunion?
Die Dönitz-Episode sollte eigentlich zu denken geben. Unter dem Aspekt der erst seit noch nicht einmal dreißig Jahren bekannten Operation Unthinkable ist folgende Hypothese nicht ganz unplausibel:
Könnte es denn nicht sein, dass Churchill das Dönitz-Regime bewusst eingesetzt hat, um jene 100.000 deutschen Wehrmachts- und SS-Soldaten im deutsch-dänischen Schutzraum zu rekrutieren?
Tatsächlich wurden dort zumindest Zehntausende junge deutsche Rekruten auch nach der Kapitulation in Lagern festgehalten. Die erforderlichen Waffendepots standen bereit.
Wozu das alles gut sein könnte, hatte sich durchaus auch bis zu den Zwangsrekrutierten herumgesprochen.
Da ist zum Beispiel Kurt Müller. Müller ist Teenager, als er kurz vor Kriegsende doch noch zum Militär einberufen wird. Doch kaum befindet er sich in der Uniform, wird er mit seiner Truppe nach Nord-Dänemark verfrachtet – im geschlossenen Güterzug von Mecklenburg aus. Nach ein paar Wochen jedoch geht es mit dem Güterzug zurück nach Dithmarschen. Als der Krieg schon vorbei ist, müssen die jungen Männer in Lagern herumgammeln, obwohl ihre Angehörigen dringend Hilfe brauchen. Man fragt sich also in den Lagern, warum man hier noch herumlungern muss. Ein Gerücht geht um:
„Wie die Kleiderlaus hatte sich auch ein Gerücht im Lager ausgebreitet: ‚Wir werden nur deshalb so lange festgehalten, weil es gemeinsam mit den Engländern noch einmal gegen den ‚Iwan‘ gehen soll.‘ ‚Quatsch‘, lachte Horst, ‚alle sind jetzt kriegsmüde, haben ihre Waffen abgelegt und nur den einen Wunsch, bald nach Hause zu kommen! Da hat sich jemand einen Spaß erlaubt, weiter nichts. Wir sind besiegt, und willst du nochmals einen Krieg? Also, es ist nur Unsinn! Wo viele Menschen sind, verbreitet sich ein Gerücht bekanntlich wie ein Buschfeuer.‘ (…) Der Poet aber meinte, dass es nicht völlig abwegig sei und es schon eine Kluft gäbe zwischen Ost und West und dass das Vordringen der Armee Stalins bis an die Elbe von den Weststaaten bestimmt nicht gern geduldet werde“ (20).
Wie wir jetzt sehen, hatten die jungen Männer vollkommen recht. Zuvor wurde ihnen noch etwas Bemerkenswertes mitgeteilt:
„Während des Morgenappells, wir waren wie gewohnt im offenen Viereck angetreten, teilte der Spieß mit, dass die Halbinsel Eiderstedt und das Gebiet ‚Dithmarschen‘ jetzt ein Auffanglager für mehrere hunderttausend Soldaten der aus dem Norden kommenden Einheiten sei.
Weiter hieß es in dem von den Engländern herausgegebenen Befehl, dass zur Aufrechterhaltung der Ordnung unsere bisherigen Strukturen erhalten blieben und englische Offiziere sowie die deutschen Vorgesetzten zu grüßen seien.
‚Allen ist das Tragen der Auszeichnungen erlaubt!‘
Das in einer Gefangenschaft? Ein Raunen ging durch die Reihen“ (21).
Gut möglich also, dass Churchill ein anderes Spiel betrieb als Eisenhower. Doch auch im US-amerikanischen Militär gab es bunte Vögel, die ihre Extravaganzen pflegten. Der bereits erwähnte legendenumwobene General George Patton brillierte mit antijüdischen Ausfällen. Patton war berüchtigt dafür, seine Leute rücksichtslos zu verheizen. Patton war nach der bedingungslosen Kapitulation sozusagen amerikanischer Statthalter für Bayern. In dieser Eigenschaft reaktivierte er das eigentlich bereits aufgelöste XIII. Armeekorps der deutschen Wehrmacht und unterstellte es der SS-Einheit „Götz von Berlichingen“. Dann ließ es sich Patton nicht nehmen, mit einem Hubschrauber inmitten der SS-Einheit zu landen.
Patton stieg aus, wurde von den Rekruten mit „Heil Hitler“ begrüßt und fragte dann die deutschen Soldaten, ob sie bereit seien, mit ihm in einen Krieg gegen die Sowjetunion zu marschieren. Wer das will, soll einen Schritt vortreten. Alle Soldaten treten einen Schritt vor. Das bewegt Patton zu dem höchsten soldatischen Lob, die SS sei „eine Bande sehr disziplinierter Hurensöhne“ (22).
Doch auch Patton konnte sich nicht durchsetzen. Zudem verunglückte er im Dezember 1945 tödlich.
Viele Kriegstreiber — viele Missgeschicke. Äußerst glückliche Umstände haben uns nachfolgend ein ziviles Leben im Wohlstand beschert. Wie sich die Bilder gleichen. Auch jetzt stehen wir wieder auf der Kippe zu einem Weltkrieg. Ob wir uns aber noch einmal auf eine Verkettung glücklicher Umstände verlassen können, ist fraglich.