Das Gift der missverständlichen Begriffe
Wenn es um das Aufwachsen unserer Söhne und Töchter geht, sollten wir auf unsere Sprache achten — oft ist bei diesem Thema schon die Wortwahl diskriminierend.
„Das Kind“ — ist es sächlichen Geschlechts und deshalb eigentlich nur eine Sache? Klingt das Wort „Unterricht“ nicht so, als wolle man jemanden unterkriegen? Und wenn gefragt wird, was aus dem Nachwuchs „einmal werden“ soll — bedeutet dies, dass er in der Gegenwart ein Nichts ist? Die sprachphilosophischen Betrachtungen, die Bertrand Stern hier anstellt, mögen ungewöhnlich wirken — sie erweisen sich gerade deshalb aber als im höchsten Grade erhellend. Die Sprache, die wir verwenden, ist nie gleichgültig. Mit Begriffen urteilen wir, kreieren Wirklichkeit, stempeln ab, würdigen und erniedrigen. In dem Bereich, der gemeinhin „Kindererziehung“ genannt wird, können falsche Begrifflichkeiten besonders fatal wirken. Die Wahl der Worte für das, was geschieht, obliegt ja immer den „Erwachsenen“ — jüngere Menschen können Bezeichnungen nur erdulden und werden, ob sie es wollen oder nicht, von diesen geprägt. Eine humanere Schule zu erdenken, hat der Autor zu seinem Lebenswerk gemacht. In diesem zweiteiligen Artikel legt er die passenden Bausteine dafür zurecht: freilassende, nicht-diskriminierende Worte.
Wenn es um zwischengenerationelle Belange geht, beispielsweise um Fragen rund um das Aufwachsen der geliebten Töchter und Söhne oder um Fragen bezüglich deren Beschulung, sollte sich bewusst machen, dass bei Auseinandersetzungen mit Behörden oder Justiz die Wahl der Begriffe eine erfahrungsgemäß wichtige Rolle spielt. Es geht nicht darum, wie der Mensch, der ein bestimmtes Wort gebraucht, es meint oder versteht, sondern darum, ein wichtiges Merkmal der Kommunikation zu bedenken: Sowohl im zwischenmenschlichen Austausch als auch im Umgang mit Behörden und Justiz kommt es nicht allein darauf an, wie jemand einen Begriff emotional empfindet oder rational interpretiert. Bedeutsam ist vielmehr das Beachten der möglichen — zumeist unbewussten und normativ verankerten — Assoziationen, die das „Gegenüber“ mit diesen Worten verbindet.
Wenn dieses Gegenüber — hier Behörden und Justiz — diese Begriffe anders, nämlich rein normativ, konnotiert, können bestimmte Begriffe sogar dramatische Konsequenzen haben. Oder, anders gesagt: Der Nichtgebrauch gewisser „toxischer“ Begriffe und das bewusste Ersetzen durch andere, neutralere Formulierungen kann den gesamten Verlauf einer Auseinandersetzung verändern.
Aus meiner jahrzehntelangen Erfahrung auf diesem Gebiet habe ich — auf Wunsch einer betroffenen Familie — eine Aufstellung von aus meiner Sicht zehn „toxischen Begriffen“ erstellt und eine Liste der stattdessen zu verwendenden, unverfängliche(re)n Wörter. Hierbei möge bedacht werden, dass es durchaus Unterschiede gibt zwischen den unbedingt zu vermeidenden Wörtern und denen, die ich nur als problematisch bezeichnen möchte.
Die Tatsache, dass der Mitmensch zumeist nicht an sich bösartig reagiert, entbindet uns nicht von der jede kommunikative Situation kennzeichnenden Feststellung, ja sogar von der drohenden Gefahr, das Gegenüber könne angesichts dessen, was Begriffe in ihm auslösen, aus einer Art Reflex reagieren. Was können Wörter nicht alles bewirken! Dies gilt in besonderem Maße für die tabuierten Bereiche unserer „Zuvielisation“!
Wohlgemerkt: Ich bin kein Moralist und hege nicht das kontraproduktive Ansinnen, neuartige Tabus aufzustellen oder Verbote auszusprechen. Ich glaube allerdings, dass unsere Sprache Ausdruck einer ethischen Haltung sein kann — und sein sollte. Wenn sich allein aus dieser ethischen Haltung heraus ein möglicher Konflikt mit Behörden und Justiz ergibt, weil unsere geliebten Töchter und Söhne für sich klar entschieden haben, welchen Lebensweg sie gehen wollen und welchen sie ablehnen, dann muß das, was in einer Auseinandersetzung vorgebracht wird, auch begrifflich ein klares Bild der eigenen Position widerspiegeln.
Folglich kann es — vorneweg — nicht um eine Diskussion über mögliche andere, besser geeignete Schulformen — einschließlich der häuslichen Beschulung — gehen, sondern um die zentrale Frage, ob eine Tochter/ein Sohn ein Mensch ist, dem selbstverständlich das Recht zusteht, einen klaren Willen zu artikulieren — etwa die eigene Beschulung abzulehnen und sich frei bilden zu wollen.
Das bedeutet beispielsweise: für sich zu entscheiden, wann, was, mit wem und wodurch etwas entdeckt werden möchte. Wie die Erfahrungen der letzten Jahre, ganz besonders im Umgang mit Behörden und Justiz, bestätigen, verändert diese Klarheit das ganze „Spiel“. Vor diesem Hintergrund möchte ich heute die folgende Aufstellung ( ) als Denkanstoß vorstellen und für Ihre Aufmerksamkeit danken. Ich freue mich über Ihre kritischen Rückmeldungen und Ihre positiven Erfahrungsberichte.
- Wie nicht anders zu erwarten, ist der erste toxische Begriff „Kind“.
„Das Kind“: ein neutraler Begriff für ein Neutrum; für einen unschuldigen Engel; für ein unmündiges, weitgehend unfähiges, defizitäres („Mängelwesen“), also für ein daher zu erziehendes Wesen, für ein erst „Werdendes“ — schlicht: für ein Objekt. Die „Minderjährigkeit“ steht für die faktische Minderwertigkeit. Zugleich ist das „Kind“ Projektionsfläche für allerlei Erwartungen — einerseits von den Eltern, andererseits von „Vater-Staat“. Spätestens wenn aus dem sogenannten „Kind“ eine „Schülerin“ oder ein „Schüler“ entsteht, folgt die Vor- und Maßgabe, sich schulpädagogischen Vorgaben zu unterwerfen.
Es möge an dieser Stelle bedacht werden, welch dramatische Konsequenzen das Aufwachsen im abseitigen Reservat „Kindheit“ hat: Die psychologische Infantilisierung der Person findet ihre Widerspiegelung in der subtilen Infantilisierung (Verkindischung) der Gesellschaft, die von einer „väterlichen Ersatz-Herrschaft“ die Erfüllung der postulierten und verkündeten Ziele erwartet („der autoritäre Charakter“).
Das sozialpsychologische Ergebnis ist eine dichotome Ordnung (Oben — Unten) mit dem normativen Zwang zur Unterwerfung. Es versteht sich von selbst, dass diese Dichotomie mit den verbindlichen Zielen einer freien und demokratischen Lebensform unvereinbar ist.
Da dem „Kind“ abgesprochen wird, sich selbstbestimmt zu entscheiden, was „es“ wollen und nicht wollen kann, wird es einer „höheren Gewalt“ ausgeliefert, die ihre „Wohltat“ oder „Fürsorge“ als „Kindeswohl“ verkleidet.
Dieser höchst problematische Begriff ( ) verbindet zwei Problemfelder: Zum einen das des sogenannten „Kindes“, zum anderen das einer normativen Festlegung vermeintlich selbstverständlicher, als unabdingbar erforderlicher Werte, die als „Wohl“ sogar positiv betrachtet und gepriesen werden.
Die Steigerungsform des Begriffs „Kindeswohl“ ist das Postulat der „Kindeswohlgefährdung“. Wenn die sich hierfür zuständig dünkende Behörde — das „Jugendamt“ — meint, dass dies zutreffen könne, wird dies oftmals in ein familiengerichtliches Verfahren münden. Davon völlig abgesehen, wie absurd eine solche Unterstellung sein kann, dürfte klar sein, dass es dort, wo es weder die Vorstellung von „Kindheit“ noch die vom „Wohl“ gibt, das Argument einer Kindeswohlgefährdung hinfällig ist. Daher gilt es, dieser Annahme radikal zu widersprechen.
Zudem möge im Vorfeld dreierlei bedacht werden:
• Erstens ist es nicht die genuine Aufgabe von Familiengerichten, über schulische Angelegenheiten zu urteilen. In Deutschland wurde durch inzwischen drei obergerichtliche Beschlüsse festgehalten, dass Schulangelegenheiten über den Weg der ordentlichen Gerichtsbarkeit (Ordnungswidrigkeitsverfahren) geregelt werden müssen, denn „Nicht-Schulbesuch stellt nicht an sich eine Kindeswohlgefährdung dar.“
• Zweitens ist der teilweise oder gänzliche Entzug des elterlichen Sorgerechts (in Österreich: der Obsorge) an ganz präzise Bedingungen gekoppelt, entsprechend einer klaren „Gefahrenskala“, die nicht dadurch gegeben sein kann, dass die Tochter oder der Sohn „schulrenitent“ sei.
• Drittens: Familiengerichtliche Maßnahmen würden — ebenso wie die über Bußgelder zu erzwingende Schulanwesenheit — mit Gewissheit eine größere sogenannte Kindeswohlgefährdung darstellen als das, was Schulbehörden und Jugendamt gegebenenfalls postulieren.
Anstelle von „Kind“ trete ich für die konsequente Verwendung des Begriffs „junger Mensch“ ein, weil es sich um einen Menschen handelt, dem unbedingt und bedingungslos alle Menschenrechte zustehen — selbstverständlich!
Das Alter — oder das Jungsein — ist kein Argument für eine subtile Diskriminierung — ebenso wenig wie die Farbe von Haaren oder Augen oder die Körpergröße.
Dort, wo ein Schriftstück etwas persönlicher gestaltet werden soll, kann „meine Tochter“ oder „mein Sohn“ angeführt werden — oder deren Namen.
Die konkrete Erfahrung der letzten Jahre hat gezeigt, dass diese scheinbare Pingeligkeit durchaus lohnenswert ist — weil sie folgenschwer ist und sozusagen „das ganze Spiel“ verändert: Der junge Mensch wird zum Subjekt, dem das grundlegende Menschenrecht nicht abgesprochen werden kann, insbesondere das Recht, das abzulehnen, was ihm nicht guttut. (Klammer: Wäre das Schulwesen so wunderbar, so toll, gäbe es keinen Anlass, Menschen zwangsweise dorthin zu „schicken“. Weshalb sollten selbstbestimmte Menschen sich dieses schöne Erlebnis entgehen lassen wollen?)
Beim zweiten, naheliegenden Begriff „Schule“ werde ich mich nicht lange aufhalten, da hierzu bereits viel publiziert worden ist. Wesentlich erscheint mir die zentrale Unvereinbarkeit zwischen der Beschulungsideologie einerseits und dem Recht des Menschen, frei sich zu bilden, andererseits.
Das bedeutet: Es ist einerlei, welche Gestalt die Beschulung annimmt — ob in der „normalen“ Staatsschule, in einer Ersatzschule (als Reform oder als „Alternative“ bezeichnet) oder in der häuslichen Beschulung. Über die da und dort minimalen Unterschiede in Bezug auf Zensuren, Klassengröße, Unterrichtsqualität hinaus, handelt es sich stets um die für Schule kennzeichnenden Vorzeichen, nämlich um die Beschulungsideologie und ihre Praxis in Gestalt eines Reservats, in welchem „Kinder“ unterrichtet werden.
Der für Deutschland relevante Artikel 7 Absatz 1 des Grundgesetzes postuliert: „Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates“.
Hieraus leiten die staatlichen (Schul-)Behörden ein Vorrecht ab zu bestimmen, was Schule zu sein und nicht zu sein hat. Freilich hat frei sich bilden gar nichts mit Schule gemeinsam — weshalb es zweifellos auch nicht unter staatliche Kuratel fallen kann.
Aus diesem Grunde erscheint es mir wichtig, sich gar nicht erst auf eine Diskussion über Schule oder zu irgendeiner Bildungs- beziehungsweise Unterrichtsform einzulassen. Wer insbesondere vor Gericht entschlossen, sicher und eindeutig darlegen kann, worin die eigene Haltung wurzelt, wird glaubhaft darauf pochen können, das selbstverständliche Recht jedes Menschen zu respektieren, frei sich zu bilden. Anders formuliert: Gerade wer — statt mit aller Gewalt gegen ein „Nein!“ vorzugehen — das Bestehen der Tochter oder des Sohnes auf die freie Wahl des eigenen Bildungsweges erhört, wird der naheliegenden Gefahr entkommen, als ideologische, religiöse oder pädagogische Spinner wahrgenommen und abgestempelt zu werden. (Auf die inzwischen gängigen Versuche, solche Menschen als „Freilerner“ zu bezeichnen, ja als Sekte zu brandmarken, gehe ich im nächsten Punkt ein!)
Eine kleine Nebenbemerkung: Oft wird die Nicht-Anwesenheit in der Schule als „Schulschwänzen“ bezeichnet.
Meines Erachtens stellt das Schwänzen die Beschulung nicht grundsätzlich infrage, sondern ist ein — gefährliches — Spiel entsprechend dem „11. Gebot“: du sollst dich nicht erwischen lassen!
Welche Gründe es hierfür auch immer geben mag: Schwänzen darf nicht mit dem klaren Votum einer Ablehnung von Schule verwechselt werden. Sollte also der Vorwurf von „Schulschwänzen“ erhoben werden, muß diesem energisch widersprochen werden.
- In Fortsetzung von „Schule“ ist es naheliegend, drei aus meiner Sicht „schulisch verseuchte“ Begriffe zu untersuchen, die miteinander zusammenhängen: „Unterricht“, „Lernen“ und „vermitteln“. Hierbei ist der „Unterricht“ das „Aktive“, das „Lernen“ das „Passive“.
Auch wenn das Wort „Unterricht“ neutral interpretiert werden kann, so sollten wir uns dennoch kritisch fragen, ob es wirklich darum gehen soll, dass Menschen „runtergerichtet“ werden. Wäre es nicht vielmehr wesentlich, ihnen zu ermöglichen, sich aufzurichten?
Mit einer wesentlichen Betonung auf das rückbezügliche „Sich“ als Ausdruck der Selbstermächtigung, zugleich der Würdigung des Subjekts.
Auf welche Gestaltung des Unterrichts sich dieser Begriff immer beziehen mag: für die meisten Menschen ist er an die Schule gekoppelt. Er signalisiert ein zumeist ungesundes Herrschaftsverhältnis, welches das zu erlangende Wissen lediglich als Alibi benutzt, ja sogar missbraucht. Zwar wird dies heutzutage nicht mehr überall so sein, doch wer Bilder von früheren Klassenzimmern betrachtet, sieht ein Katheder auf einem Podest: die Lehrkraft hat ihre Schülerschaft von oben herab unterrichtet.
Nicht anders ist es mit dem „Lernen“. Ich weiß, so pflege ich stets hervorzuheben, dass manche Menschen, etwa Neurowissenschaftler, dieses Lernen nicht schulisch verstehen. Fragt man jedoch „Menschen wie dich und mich“, womit sie „Lernen“ assoziieren, so ist festzustellen, wie sehr sie „Lernen“ als eine Plage oder Pflichtübung an Schule knüpfen. Deshalb beschreibe ich „Lernen“ als das „Reinwürgen“ eines fremdbestimmten Lehrplans an einem bestimmten Ort — der Schule (aber nicht viel anders: zu Hause oder in einer Lerngruppe!) — zu einer fremdbestimmten Zeit durch eine lizenzierte Lehr-Herrschaft — mit dem Ziel, einer bei der Prüfung zu erringenden Note.
Es möge nebenbei bemerkt werden, dass das Ergebnis dieses oftmals als „Bulimie-Lernen“ bezeichneten Vorgangs mit einer Selbstreinigung des Organismus endet: mit dem „Auskotzen“ der ohne Interesse oder Primärmotivation aufgedrückten Lerninhalte — dem Vergessen. Es ist erstaunlich, wie schnell dieses Vergessen eintritt, wobei hier hervorgehoben werden muss, dass sich dieses Vergessen ausschließlich auf den „Stoff“ bezieht, nicht jedoch auf die oftmals von Schmach und Unlust gekennzeichneten Gefühle.
Wie pervertiert der Begriff Freiheit bereits ist, zeigt sich, wenn Eltern meinen, es sei schon ein Zeichen von Selbstbestimmtheit, wenn der „Lernstoff“ mit Spaß und Spiel „vermittelt“ werde — wodurch die dichotome „Lern-Situation“ lediglich subtil verschleiert wird: Entspringt das, was angeblich „zum Wohle des Kindes“ erfolgt, nicht in Wirklichkeit, den infantilen Vorstellungen von Erwachsenen?
Oder wenn in Österreich manche Eltern ihrem Nachwuchs sagen, dies oder jenes sei der Prüfungsstoff, der im Juni geprüft werde — ihm sei es nun „freigestellt, diesen ganz selbstbestimmt zu lernen“. Ist eine solchermaßen abgemilderte Form des Reinwürgens nicht ebenso manipulativ, aber dafür umso gefährlicher?
Aus diesen Gründen lehne ich bei selbstbestimmten Menschen die Verwendung von „Unterricht“ und „Lernen“ ab.
„Vermitteln“: Was artikuliert im Deutschen die Vorsilbe „ver-“? Das Präfix „ver“- kann verschiedene Bedeutungen haben. Es steht oft für:
- eine Veränderung
- einen Fehler
- eine Bewegung weg von etwas ( )
Daher meide ich das Wort „Vermitteln“, das für mich stets ein dichotomes, asymmetrisches Gefühl weckt. Wenn es um Partnerschaft von Subjekten geht, ziehe ich den Begriff „Mitteilen“ vor.
In Erweiterung meiner Skepsis gegenüber dem Wort „Lernen“ ist es naheliegend, dass ich die aus meiner Sicht sehr unpassende Wortbildung „Freilernen“ kategorisch ablehne. Wird nicht jede Lehrerin oder jeder Lehrer sagen, dass in seiner Klasse selbstverständlich alle frei lernen? Kann man unfrei lernen?
Der vor Jahren unternommene Versuch, die englische Vokabel „unschooling“ ins Deutsche zu übersetzen, endete damit, dass inzwischen oft davon ausgegangen wird, die sogenannten „Freilerner“ seien eine Sekte, eine Gruppe, sozusagen eine Bewegung, die außerhalb der Gesellschaft stünde, in der Gefahr, eine Parallel-Welt zu bilden.
Zudem: Was entdeckt der Mensch in seinem Leben? Er entdeckt gewisse Setzungen oder Strukturen. Beispielsweise: 2 + 2 = 4; oder, dass unsere Sprache, zu der Goethe oder Hesse gehören, nicht beliebig ist, oder dass Bach, Mozart, Beethoven und Brahms, Rembrandt, Van Gogh und Richter, Rodin und Liebeskind Teil unserer kulturellen Vergangenheit und Gegenwart sind und somit integrale Bestandteile unserer kulturellen Identität.
Diese Kultur ist nicht frei! Doch frei ist der Mensch, wenn er nicht lernen muß, sondern frei sich bilden kann.
Daher: Frei sich bildende Menschen benötigen keinen Unterricht und sie lernen auch nicht. Sie lechzen nach Kontakten und nach Wissen, möchten begleitet, hingeführt werden, freuen sich daran zu experimentieren, zu entdecken, zu erringen ... Zeitweise ist es auch so, dass sie — nach außen hin scheinbar — gar nichts tun, nichts wollen: Dieses innere „Gären“ artikuliert sich dann als „Langeweile“, welche der Leere, dem Nichts dient.
In diesem Nichts wurzelt das Kreative; hier entstehen neue, innovative Energien. Dort, wo Menschen mit diesem Selbstvertrauen in ihre Kompetenz leben, ist und bleibt frei sich bilden ein lebenslanger Prozess, ähnlich dem Atmen oder dem Essen: eine menschliche Selbstverständlichkeit, die unsere Gattung geradezu kennzeichnet. Ohne unnötige Störungen beginnt dieser Prozess mit der Zeugung und endet wahrscheinlich erst mit dem letzten Atemzug des jeweiligen Menschen.
Wurde soeben nicht modellhaft die Grundstruktur einer demokratischen Lebens- und Kulturform beschrieben? Entspringt und entspricht dies nicht dem, was in Deutschland die im Grundgesetz verankerten Grund- und Menschenrechte aussagen und dem, was auch internationale Menschenrechtskonventionen postulieren? Der Sinn von Verfassungen ist es nicht, ein politisches, wirtschaftliches oder sonstiges Programm zu verkünden; sondern den Menschen als das Subjekt, als den Souverän, davor zu schützen, zum Objekt von Herrschaft, zum Opfer von Gewalt erniedrigt zu werden. Folglich darf eine Verfassung als Garantie verstanden werden, dass jeder Mensch das Recht und die Pflicht hat, sich gegen jedwede staatliche Gewalt (und Übergriffigkeit!) zur Wehr zu setzen ( ).
- „Zukunft“ und „Werden“: Mit diesen Begriffen werden des Öfteren angebliche Sorgen der vermeintlich „Verantwortlichen“ ausgedrückt, die in Wirklichkeit ihr eigenes Misstrauen auf ihren Nachwuchs projizieren. Was heißt „Werden“? So beispielsweise in der typischen (und bangen) Aussage: „Was soll mal aus dir werden?“ Dieses Werden steht für eine Leugnung des Seins, das ein dynamisches Potential ist: Sein strebt stets nach gedeihlichem Sich-Entfalten — während die Betonung auf das Werden diese Energie geradezu ausbremst, behindert, stört, lähmt.
Statt beispielsweise der geliebten Tochter oder dem geliebten Sohn das Vertrauen in die eigene, angeborene Kompetenz zu schenken, wird hier — zumeist subtil, oft unbewusst — eine Angst gesetzt und gepflegt, aus der entweder ein innerer Konflikt oder ein strategisches Dilemma entstehen kann: beispielsweise die Haltung: Eigentlich bin ich mir meiner selbst bewusst, doch was tue ich, wenn die geliebten Mitmenschen in ihrem Misstrauen Recht hätten? Wenn das Leben wirklich so gefährlich, die Menschen so schlecht sind, dass es angebracht ist, sich zu fürchten und alles anzustellen, um dem programmierten Werden zum Erfolg zu verhelfen? Vermag ich es dennoch, „bei mir zu bleiben“? Oder entsteht eine Resignation vor der Last, vor dem Übergewicht der vorgebrachten — nur scheinbar logischen — Argumente, was psychologisch als „Identifikation mit dem Aggressor“ bezeichnet werden kann.
Dieses angebliche „Werden“ mündet in den Irrglauben an eine „Zukunft“. Gewiss stellen wir als fühlende und denkende Wesen uns die Frage, wohin die Reise unseres Lebens geht. Wenn dieses Fragezeichen nicht offenbleibt, ist die Gefahr sehr groß, dass die jedem Menschen innewohnende Potenz des Kreativen erstickt wird: Die Möglichkeit, auf dieses Fragezeichen die eigene Antwort in Gestalt einer eigenen Lösung zu finden, wird klammheimlich ersetzt durch den ausgeübten Druck, sich der von außen diktierten Rezepte zu bedienen — koste es, was es wolle, ohne Rücksicht auf Verluste, um jeden Preis.
Es ist allerdings klar, dass absolut niemand sagen kann, wie die Zukunft wirklich aussieht. Selbst jene, die etwa in einem familiengerichtlichen Verfahren sich im Namen der Zukunft Sorgen um den Nachwuchs machen, können dies nicht. Ist das, was allgemein als Zukunft bezeichnet wird, nicht eine bloße Projektion eines schlecht verdauten Gestern auf ein angeblich erlösendes Morgen, wodurch die Zukunft sich als eine schwere Hypothek erweist? Wohlgemerkt wird diese Hypothek nicht von jenen einzulösen sein, die sie aufgenommen haben, sondern von künftigen Generationen. Kurz:
Was als „Zukunft“ als scheinbar logisch daherkommt, entpuppt sich im Grunde als dramatische Unverschämtheit zu Lasten unserer Töchter und Söhne oder Enkelinnen und Enkel. Und dies vor allem deshalb, weil es heute so viele Menschen gibt, die sich mit aller Gewalt dagegen zur Wehr setzen, aus ihrer eigenen und aus unserer gemeinsamen Vergangenheit die notwendigen, die Not abwendenden Schlussfolgerungen zu ziehen.
Sprachlich möge bedacht werden: Das Wort „Zukunft“ setzt sich zusammen aus den Silben „Kunft“ für „Kommen“ und „Zu“. Also: das „Zu-Kommende“. Dies ist fast eine Befehlsform.
Im Zusammenhang mit „Zukunft“ möge berücksichtigt werden, wovon (Schul-)Behörden, Jugendamt und Justiz ausgehen: Entgegen jedweder Logik und allen Erfahrungen äußern sie die Befürchtung, dass dieser Mensch später wegen seiner Nicht-Beschulung als Schmarotzer der Allgemeinheit auf der Tasche liegen werde — sprich, von Sozialgeld oder staatlicher Unterstützung leben müsse. Zwar gibt es keine rationale Begründung für die aberwitzige Argumentation, sie sollte aber bedacht werden, weil sie — zumeist unbewusst und unausgesprochen — den Aussagen und Argumenten der Entscheider innewohnt. Allein: eine Lüge wird durch unentwegte Wiederholung nicht wahrer!
Da Menschen sich die Frage stellen worin ihr Leben besteht und wohin die Reise ihres eigenen Lebens sie führen wird, gebrauche ich für dieses offene Fragezeichen den Begriff „Künftiges“. „Künftiges“ lässt alles offen und unbestimmt. Daher stellt es die positive Herausforderung dar, sich kreativ und aktiv dem zu widmen, was durch mein Säen möglich wird: das Erhoffen, die Saat möge aufgehen, ist ein Zeugnis von Vertrauen.