Das Krankheitssystem

Für den Medizinbetrieb sind gesunde Menschen unrentabel. Exklusivabdruck aus „Rette sich wer kann“.

Nicht allen, die zum Arzt gehen, wird geholfen — das ist bekannt. Dass alle im Gesundheitssystem tätigen Menschen jedoch ernsthaft versuchen, uns von unseren Leiden zu befreien, setzen wir als selbstverständlich voraus. Zu Unrecht: Denn Krankheiten, die nicht erfolgreich behandelt werden oder regelmäßig wiederkehren, generieren Profit und Wachstum. Iatrogene, das heißt durch ärztliche Behandlung erst verursachte Erkrankungen nehmen zu. Und mit dem plötzlichen wundersamen Gesunden aller Menschen bräche ein gewaltiger Industriezweig mit zahllosen Arbeitsplätzen weg. Die Schockierende Wahrheit ist: Das Medizin-System ist nicht ernsthaft an gesunden Menschen interessiert, weil kranke weitaus mehr Profit bringen.

Ohne florierendes Krankheitssystem würde die deutsche Wirtschaft wohl umgehend zusammenbrechen, denn die Gesundheit unseres alles entscheidenden Wachstumsindikators, des Bruttoinlandsprodukts (BIP), hängt maßgeblich davon ab, dass es immer weniger Gesunde gibt und immer mehr Kranke. Wer das merkwürdig findet, vergegenwärtige sich, dass das irreführend so genannte „Gesundheitswesen“ seit 1950 von einem 2-Millionen-Geschäft zu einer 350-Milliarden-Maschine (1) eskaliert ist, deren Umsätze 12 Prozent des BIP ausmachen und die mit etwa 5,5 Millionen Beschäftigten (2) fast jeden sechsten Arbeitsplatz in Deutschland stellt (3).

Nicht einberechnet sind hierbei Zulieferer, Handwerker, Beschäftigte der „Wellnessbranche“ sowie Heilpraktiker, Homöopathen und alle nicht behördlich als Gesundheitsdienstleistende anerkannten Behandler (4). Zählte man all diese und ihre Leistungen hinzu, betrüge der BIP-Anteil des Krankheitswesens wohl zwischen 15 und 20 Prozent.

Weshalb das BIP zerstörerisch wirkt, als Teufelszahl im Schafspelz (5) habe ich an anderer Stelle ausführlich dargelegt. Hier wollen wir uns nur erinnern, dass wir die Zahl nicht loswerden, allem Bemühen von Nobelpreisträgern zum Trotz (6). Eine Zahl, die Wirtschaftstätigkeit emotionslos misst und folgerichtig ganz ungerührt bleibt, wenn Sie morgens unfallfrei zur Arbeit fahren, BIP-Zuwachs = 7,50 Euro, hingegen gewaltiges, positives, wünschenswertes Wachstum mittels Freudensprung nach oben signalisiert, wenn Sie einen schweren Unfall mit zwanzig Totalschäden und vielen Schwerverletzten verursachen – BIP-Zuwachs = 1.250.007,50 Euro.

Die explodierenden Kosten des Krankheitssystems bereiten daher auch dem zuständigen Gesundheitsministerium nicht etwa Sorgen, sondern lösen regelrechte Begeisterungsstürme aus.

Die alljährlichen Berichte preisen in den höchsten Tönen den „Beschäftigungsmotor“ (7), die „Wachstumsbranche auf Erfolgskurs“ (8), deren „durchschnittliche Bruttowertschöpfung“ mit „3,5 Prozent deutlich schneller wächst als die Gesamtwirtschaft“, und man spart auch nicht mit Exportweltmeister-Lob für den erklecklichen Außenhandelsüberschuss der Branche – 21 Milliarden Euro im Jahr 2014 (9).

Verständlicherweise findet sich in öffentlichen Verlautbarungen nicht der leiseste Hinweis darauf, dass all dieses Wachstum vor allem bedeutet, dass die Leute nicht direkt gesünder werden, aber das wäre ja auch gar nicht gut. Im Gegenteil: Zunehmende Gesundheit wäre alarmierend für das Gesundheitsministerium, bedeutete sie doch abnehmendes Wachstum oder gar eine Schrumpfung des so überaus erfolgreichen Sektors. Anlass zur Sorge besteht aber diesbezüglich offenkundig nicht.

Über die, vordergründig, dramatischen Fehlentwicklungen in unserem Krankheitssystem haben nun in den vergangenen Jahren eine ganze Reihe von Whistleblowern und Aufklärern, meist Experten mit medizinischem Hintergrund, kluge und schockierende Bücher vorgelegt. Eine kommentierte Literaturliste finden Sie im Anhang, sofern Sie Interesse an Mafia- und Horrorgeschichten haben, werden Sie dort garantiert fündig. Allerdings hält sich das Publikumsinteresse an diesen Büchern in Grenzen, denn selbst wenn einige Titel kurzzeitig auf der Bestsellerliste stehen, bedeutet das nicht, dass plötzlich Unmengen Leute ihre Nase in ihre eigenen Angelegenheiten stecken. Ein temporärer Platz 15 in der Spiegel-Liste bedeutet nur, dass von 82.000.000 Deutschen den für sie so lebenswichtigen Stoff nicht gelesen haben: circa 81.980.000.

Aber auch wer keines dieser dicken Bücher liest, bekommt ja immer wieder mal am Rande etwas mit von den frischen Skandalen der Pharmaindustrie oder erfährt, dass unsere Krankenhäuser sich in privat betriebene Shareholder-Profitmaschinen verwandelt haben. Gerade dieses Wissen aber – so viele Skandale sind längst von klugen Menschen aufgedeckt und veröffentlicht, niemand muss noch Wikileaks bemühen, um alle Fakten, frei von „Verschwörungstheorien“, zu erfahren – führt uns kognitiv aufs Glatteis. Denn wir sind ja nicht im Wilden Westen, sondern in der Zivilisation – und wenn all diese „Ermittler“ Skandale offenlegen, gehen wir doch unausgesprochen, selbstverständlich davon aus, dass sich um diese Schweinereien schon jemand kümmern wird.

Wenn Peter Goetzsche belegt, dass in den USA jedes Jahr zwischen 210.000 und 250.000 Menschen (10) an ärztlichen Behandlungen und an vorwiegend verschreibungsgemäß eingenommenen Medikamenten sterben – iatrogene (11) Todesfälle –, und wir davon ausgehen können, dass die gleiche Zahl an europäischen Opfern hinzukommt (12), sowie ein paar weitere Millionen nicht Tote, aber iatrogen Verstümmelte und chronisch Erkrankende, ist das ein Riesenskandal, ein unfassbares Drama. Eine knappe halbe Million Todesopfer im zivilisierten Norden? Pro Jahr? Verursacht nicht etwa durch „Kunstfehler“ oder falsch eingenommene Mittel, sondern durch vorschriftsgemäßes Handeln von Arzt und Apotheker?

Undenkbar, das kann nicht sein. Wäre das so, liefen doch jeden Abend zur besten Sendezeit Brennpunkte in allen Programmen, bis diese Epidemie historischen Ausmaßes besiegt und verschwunden ist. Diesen Massenmord müsste, würde doch sofort jemand abstellen. Nämlich unsere Behörden, unsere Regierung. Irgendwer, den wir doch genau dafür eingesetzt haben und bezahlen, dass er uns vor Betrug und Missbrauch schützt – erst recht aber vor Verstümmelung und Ermordung, also: unsere körperliche Unversehrtheit. Denken wir.

Und so denken wir auch, wenn wir ein halbes Jahr nach der jüngsten uns zu Ohren gekommenen Skandalmeldung zum Arzt gehen, darum werde sich ja wohl in der Zwischenzeit jemand gekümmert haben. Hat aber keiner. Und das liegt nicht daran, dass das System versagt hätte. Es liegt daran, dass das System funktioniert.

Ben Goldacre konstatiert zutreffend, stellvertretend für so viele Kritiker: „Medicine is broken“ (13) – die Medizin ist kaputt. Aber die Medizin, das Krankheitswesen, ist eben kein Sonderfall, keine kaputte Insel, denn sie gehorcht höheren Systemgesetzen. So hat Spezialist Goldacre recht, springt aber doch zu kurz und erweckt gar, wie alle Kämpfer für die Gesundheit, den Eindruck, man könne die kaputte Medizin reformieren, ohne den Rest des Systems zu reparieren. Das ist falsch.

Unser Krankheitssystem ist eingebettet in einen größeren Zusammenhang. In diesem Zusammenhang gilt das erste Gebot von Kanzlerin Merkel: „Ohne Wachstum ist alles nichts.“

Droht in diesem System eine wachstumstreibende Branche wie die Autoindustrie, die deutlich kleiner ist als die Gesundheitsbranche, durch innere oder äußere Faktoren gebremst zu werden, greift man daher notfalls sogar zu radikalen Maßnahmen und beschließt auf Kosten aller eine Schrottprämie. Gerät das Bankwesen unter Druck, rettet man es per Bail-out. Und kommt ein Schlaumeier auf die Idee, „geldwerte Leistungen“ einfach nachbarschaftlich über den Gartenzaun zu verschenken – was fürs BIP reines Gift ist –, ändert man die Steuergesetze.

Das Krankheitswesen, fest eingebettet in dieses größere System, will und muss wie alles andere wachsen. Aber während das Weiterwachsen beispielsweise der Autoindustrie „nur“ bedeutet, dass wir uns auf Teufel komm raus alle paar Jahre ein neues Auto kaufen müssen, bedeutet Wachstum in der Krankheitsbranche: mehr Kranke. Was also Goldacre, Goetzsche und alle anderen Aufklärer beschreiben, ist nicht das Versagen des Systems, sondern seine gewünschte Funktionsweise, sein Triumph.

Die Krankheitsmaschine läuft – wie gewünscht, wie geschmiert. Wir müssen uns nur klarmachen, was das bedeutet: dass das Ziel der Maschine eben nicht dasselbe ist wie unseres, sondern das genaue Gegenteil. Denn je gesünder wir sind, desto schlechter geht es der Maschine. Je kränker wir sind, desto besser geht es der Maschine.

Alles, was medizinisch vernünftig wäre, rasche Gesundung beförderte und chronische Krankheit vermiede, ist daher schlicht geschäftsschädigend – und schlecht fürs BIP. Deshalb behandelt die Maschine nicht Kranke, sondern Krankheit, deshalb ist ihr Produkt nicht Gesundheit, sondern der Kranke – und wir sind in diesem System lediglich Brennstoff, nicht etwa Reiseteilnehmer. Deshalb honoriert das System jeden Zuwachs an Krankheit, nicht an Gesundheit.

Das Interesse dieser Maschine an Gesunden ist gleich null. Die oben beschriebene Iatrogenik trifft hier auf verhängnisvolle Weise mit dem „Prinzipal-Agent-Problem“ zusammen, das auftritt, „wenn eine Seite – der „Agent“, der Beauftragte – persönliche Interessen verfolgt, die mit den Interessen desjenigen, der seine Dienste in Anspruch nimmt – des „Prinzipals“, des Auftraggebers –, nicht übereinstimmen (14).

Wir tun uns indes schwer, das einzusehen. Die Unzähligen, die ihren Lebensunterhalt mit Krankheit verdienen, sind wohl entschuldigt, denn Upton Sinclairs Wort gilt weiterhin: „Ein Mensch lässt sich schwerlich bewegen, etwas zu verstehen, wenn sein Gehalt davon abhängt, dass er es nicht versteht“ (15).

Aber auch alle anderen, die nicht von Kranken leben, geraten hier kognitiv in schwere Dissonanz – unsere Ratio kollidiert mit unseren festen Überzeugungen: Das kann doch gar nicht sein, der Kranke als Benzin, nicht als Passagier? Das wäre doch … krank. Und unanständig. Und überhaupt, das ist doch gar nicht wahr, es steht doch „Gesundheitssystem“ drauf, nicht „Krankheitssystem“. Es ist beeindruckend, wie gründlich wir uns von Worten, von „Neusprech“ in die Irre führen lassen, ebenso beeindruckend wie die Marketing­arbeit der Krankheitsindustrie. Könnte die Autobranche ebenso perfekt Gehirne waschen, wären wir alle heute felsenfest davon überzeugt, VW und Co. arbeiteten rund um die Uhr an der Abschaffung von Straßen.

Zur Auflösung dieser unangenehmen inneren Dissonanz stehen uns nun mehrere Wege offen, die bequemsten und meistgewählten sind: Herunterspielen, Nichtwahrnehmen und selektives Weglassen von Informationen, also die Beibehaltung der ursprünglichen Überzeugung. Verständlicherweise, denn der andere Weg zur Auflösung der Dissonanz wäre eine Anpassung des eigenen Verhaltens an eine neue Überzeugung. Und das ist nicht nur mühsam und unangenehm, es verheißt auch Frustration, da ja der Einzelne nicht das Gesamtsystem verändern kann.

So resultiert aus der traurigen Erkenntnis, dass das System primär sich selbst dient und nicht dem Erkrankten, nichts sonderlich Zielführendes: Zwar kann man diesen Zustand beklagen oder doof finden oder empörend – als interessierter Bürger, als Weltverbesserer, als Mensch –, aber mangels Verbündeter kann man ja offenkundig nichts daran ändern. Und wer wollte sich freiwillig selbst dauernd frustrieren? Zumal ja die Funktionsweise des Systems, solange wir gesund sind, nicht lebensgefährlich ist – jedenfalls nicht für uns selbst. Erst wenn wir selbst zu Patienten werden, wenn wir uns doch selbst an das System wenden (müssen), weil wir krank sind oder uns krank fühlen, wird es heikel. Daher müssen wir uns als Patienten in spe – selbstschützend – von ein paar weiteren Illusionen verabschieden.

Primär müssen wir uns von der Prämisse verabschieden, unsere Ärzte, Behandler, Krankenkassenmitarbeiter, Krankenhausbetreiber, Medikamentenhersteller, Forscher müssten ein Interesse daran haben, uns gesundzumachen.

Haben sie aber nicht – und zwar nicht, weil sie schlechte Menschen wären, sondern weil sie an unserer Gesundheit kein Interesse haben können. Weil das System sie bestraft, wenn sie unsere Gesundheit fördern. Das heißt: Es wird ihnen systematisch ungeheuer schwer gemacht, unsere Gesundheit überhaupt befördern zu wollen. Verfolgen sie dieses Interesse ernsthaft, müssen sie waghalsige Helden sein, mutige Gutmenschen reinsten Wassers, denn in diesem Fall setzen sie sich der Gefahr aus, pleite zu gehen, ihren Arbeitsplatz, ihre Approbation zu verlieren oder gar vor Gericht zu landen.

Diese Konstruktion ist nur konsequent. Denn da Gesundheit dem BIP schadet, ist Selbstheilung gänzlich unerwünscht. Wer nicht zum Arzt geht, schadet dem BIP. Wer andere Menschen heilt, und zwar so, dass sie dem System gesundet fernbleiben, schadet dem BIP. Wer innerhalb des Systems versucht, Gesundheit herzustellen, schadet dem BIP, wird ausgestoßen und verliert seine Lebensgrundlage. Wer von außen versucht, Gesundheit herzustellen, bedroht das Einkommen derer, die vom System leben. Und wird zum Paria, denn er wendet sich, mehr oder weniger frontal, gegen das erste Gebot, gegen das Dogma: „Ohne Wachstum ist alles nichts.“ Wer hier „Abwarten und Weglassen“ empfiehlt, ist aber nicht nur ein Saboteur, sondern auch naiv.

Ich bekenne mich schuldig. Doppelt. Gestatten Sie mir, das sogar zwei Seiten lang zu belegen. Mit Masochismus hat das nichts zu tun, es dient nur – hoffentlich – der Unterstreichung des Gesagten.


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Sven Böttcher: „Rette sich, wer kann! Das Krankensystem meiden und gesund bleiben“, Westend Verlag.


Quellen und Anmerkungen:

(1) Die Gesundheitsausgaben beliefen sich im Jahr 2014 auf rund 344,2 Milliarden Euro – das entspricht 4.213 Euro je Einwohner und einem Anteil von 12 Prozent am Bruttoinlandsprodukt. (https://www.bundesgesundheitsministerium.de/themen/gesundheitswesen/gesundheitswirtschaft/bedeutung-der-gesundheitswirtschaft.html). Die jährliche Wachstumsrate liegt bei im Industrievergleich höchst erfreulichen 2 bis 3,5 Prozent, woraus sich per vorsichtiger Schätzung für Ende 2017 die „etwa 350 Milliarden“ ergeben.
(2) Die „5,5 Milliarden“ sind abermals eine Schätzung unter verhaltener Annahme, denn „insgesamt waren zum 31. Dezember 2015 rund 5,3 Millionen Beschäftigte in Deutschland im Gesundheitswesen tätig. Im Vergleich zum Vorjahr ist die Zahl um 112.000 (+ 2,2 Prozent) gestiegen“ (https://www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/Pressemitteilungen/2017/01/PD17_030_23621.html). Zum 31. Dezember 2017 ergibt sich daraus der genannte Wert von circa 5,5 Millionen.
(3) Die Gesundheitswirtschaft ist nach der Bankwirtschaft auch zweitgrößter „Verbraucher „ von BIP – und dank alljährlicher staatlicher Milliardenhilfen de facto permanent im Modus „bail-out“. Vgl. Reuther, a. a. O., S. 260 f.
(4) „Nicht zu den Beschäftigten im Gesundheitswesen gezählt werden ehrenamtlich Tätige sowie Beschäftigte, die als Beauftragte aus anderen Sektoren in Einrichtungen des Gesundheitswesens tätig sind. Dies können zum Beispiel Handwerkerinnen und Handwerker sein, die Reparaturen in einem Krankenhaus durchführen, deren Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber aber ein Handwerksunternehmen ist. […] Beschäftigte aus dem expandierenden Bereich ›Wellness‹ werden innerhalb der Gesundheitspersonalrechnung nicht berücksichtigt, da hier die Bewältigung oder Linderung von Gesundheitsproblemen nicht vornehmliches Ziel ist.“
(http://www.gbe-bund.de/gbe10/abrechnung.prc_abr_test_logon?p_uid=-gast&p_aid=0&p_knoten=FID&p_sprache=D&p_suchstring=12049).
(5) Vgl. „Ruhe in Frieden, Bruttoinlandsprodukt“, Rubikon, 6. Mai. 2017, https://www.rubikon.news/artikel/ruhe-in-frieden-bruttoinlandsprodukt. Ausführlicher in Böttcher/Bröckers, Die ganze Wahrheit über alles (Westend 2016), dort umzingelt von 70 weiteren Diagnosen.
(6) Eine Alternative zum BIP wird spätestens seit 2009 dringend, aber erfolglos gesucht. Die vom französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy eingesetzte Stiglitz-Kommission forderte schon damals, die Politik müsse „schnellstens“ handeln, konnte allerdings keinen konsensfähigen Vorschlag vorlegen, obwohl Einigkeit bestand (und weiter besteht), dass das BIP nichts taugt. Das ist nichts Neues, denn Robert Kennedy wusste ja schon 1968: „Das BIP misst weder unseren
Verstand noch unseren Mut, weder unsere Weisheit, noch unser Mitgefühl […]. Es misst kurz gesagt, alles außer dem, was das Leben lebenswert macht.“ Diese Einschätzung von Kennedy über BIP-Erfinder Kusnets bis Stiglitz teilte auch die „schnellstens“ vom deutschen Bundestag 2013 eingesetzte Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ – ohne daraus jedoch bis heute irgendetwas Nützliches entwickelt zu haben. Bislang ist nämlich niemand
auf den Trichter gekommen ist, was bei unserem „neuen BIP“ der gemeinsame Nenner sein könnte von Zufriedenheitsniveau, Lebensdauer und Größe des ökologischen Rucksacks. Mangels Genies debattieren wir uns also fröhlich weiter einen Wolf und stören das BIP nicht bei seiner zerstörerischen Arbeit.
(7) „Das deutsche Gesundheitswesen bleibt ein Beschäftigungsmotor […] Von 2009 bis 2014 stieg die Zahl der Arbeitskräfte um 10 Prozent (476 000). Die Altenpflege erwies sich als der stärkste Wachstumssektor.“ (Pressemeldung des Bundesgesundheitsministeriums, 27. Januar 2016; https://www.bundesgesundheitsministerium.de/ministerium/meldungen/2016/mehr-personal-imgesundheitswesen.html).
(8) „Die Gesundheitswirtschaft ist eine Wachstumsbranche auf Expansionskurs. Ihre Bruttowertschöpfung ist in den letzten elf Jahren mit einem durchschnittlichen jährlichen Wachstum von 3,5 Prozent deutlich schneller als die Gesamtwirtschaft gewachsen. […] Die von der Gesundheitswirtschaft im Jahr 2016 generierte Bruttowertschöpfung betrug rund 12 Prozent des Bruttoinlandsproduktes.“ (Bundesgesundheitsministerium, Pressemitteilung zur Bedeutung der Gesundheitswirtschaft; https://www.bundesgesundheitsminiterium.de/themen/gesundheitswesen/gesundheitswirtschaft/bedeutung-der-gesundheitswirtschaft.html.)
(9) Im Jahr 2014 exportierten die Unternehmen der Gesundheitswirtschaft Güter im Wert von rund 106,7 Milliarden Euro. Den Exporten standen Importe in Höhe von 85,7 Milliarden Euro gegenüber, damit ergab sich ein Außenhandelsüberschuss von 21 Milliarden Euro. (Bundesgesundheitsministerium, ebd.)
(10) „Around 100 000 people die each year in the United States because of the drugs they take even though they take them correctly. Another 100 000 die because of errors, such as too high dose or use of a drug despite contraindications. […] The European Commission has estimated that adverse reactions kill about 200 000 EU citizens annually (at a cost of 79 billion) […]. This means that in the United States and Europe drugs are the third leading cause of death after heart attack and cancer.“ (Goetzsche, ebd. S. 259.) Das ist nur die Spitze des entsetzlichen Eisberges, denn zu diesen 300 000 bis 500 000 Todesopfern kommen weitere Millionen, die nicht sterben, aber ernste lebenslange „Medikamentenschäden“ davontragen, die sie zu Behinderten und Pflegefällen machen (vgl. ebd. S. 260 f.). Vgl. auch https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/66550/US-Studie-Medizinische-Irrtuemer-dritthaeufigste-Todesursache.
(11) Griechisch „iatros“, deutsch „Arzt“ und „genesis“, deutsch „Ursprung, Ursache“.
(12) Während Peter Goetzsche und Gerd Reuther (siehe gleich) von 200.000 bis 300.000 iatrogenen Todesopfern ausgehen, räumt die Bundesärztekammer für 2016 nicht ganz so viele Tote durch Behandlung ein – nämlich nur 96. Warnung oder Entwarnung liegen hier also offenkundig im Auge des Betrachters. Der Tod durch Klinikkeime (15.000 bis 40.000 Opfer, umstritten) gilt (höchstrichterlich so betrachtet) nicht als medizinisch verursachter Tod. Da nun obendrein, wer
mehr oder weniger massiv behandelt wird, in der Regel vorher eine Diagnose hatte, und der behandelnde Arzt im Fall des Patientenverscheidens selbst den Totenschein ausstellt, verschwinden medizinische Opfer (mangels Vorhandensein der Ankreuzmöglichkeit „Lag wohl an mir, am Medikament oder der Behandlung“ in den Todesartenkategorien Schlaganfall, Herzinfarkt, Brustkrebs, Magen-Darm-Blutungen, Sturz et cetera sowie im Sammelsurium der mindestens 30 Prozent Fehldiagnosen, welche die Totenscheine schmücken, also zentrales
Kreislaufversagen, Herzstillstand etc.. Lediglich der Vermerk „Todesursache unklar“ auf dem Totenschein würde zu polizeilichen und staatsanwaltlichen Ermittlungen führen, zu Obduktionen und beispielsweise der Bestimmung von Medikamentenspiegeln im Blut der Verblichenen. „Herzinfarkt“ hingegen fällt unter „natürliche Todesursachen“, alle Nachfragen erübrigen sich.
Hierbei ist zusätzlich ausdrücklich zu betonen, dass der von Goetzsche und Reuther ermittelte Platz 3 durch iatrogene Todesursachen insofern irreführend ist, als auf den Plätzen 1 und 2 der Liste mit den Ursachen für die jährlich etwa eine Million Todesfälle (genau 925.000 im Jahr 2015) tatsächlich Krankheiten stehen – aber der durch Medikamente oder Behandlungen verursachte Tod ist eben keine Krankheit, müsste also in einer fair gehandelten Liste antreten gegen
andere nicht krankheitsbedingte Todesursachen wie Transportunfälle (3.688 im Jahr 2015), Stürze (12.000) oder Diverse (knapp 35.000, inklusive Beim-Fensterputzen- Verunglücken) (vgl. https://www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/Pressemitteilungen/2017/01/PD17_022_232.html;jsessionid=AE7A2239208984BF255580E73D61B87F.InternetLive2). Der nicht-natürliche, iatrogen verursachte Tod durch Medikament oder Behandlung läge somit unter den nicht krankheitsbedingten, nicht natürlichen Todesursachen deutlich vorn, mit weitem Abstand. Wie weit dieser Abstand ist, bleibt indes strittig. Dr. med. Reuther führte hierzu aus, da er allein für Deutschland auf schätzungsweise 300.000 Opfer pro Jahr kommt, nicht auf europaweit 200.000 (wie Goetzsche) – ich zitiere mit seiner Genehmigung aus seinem Schreiben an mich: „Nun, woher kommt meine qualifizierte Abschätzung? Es sind die Daten über die 30-Tage-Sterblichkeit einer europaweiten Studie für Deutschland (2,5 Prozent) bei mindestens 8 Mio. Operationen in Narkose. Die aus mehreren Studien abgeleiteten 60 bis 70.000 Medikamententoten sind sogar mit deutschen Daten abgesichert, die eine medikamentös bedingte Sterblichkeit von 0,3 Prozent der stationären Patienten ermittelt haben. Bei 20 Millionen Patienten sind wir bei mindestens 60.000.
Und die Infektionstoten durch Klinikkeime sind mindestens 30 000 nach den Schätzungen des Deutschen Instituts für Krankenhaushygiene. Lebensweltlich auch gut nachvollziehbar: Bei 800 Akutkliniken sind dies alle 10 Tage 1 Toter in jedem Krankenhaus. Glaubhaft, da Sie pro Tag in einem Akutkrankenhaus sehr konservativ geschätzt mindestens 10 Patienten haben, die Infektionszeichen entwickeln. In 10 Tagen sind dies 100 und davon stirbt dann einer. Das wäre nur
eine Mortalität von 1 Prozent bei Klinikkeimen … 200.000 + 65.000 + 35.000 = 300.000. Davon darf man dann im Saldo vielleicht 100 000 abziehen, die durch Behandlungen vor einem schnelleren Tod bewahrt wurden. Bei unseren 800 Akutkliniken würde dann an jedem 3. Tag in jeder der Kliniken 1 Leben gerettet. In den USA sind die Zahlen 3 bis 4 Mal so hoch: http://www.webdc.com/pdfs/deathbymedicine.pdf.“ Es bleibt natürlich jedem Leser selbst überlassen, welcher Ansicht er zuneigt, also ob er für den Verlauf unserer Argumentation von circa 200.000 (europaweit), circa 300.000 (deutschlandweit) ausgehen möchte – oder eben von insgesamt 96.
(13) Ben Goldacre, Bad Pharma. How Drug Companies mislead doctors and harm patients, S. IX.
(14) Vgl. Nassim Nicholas Taleb, Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen, S. 175.
(15) „It is difficult to get a man to understand something, when his salary depends on his not understanding it.“