Das langsame Sterben
Mehr noch als der Brutalität seiner Feinde könnte Julian Assange der Untätigkeit derer zum Opfer fallen, die eigentlich die Pressefreiheit beschützen sollten.
Manchmal in der Weltgeschichte bündelt sich ein Prinzip in einer einzigen Person. Stirbt dieser Mensch, so ist dies ein Schlag gegen das ganze weltanschauliche Paradigma, für das dieser stand. Im Fall von Julian Assange ist dies die Idee der freien Presse als einem Kontrollorgan gegen Staatswillkür. Julian Assange stirbt langsam, aber er stirbt vor unser aller Augen, obwohl jeder dies wissen könnte, der es wissen will. Sieht man, wie wenige Menschen sich für den Wikileaks-Gründer einsetzen, der seit 14 Jahren nicht mehr in Freiheit ist, so könnte man annehmen, es handele sich um eine drohende Verurteilung wegen Ladendiebstahls in einem Provinzkaff. Tatsächlich aber wird derzeit in London die Zukunft der Presse- und der Meinungsfreiheit auf der ganzen Welt verhandelt. Nicht nur deutsche Diplomaten und Politiker versagen komplett, auch die meisten Presseorgane schweigen oder glänzen durch wägende Unbestimmtheit der Aussage — offenbar, weil sie genau wissen, was man heute sagen darf und was nicht. Es ist immer nur ein verstreutes Häufchen von Engagierten, die sich für das Opfer weißer Folter einsetzen und die mit diesem Tun kaum Widerhall finden. Ein historisches Versagen, findet die Autorin.
Anlässlich der medial weltweit beachteten Anhörung im High Court in London über das Schicksal des WikiLeaks-Gründers, Julian Assange, am 20. und 21. Februar 2024 wurden er und seine Verdienste nach langer medialer Versenkung wieder öffentlich debattiert. Gegenstand der Verhandlung war die Frage, ob Julian Assange das Oberste Gericht in London anrufen kann, um seine Auslieferung an die USA zu stoppen.
In vielen Ländern gab es Mahnwachen und Demonstrationen, um die Bevölkerung über Julian Assange und seine „Verbrechen“ aufzuklären. Sein „Verbrechen“, für das er inzwischen seit fast fünf Jahren im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh in London gefangen gehalten wird, ist die Veröffentlichung eines Videos, „Collateral Murder“ genannt. Das Video zeigt einen US-Militärhubschrauber, von dem aus die Soldaten das Feuer auf eine Gruppe irakischer Zivilisten eröffnen. Mehrere Menschen wurden bei dem Angriff getötet, darunter auch zwei Journalisten der britischen Nachrichtenagentur Reuters.
Nachdem Assange fast sieben Jahre in der ecuadorianischen Botschaft in London Asyl hatte, in die er sich aus Angst vor Auslieferung nach Schweden geflüchtet hatte und aus der er im April 2019 mit Polizeigewalt entführt wurde, sitzt er unter härtesten Haftbedingungen in dem britischen „Guantanamo“. Er wird 23 Stunden in seiner Zelle eingeschlossen, die eine Stunde Freizeit muss er ebenso unter Aufsicht in einem geschlossenen Raum verbringen.
Der frühere UN-Sonderberichterstatter für Folter, Nils Melzer, bezeichnet die Haftbedingungen als Folter.
Immer wieder wurden in etlichen Ländern Kampagnen für die Freilassung von Julian Assange initiiert, auch in Deutschland.
So haben die fünf großen Zeitungen, darunter der Spiegel, die am 28. November 2010 die ersten 251.000 sogenannten „Cablegate“-Nachrichten des US-Außenministeriums von WikiLeaks veröffentlichten und damit viel Aufsehen erregten — und viel Geld verdienten — am 28. November 2022 eine gemeinsame Presseerklärung veröffentlicht. Darin äußerten sie ihre große Besorgnis in Bezug auf die Pressefreiheit: „Die Anklage gegen Assange ist ein gefährlicher Präzedenzfall und ein Angriff auf die Pressefreiheit.“ Sie forderten, die Verfolgung von Julian Assange aufgrund der Veröffentlichung geheimer Dokumente sofort einzustellen. „Denn Journalismus ist kein Verbrechen.“
Auch schon vor über vier Jahren, am 6. Februar 2020 veröffentlichten über 130 Prominente aus Politik, Wissenschaft, Medien und Kultur einen gemeinsamen Appell mit der Forderung, den australischen Whistleblower umgehend aus der Haft zu entlassen.
Auf einer Pressekonferenz stellte der Initiator der Kampagne, Investigativ-Journalist Günter Wallraff, den Appell gemeinsam mit den ehemaligen Bundesministern Sigmar Gabriel (SPD) und Gerhart Baum (FDP) sowie der Linken-Abgeordneten Sevim Dağdelen vor. „Ich sitze heute hier, weil die Pressefreiheit kriminalisiert werden soll“, betonte der ehemalige FDP-Innenminister Baum.
Unter Verweis auf die Warnungen des UN-Sonderberichterstatters Nils Melzer drücken die Unterzeichner ihre Sorge um das Leben von Julian Assange aus. Melzer hatte den Journalisten und WikiLeaks-Gründer im Mai 2019 mit einem Ärzteteam in der Haft besucht. Die Ärzte hätten ihm bescheinigt, dass Assange Symptome „langdauernder psychischer Folter“ aufweise. Dessen Haftbedingungen stellten „schwere Verstöße gegen menschenrechtliche und rechtsstaatliche Grundprinzipien“ dar. Dağdelen sprach von einer „Bankrotterklärung der westlichen Rechtsstaatlichkeit“.
Die Unterzeichner des Appells fordern die Bundesregierung dazu auf, sich bei der britischen Regierung für eine Freilassung von Assange einzusetzen (1).
Im Wahlkampf für die Bundestagswahl 2021 und als grüne Kanzlerkandidatin forderte Annalena Baerbock im September 2021 ebenso „die sofortige Freilassung von Julian Assange“:
„Aufgrund schwerwiegender Verstöße gegen grundlegende Freiheitsrechte der Europäischen Menschenrechtskonvention im Umgang mit Julian Assange — allen voran gegen das Verbot von Folter (Art. 3), gegen das Recht auf Freiheit und Sicherheit (Art. 5), gegen das Recht auf ein faires Verfahren (Art. 6) und gegen das Recht, keine Strafe ohne Gesetz zu erhalten (Art. 7) — schließen wir uns der Resolution der Parlamentarischen Versammlung des Europarates vom 27. Januar 2020 sowie dem Appell des UN-Sonderbeauftragten Nils Melzer an und fordern die sofortige Freilassung von Julian Assange.“ (2)
Als Außenministerin ignorierte sie monatelang Anfragen zu dem inhaftierten Gründer der Enthüllungsplattform WikiLeaks. Ein bis dahin ungekanntes Vorgehen eines Bundesministeriums.
Stella Assange, Anwältin und Julians Ehefrau, besuchte im April 2023 Berlin und wollte Baerbock treffen, aber dazu kam es nicht. Stattdessen empfing eine Beauftragte im Auswärtigen Amt die Juristin — unter der Bedingung, dass das Treffen geheim gehalten werden müsse. Die Staatsministerin für Kultur, Claudia Roth, ließ sich von Stella Assange über die Lage des prominenten politischen Häftlings informieren und erklärte kurz darauf in einem taz-Interview: „Eine Freilassung von Assange wäre ein gutes und wichtiges Signal für die Pressefreiheit.“
Auffällig ist auch, dass es weltweit nur sehr wenige Journalisten gibt, die sich seit vielen Jahren für Assange einsetzen. Zu diesen Journalisten gehört die Italienerin Stefania Maurizi, die als einzige Journalistin Ungereimtheiten in Bezug auf das Auslieferungsverfahren von Assange in Schweden und Großbritannien nachging und durch Klagen etliche Dokumente ans Tageslicht beförderte, die die Justiz der beiden Länder in einem sehr dunklen Licht erscheinen lassen. Es ist also zu vermuten, dass die USA hinter den Kulissen massiven politischen Druck auf die jeweiligen Länder ausgeübt haben. Das könnte auch auf Baerbock zutreffen, die vermutlich vor dem politischen Druck der USA in die Knie geht.
Maurizi betont in ihrem Buch „Secret Power and the Persecution of Julian Assange“, dass etwas noch viel Schlimmeres als die Verbrechen der CIA im Fall Assange die politische Apathie der Öffentlichkeit in seinem Fall sei.
Die USA wollen Julian Assange auf der Grundlage ihres Spionagegesetzes von 1917 verurteilen. Wenn dies so erfolgt, kann Journalismus jederzeit als Spionage definiert werden. Jeder Journalist, jeder Verleger weltweit wird dadurch eingeschüchtert. Das wäre das Ende der Pressefreiheit. Deswegen ist der Fall Julian Assange für uns alle wichtig.
Am 24. Februar ist kein Schiedsspruch ergangen, das heißt, Julian Assange sitzt weiter im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh, sein Gesundheitszustand wird immer schlechter. Es ist ein Verbrechen und ein langsamer Mord.
Nach der Anhörung über das Auslieferungsverfahren von Julian Assange am 20. und 21. Februar 2024 in London gibt Moritz Müller auf den Nachdenkseiten einen lesenswerten Bericht über den Ablauf dieser Anhörung (3).