Das Leben ist ein Spiel
Die Welt um uns herum erscheint bitterernst — zumindest solange wir sie so betrachten.
Spielen ist mehr als nur eine Beschäftigung für kleine Kinder. Das Spiel ist der Urzustand des Menschen. Es ist immer selbst erwählt. Sonst ist es kein Spiel. Der Spielende lernt, sein Potenzial zu entfalten, Fantasie zu entwickeln, Emotionen zu regulieren, Eindrücke zu verarbeiten, Beziehungen zu stärken und mehr Selbstvertrauen zu bekommen. Im Spiel lernen wir uns selbst besser kennen. Wir sind im Flow. Spielen macht Spaß, und es macht glücklich. Der Spielende macht sich seine Welt so, wie sie ihm gefällt. Was, wenn das ganze Leben ein Spiel wäre?
Freiheit und Sicherheit gehören zu den menschlichen Grundbedürfnissen, die sich oft gegenseitig im Wege stehen. Wir brauchen beide, um uns zu entwickeln. Und doch neigen wir dazu, das eine dem anderen zu opfern. Oft ist es die Freiheit, die hintenangestellt wird. Für mehr Sicherheit sind viele bereit, in Lebensverhältnissen zu verharren, die sie nicht glücklich machen. Wir bleiben bei Partnern, die wir nicht mehr lieben, und in Jobs, die uns langweilen. Einen großen Teil unserer Lebenszeit verbringen wir in Umständen, die wir nicht wollen.
Wir haben uns Gesichtslappen verpassen, zu Hause einsperren und spritzen lassen, weil wir glaubten, es sei für unsere Sicherheit. Unsere Freiheit haben wir gegen „Unsere Demokratie“ eingetauscht. Selbst für den Krieg sind viele, wenn es nur um unsere Sicherheit geht. Dann bekommen wir endlich das, was wirklich hundertprozentig sicher ist: den Tod.
Wer seine Freiheit der Sicherheit opfert, hat letztlich nichts. Das Spiel ermöglicht es, beide zu erhalten. Im Spiel können wir uns gleichzeitig frei und sicher fühlen. Ein Kind, das in die Luft geworfen wird, jauchzt vor Freude in dem Vertrauen darauf, wieder aufgefangen zu werden.
Auch wenn wir als Erwachsene dieses Vertrauen verloren haben: Es wohnt uns noch inne und kann wiederbelebt werden.
Im Spiel sind wir in Balance, mit vollem Ernst dabei und doch in großer Lockerheit. Es ist ja nur ein Spiel. Fantasie und Realität reichen sich die Hand, Kontrolle und Vertrauen. Bekanntes wird durch Unbekanntes ergänzt. Dadurch sind wir in einem stabilen Zustand, der dennoch flexibel ist. Die Stabilität lässt uns sicher fühlen. Das Unbekannte erzeugt Unsicherheit, aber sorgt auch für die notwendige Spannung (1).
Perspektivwechsel
Für das Kind ist das Leben ein Spiel. Es probiert aus, fällt, steht wieder auf und fängt von vorne an. Ziel des Spiels ist es nicht, die Dinge ins Regal zu stellen und nicht mehr anzufassen, sondern sie immer wieder neu zu gestalten. Spielen macht vor allem eines: Spaß. Wir sind im Flow, ganz bei uns, ganz präsent und vergessen die Welt um uns herum. Wer spielt, richtet sich zu seiner wahren Größe auf und spürt die Magie des Möglichen.
Die ältesten bekannten Spiele sind über 5.000 Jahre alt. In unserer Kultur kommt das Wort aus dem Althochdeutschen und bedeutet Tanzbewegung. Nicht im Stechschritt schreitet der Spielende durchs Leben, sondern in leichter und tänzelnder Bewegung, die sich immer wieder den Gegebenheiten anpasst.
„Wie geht das spielerisch und leicht?“, fragt die Theologin und Professorin für praktische Theologie Sabine Bobert (2). Wie können wir das, was wir im Spiel so lieben, auf unser Leben anwenden?
Das Kind singt, wenn es in den dunklen Keller geht. Angesichts einer harten und beängstigenden Realität, von Gewalt und Unrecht und dem Mangel an Freude sei die Frage erlaubt, wie es wäre, wenn alles nur ein Spiel wäre. Wenn das, was uns als Realität präsentiert wird, von jemandem erfunden wurde, der unsere Angst braucht. Wenn die große Lüge darin bestünde, dass wir in ein Szenario hineingezogen wurden, das gar nicht echt ist. Und wenn die wahre Enthüllung darin bestünde, dass alles eben nur ein Spiel ist, in dem unsere Fähigkeiten herausgefordert sind.
Spiel ohne Grenzen
Hiermit sollen nicht das Leid minimisiert oder die Gefahr banalisiert werden. Vielmehr wird dazu eingeladen, ein wenig Abstand zu den Geschehnissen zu bekommen und einen Moment zum Beobachter zu werden. Wie wäre es, sich einmal nicht mit der Spielfigur zu identifizieren, die unseren Namen trägt? Was würden wir tun, wenn wir derjenige wären, der die Figuren im Spielraum bewegt? Wie ginge es uns, wenn wir wüssten, dass wir jederzeit wieder aus dem Spiel aussteigen können?
Würden wir dann immer noch in denselben Lebensumständen verharren, mit denselben Partnern, denselben Problemen, denselben Regeln? Oder würden wir neue Regeln erfinden oder gar ein neues Spiel? Im Spiel sind keine Grenzen gesetzt. Alles ist möglich! Wir können das Dekor wählen, die Epoche, die Spielfiguren, die Regeln, die Herausforderungen. Denn ohne Herausforderung kein Spiel.
Im Spiel des Lebens steht uns jede Rolle offen. Alles kann neu erfunden werden. Am spannendsten wird es, wenn man nicht als Nebenfigur irgendwo herumlungert, sondern als potenzieller Held das Spielfeld betritt. Nicht als eine dieser unerreichbaren Figuren, die über die Bildschirme flimmern, sondern als jemand, der es wagt, seinen Alltag zu transformieren und aus seinem Leben ein Abenteuer zu machen.
Der Königsweg
Eine Heldenreise vollzieht sich in verschiedenen Etappen. Bevor der Held den Ruf des Abenteuers hört, lebt er in einer gewöhnlichen Welt, vielleicht mit einem Partner oder in einem Job, die ihm nicht mehr gefallen. Zunächst weist er den Ruf zurück: „Das ist nichts für mich“, „ich kann das nicht“, „wenn das alle täten“. Irgendwann trifft er jemanden, der ihm zeigt, dass er über magische Kräfte verfügt. Oder er liest einen Text, in dem das steht (3).
Jetzt kann der Held seine Mission akzeptieren. Auf seinem Weg trifft er neben Verbündeten auch Gegner und Hindernisse. Auf dem Höhepunkt — der zugleich der tiefste Punkt ist — muss er sich seinem ärgsten Feind, seiner größten Angst stellen. Beim Aufeinandertreffen der gegensätzlichen Mächte wird der Held schließlich mit seinem eigenen Tod konfrontiert, zum Beispiel durch eine Krankheit, einen Unfall oder einen Verlust. Nach überstandener Prüfung erhält er seinen Lohn und tritt den Rückweg an.
Als der Held heimkommt, scheint sich nichts verändert zu haben. Die Menschen, mit denen er bisher zusammengelebt hat, sind die alten geblieben. Sie glauben immer noch, was auch er vorher glaubte, und tun immer noch, was er nicht mehr tut. So muss er lernen, sein Alltagsleben mit seinem neuen Wissen zu vereinen.
Zunächst versucht er, die anderen zu überzeugen. Doch es funktioniert nicht. Niemand will ihm Glauben schenken. Schließlich ist es seine innere Ausstrahlung, die seine Umgebung und die Menschen, denen er begegnet, verändert. Er versteht, dass er selbst die Veränderung sein muss, die er sich in seinem Leben wünscht.
Alle Heldenreisen folgen einem bestimmten Muster. Immer muss der Held verschiedene Etappen durchlaufen, um ans Ziel zu kommen. Er muss sich richtig anstrengen. Bis zum Äußersten muss er gehen, um sein Ziel zu erreichen. Die Konfrontation mit den eigenen Grenzen, durch die der Held Reinigung, Läuterung und Befreiung erfährt, wird jedes Mal wie ein kleiner Tod erlebt. Er muss sich endgültig von etwas trennen, bevor er Erfüllung finden kann.
Neues Spiel, neues Glück
Dieses Spiel können wir dem aktuellen Treiben entgegensetzen. Ja, es gibt Krieg, Zerstörung, Überwachung, Lüge. Ja, das natürliche Leben wird verbraucht und zerstört. Wir befinden uns, wie die Patriarchatskritikerin Claudia von Werlhof schreibt, in einem „Omniwar“: einem Omnizid, einem Ökozid, Genozid, Femizid und Matrizid. (4) Die aktuelle Entwicklung führt uns ins Nichts. Doch wir sind nicht dazu verdammt, diese Entwicklung mitzumachen. Wir haben die Möglichkeit, in eine andere Realität einzutreten.
Wenn man versucht, einem Kind sein Spielzeug wegzunehmen, wird es lautstark protestieren. Es wird wütend werden, mit den Füßen stampfen und anfangen zu schreien. Wenn man seinen Blick jedoch auf etwas anderes lenkt, ist das alte Spielzeug schnell vergessen.
Helden hören damit auf, sich gruseln zu lassen, und schauen in eine andere Richtung. Sie wissen, was auf dem Spiel steht, und nutzen das Potenzial, das sie zur Verfügung haben. Sie reiten den Drachen, nachdem sie sich ihm entgegengestellt haben. Denn sie wissen, dass alle Fäden ihres Lebens bei ihnen zusammenlaufen, und dass sie nur das verändern können, was sie selbst tun.
Sie beginnen ein neues Spiel, wenn das alte ihnen nicht gefällt, und fürchten nicht, ihr Leben zu verlieren. Denn in Wirklichkeit können sie es nicht verlieren. Im großen Spiel des Lebens gibt es Zyklen, Etappen, kleine und große Tode — doch kein Ende. Unendlich dehnt sich das Universum aus, in das wir hineingeboren wurden. Wie könnte das, was sich darin entwickelt, nicht ebenfalls unendlich sein?
Mit Netz und doppeltem Boden
Wir müssen nicht länger zwischen Freiheit und Sicherheit wählen, wenn wir erkennen, dass das Ende eines Spiels der Anfang eines neuen ist. „Oh, ich bin tot“, sagt das Kind, bevor es weiterspielt. Es fürchtet sich nicht, wenn es in die Luft geworfen wird. Es kreischt vor Vergnügen, wenn es fliegt, denn es weiß, dass Mutter und Vater schützend hinter ihm stehen.
Wir werden mit dem Vertrauen in das Leben geboren, das uns trägt, hält und niemals fallen lässt. Dieses Vertrauen erneut zu finden, ist das Ziel der neuen Reise des Helden. Er geht in die entgegengesetzte Richtung von der, die ihm tagtäglich vorgeflimmert wird. Keine Bildschirme, sondern seine Wahrheit, keine Hoffnungslosigkeit, sondern Zuversicht, dass er findet, was er sucht. Keine Angst vorm Tod, sondern die Gewissheit, gut aufgehoben zu sein.
Wie mag es sich anfühlen, so unterwegs zu sein? Wie lebt ein Mensch, der sich nicht mehr zwischen Sicherheit und Freiheit entscheiden muss, sondern beides gleichzeitig empfindet? Wie tänzerisch werden seine Schritte, wie froh schlägt sein Herz? Die Hindernisse, die ihm in den Weg gestellt werden, nimmt er nicht als bösartige oder sinnlose Angriffe, sondern als Gelegenheiten, sein Potenzial weiterzuentwickeln.
Wie anders ist dieses Spiel im Vergleich zu dem, was wir so lange schon ertragen! Wie anders ist ein Leben, in dem wir nicht Opfer sind, sondern in voller Verantwortung für unser eigenes Vorankommen. Ein Leben, bei dem Selbstfürsorge im Zentrum steht und nicht der Kampf gegen einen Feind oder das Warten auf einen Retter. Ein Leben, das sich nicht von Lichtblick zu Lichtblick voranschleppt, sondern Licht und Dunkel nimmt, so, wie sie kommen, spielerisch und leicht. Ein Leben, das Spaß macht.