Das Tahiti-Projekt
Die Zerstörung der Welt oder Leben im Ökoparadies? Begleiten Sie den Hamburger Spitzenjournalisten Cording auf seiner Reportagereise. Teil 22.
Eine Vorschau auf das Jahr 2022 — aufgeschrieben mehr als ein Jahrzehnt früher: Die Welt droht in einem Chaos aus natürlichen und menschengemachten Katastrophen unterzugehen. Nur auf Tahiti wächst ein neues ökologisches Paradies heran. Omai, der junge Präsident der Insel, versucht, sein Land zu beschützen. Der Hamburger Spitzenjournalist Cording lässt sich vom Idealismus Omais anstecken und wird unversehens in eine Affäre ungeheuren Ausmaßes hineingezogen. Denn die Mächtigen der Welt haben es auf die Rohstoffvorräte Tahitis abgesehen. Manova veröffentlicht jede Woche ein Kapitel aus Dirk C. Flecks visionärem und spannendem Roman. Hier finden Sie alle vorherigen Teile.
Oh nein, ohne vorherige Verabredung war Professor Rasmussen nicht zu sprechen, teilte ihm die Sekretärin im Verwaltungsbüro des Instituts mit. Sie telefonierte kurz und richtete ihm anschließend aus, dass der Professor bereit sei, ihn morgen Nachmittag um vier Uhr am Gauguin-Museum zu treffen. Vorausgesetzt, es würde ihn wieder die reizende junge Dame von neulich abholen. Sieh an!
Trotz aller Befürchtungen, die ihm am Abend noch quälend auf der Seele gelegen hatten, war Cording am nächsten Morgen frisch und ausgeruht aufgewacht. Die Wasser-Verlobung mit Maeva wirkte offenbar wie ein Jungbrunnen.
Aus Angst, den Professor warten zu lassen oder womöglich noch zu verpassen, war er viel zu früh am Treffpunkt. Also beschloss er, die Zeit für eine kurze Runde durch das Museum zu nutzen. Er betrachtete das Mädchen auf dem Wandgemälde, das sich am bloßen Rücken eines Mannes aus den Tiefen des Museums nach ihm umsah. „Trois Tahitiens“ hatte Gauguin sein Bild genannt, auf dem vor einem gelb bewölkten Himmel zwei Frauen einen Mann in ihre Mitte genommen hatten, von denen die eine sich von vorne zeigte, während die andere den Betrachter aus der Drehung ansah. Sie war Maeva nicht unähnlich. Er blickte auf die Uhr: fast vier. Also verabschiedete er sich von Gaugauins zeitlosen Grazien und ging hinunter zur Mündung des Flüsschens Teamatea, wo sich sieben Knaben und ein schüchternes, etwa neunjähriges Mädchen tummelten. Für Cording hopsten die kleinen Kerle mit Anlauf und Überschlag so lange ins Wasser, bis es ihm schwer fiel, seiner anfänglichen Begeisterung weiterhin den richtigen Ausdruck zu verleihen. Die Kinder nahmen es nicht übel, als er von ihnen abrückte und sich unter eine Kokospalme setzte, wenige Meter vom Meer entfernt.
Er sah, wie Maeva an der Seite des Professors über die Wiese gelaufen kam.
„Setzen Sie sich doch, Professor“, sagte Cording, als sie bei ihm angelangt waren. Er klopfte neben sich auf den weichen Rasen. „Das erdet. Setzen Sie sich.“
Rasmussen zog seinen Pullover aus, den er trotz der Hitze trug, und breitete ihn sorgsam auf der Wiese aus, um sich dann stöhnend darauf niederzulassen.
„Wir waren da!“, sagte Cording. „Wir haben drei Runden über Makatea gedreht. Was soll ich Ihnen sagen: von Ihrem Hebetanker keine Spur.“
„Natürlich, Sie konnten sie auch nicht sehen! Ich habe gehört, dass sie einen holografischen Schutzschild benutzen, unter dem sie sich verstecken. Hatte schon versucht, mit Ihnen Kontakt aufzunehmen, um Ihnen das zu sagen, aber ich wusste ja nicht, wie ich Sie erreichen konnte. Holografie, Sie verstehen. Ist nicht einmal per Satellitenüberwachung auszumachen, aber sie sind da, ich schwör’s.“
Maeva hatte an der Dockstation für Autos in der Nähe des Museums Stellung bezogen. Rasmussen hatte darauf bestanden, dass sie ihm alle verdächtigen Bewegungen meldete. Trotzdem schien er dem Frieden nicht zu trauen, denn er blickte sich ein ums andere Mal irritiert nach ihr um.
„Sie sind da“, wiederholte er heiser.
Cording glaubte dem Professor, vielleicht auch nur deshalb, weil er daran glauben wollte. Ihm war nur noch nicht klar, wie man der ungeheuerlichen Wahrheit auf die Spur kommen konnte.
Drei Tage war es her, als plötzlich dieses Flugzeug am Himmel erschienen war. An Bord der „South Pacific“ setzten sich die Diskussionen darüber, wie der Zwischenfall zu behandeln sei, unvermindert fort. Zwar hatte man die Angelegenheit nach Dallas gemeldet, eine Reaktion aber war bisher nicht erfolgt. Bill Murray, der Verantwortliche für das elektronische Überwachungssystem, saß in seinem Leitstand im Maschinenkontrollraum und schaute sich zum wiederholten Male die Radar- und Videoaufzeichnungen an. Sein Eindruck war, dass man auf der Brücke dazu neigte, die Sache herunterzuspielen — ein schwerer Fehler, wie er glaubte.
Der Computer konnte den Flugzeugtyp nicht zuordnen. Bei dem Hoheitszeichen am Rumpf handelte es sich aber eindeutig um das Staatswappen Polynesiens. Gesehen haben konnten die von dort oben nichts, der Holoschirm war während der drei ominösen Umrundungen intakt gewesen. Dennoch: um einen Vergnügungsausflug hatte es sich sicher nicht gehandelt. Dazu war die Maschine zu lange und zu gezielt um die Insel gekreist. Das nächste Mal würde er die Hubschrauber hochschicken, notfalls musste man die ungebetenen Gäste eben abschießen.
Sie hatten das Lasernetz auf der Insel ausschalten müssen. Es war wertlos, weil zu viele Seevögel auf Makatea nisteten, die sich in dem feinnervigen Bewegungsmelder verfingen und die Wachmannschaft unnötig auf Trab hielten. Doch ein Angriff von Land war sowieso unwahrscheinlich, denn dazu hätten die Angreifer zuerst die Küste erreichen müssen, und die hatten sie auf ihren Schirmen im Umkreis von zwanzig Seemeilen sicher im Griff.
Einundzwanzig Uhr. Agent William Sledge erschien zur Wachablösung.
„Wecken Sie mich, wenn Ihnen etwas verdächtig vorkommt“, sagte Murray. „Egal was es ist, sofort wecken, ist das klar?“
„Ja, Sir“, antwortete Sledge, der aufpassen musste, dass sich nicht eines Tages ein Bürstenfabrikant für seine Brauen interessierte.
Murray ließ seinen Blick über das zehn Meter breite Kontrollpult gleiten, während er Richtung Ausgang schritt. Die 270 Messstellen bildeten eine Orgie aus digitalen Zahlen, beweglichen Zeigern und blinkenden Leuchtzeichen. Wer hier einmal gestanden hatte, musste der modernen Seefahrt mindestens den gleichen Grad an Romantik zubilligen wie der Raumfahrt.
Gegen vier Uhr morgens ortete das Radar zwei Objekte, die sich vor der Südküste Richtung Westen entfernten. Agent Sledge, der in seinem Drehsessel vor den Monitoren die Augen nicht mehr aufhalten konnte vor lauter Müdigkeit, bekam davon nichts mit. Wenige Minuten später raffte er sich auf, um sich am Automaten einen Kaffee zu ziehen. Einen Blick auf den Schirm warf er nicht. In einer Stunde würde er abgelöst werden, dann ging es endlich ab ins Bett.
Zehn bis fünfzehn kräftige Paddelschläge genügten, um die sechssitzige Piroge aus dem Wasser zu heben. Die Männer der tahitianischen Spezialeinheit, die im Schutze der Dunkelheit der südlichen Steilküste Makateas entgegensteuerten, hatten keine Mühe, ihr sensibles High-Tech-Gerät* in Balance zu halten. Im Gegensatz zu den traditionellen Ausleger-Kanus kam es in diesem Boot darauf an, die Paddel tiefer und senkrechter zu stechen als für gewöhnlich. An der Unterseite des Rumpfes waren zwei wie Tragflächen geformte Flügel montiert, welche die Piroge bei zügiger Fahrt bis zu dreißig Zentimeter in die Luft hoben, wodurch der Widerstand der Wellen erheblich gemindert wurde. Vierzig Stundenkilometer konnte eine geübte, synchron arbeitende Crew bei ruhiger See erreichen.
Die Lichter der beiden Fischerboote, von denen sie sich vor wenigen Minuten abgeseilt hatten, waren kaum noch auszumachen. Rudolf, der das Kommando führte und als Schlagmann im Boot saß, war sicher, dass sie ihr Ziel noch vor Sonnenaufgang erreichen würden. Seine einzige Sorge galt der Strömung, die sie weitab des angepeilten Landungspunktes an Land zu tragen drohte. Um auf das Plateau zu gelangen, mussten sie die brachliegenden Förderbänder vor der Geisterstadt Temao nutzen, wo einst die Phosphatfrachter auf Reede gelegen hatten. An einer anderen Stelle war die Steilküste nicht zu bezwingen.
Bill Murray duschte, stieg die Treppen hinunter an Deck und gönnte sich einen Spaziergang zum Vorschiff, um den Sonnenaufgang zu beobachten. Aber noch bevor der rote Feuerball über den Horizont geklettert war, ging er zurück ins Deckhaus, um einen Blick auf die Monitore und Instrumente zu werfen.
„Gab’s irgendwas Besonderes?“, fragte er.
„Nichts, Sir“, antwortete Agent Sledge, der froh war, dass er noch rechtzeitig aus dem Dämmerzustand erwacht war.
Murray setzte den Pappbecher mit dem Kaffee ab, den Sledge ihm gereicht hatte und beugte sich über den Radarschirm.
„Was hat das da zu bedeuten?“
Er zeigte auf einen winzigen Punkt unweit der Südküste, der gerade im Begriff war, den radarüberwachten Bereich zu verlassen.
„Keine Ahnung, Sir. Ein Delphin, Treibgut vielleicht ...?“
„Wie lange ist dieses Objekt schon registriert?“
„Nicht lange, Sir. Um ehrlich zu sein, sehe ich es jetzt zum ersten Mal!“, gab Slegde kleinlaut zurück.
Murray griff zum Funkgerät. Wenn er sich auf eines verlassen konnte, dann war es sein Instinkt.
„Zodiac ablassen“, befahl er, „Planquadrat B7. Beeilt euch!“ Dann sah er Sledge an. „Sollte da irgendetwas im Busch sein“, zischte er, „mache ich Sie persönlich dafür verantwortlich!“
Rudolfs Männer zerrten die Piroge unter einen Felsvorsprung, der sich unterhalb der stählernen Konstruktion befand, die sie gleich erklimmen würden. Das Förderband war an vielen Stellen porös geworden, sie mussten sich an den seitlichen Streben entlang hangeln, wenn sie nicht einbrechen und in die Tiefe stürzen wollten. Zum Glück war es inzwischen hell genug, um diesen gefährlichen Balanceakt zu wagen.
Der Aufstieg gestaltete sich langwieriger als erwartet. Sie waren nur noch wenige Meter vom Klippenkamm entfernt, als sich ihnen von Westen her ein Gummiboot in rasender Fahrt näherte. Bei jeder Welle warf es die Schnauze wütend nach oben, als stimme es einen Schlachtgesang an.
Die Tahitianer standen für einen Moment wie paralysiert auf den steil ansteigenden Schwellen der alten Drahtseilbahn. Rudolf kam als erster wieder zu sich und trieb die anderen zur Eile an. Kurz nachdem sie das Plateau erreicht hatten, glitt unter ihnen das Zodiac an Land. Acht schwarz gekleidete Männer sprangen heraus und verteilten sich über den Strand, die Maschinenpistolen im Anschlag.
Wenn sie die Piroge finden, sind wir geliefert, fuhr es Rudolf durch den Kopf. Das Boot hatten sie nicht entdeckt, aber abschütteln ließen sie sich dadurch nicht. Jetzt begannen die Verfolger das Förderband zu besteigen! Dabei gingen sie erstaunlich gewandt vor. Rudolf gab das Zeichen zum Aufbruch. Sie mussten unbedingt das Gelände aus dem Tagebau erreichen. In den zerklüfteten, bis zu zehn Meter tiefen Phosphatkratern würden sie vor den Verfolgern sicher sein.
Über eine Stunde lang hockten sie in ihren weit verstreuten Verstecken, immer in Angst, das sich ihnen aus heiterem Himmel der Lauf einer Maschinenpistole entgegenstreckte. Sie wagten sich nicht, sich zu rühren, erst recht nicht, als sie plötzlich das Geräusch zweier Hubschrauber vernahmen, die das Plateau systematisch abzusuchen schienen.
Nach einer quälend langen Zeit, machten sich endlich wieder die Seevögel bemerkbar, die unter den Lärmschleppen der Helikopter lange Zeit verstummt waren. Rudolf wartete eine weitere halbe Stunde, dann entschloss er sich, einen Kundschafter an die Steilküste zu schicken. Er sollte nachsehen, ob sich das Zodiac noch am Strand befand. Der Mann kam nach kurzer Zeit zurück und meldete, das die Luft rein war. Das Zodiac war verschwunden.
Cording hatte also recht, sie waren hier. Rudolf warf einen Blick auf die Karte. Hundert Meter entfernt verlief die Trasse der ehemaligen Schmalspurbahn, mit der das abgebaute Phosphat zur Verladestation Temao verfrachtet worden war. Wenn sie ihr folgten, würden sie zu einer aufgegebenen Straße gelangen, die sie in die Nähe der Bucht führte, in der der Tanker vor Anker liegen sollte.
Die hölzernen Schwellen der ehemaligen Bahntrasse waren erstaunlich gut erhalten, die einzige Schwierigkeit war, sie unter dem wuchernden Gestrüpp auszumachen. Einige Krieger balancierten deshalb lieber auf den ramponierten Schienen, die von der Tropensonne aus der Verankerung gesprengt worden waren und sich in Schlangenlinien über die Ebene wanden. Bis zu ihrem Ziel waren es etwa drei Kilometer, von denen die letzten beiden relativ einfach zu bewältigen waren, da sie hier wieder festen Boden unter die Füße bekamen. Die letzten fünfzig Meter bis zum Abhang legten sie kriechend zurück.
Als sie sich an die Steilküste heran gerobbt hatten, blickten sie zu ihrer Überraschung auf nichts als den sich friedlich wiegenden Ozean. Keine Spur von einem Schiff. War das die richtige Stelle? Rudolf überlegte, wie lange es wohl dauern würde, bis sie die Insel zu Fuß umrundet hatten. Plötzlich tauchte das Zodiac am Horizont auf. Es hielt direkt auf die Bucht zu. Dreihundert Meter vor der Küste verschwand es plötzlich von der Bildfläche, einfach so, als sei es schlagartig im Meer versunken. Aber auf dem Wasser zeigten sich keinerlei Spuren eines Untergangs. Sollte die futuristisch anmutende Geschichte von dem schützenden Holoschirm, den der dänische Professor erwähnt hatte, am Ende wahr sein?
Rudolf stellte den Rucksack ab und bereitete sich für die Kletteraktion vor. Falls es den Schirm tatsächlich gab, musste er sich bis unter das Niveau der Projektionsfläche abseilen. Er stieg in das mitgeführte Gurtgeschirr, zog die Halteleine durch die dafür vorgesehenen Stahlschließen und übergab sie seinen Männern, die ihn nun vorsichtig herunterließen. Nach zwanzig Metern gab er ihnen durch zweimaliges Ziehen an der Sicherheitsleine zu verstehen, dass sie einhalten sollten.
Er hing in der Wand und traute seinen Augen nicht. Keine hundert Meter entfernt ankerte das von Rasmussen beschriebene Monstrum im Meer, an dessen Rumpf sich das Zodiac unter einem Fallreep scheuerte, wie ein Moskito am Bauch eines Wasserbüffels. Rudolf langte nach der Digitalkamera in seiner Brusttasche. Es war nicht einfach, die gespenstische Szene aus seiner schwankenden Position in den Focus zu holen, während er jede Sekunde, die er hier hängen blieb, fürchten musste, entdeckt zu werden. Schließlich gelang es ihm, mit den Füßen in der Wand Halt zu finden. Er fotografierte das schwarze Ungetüm so gut es eben ging, zoomte an Deck, zoomte auf die Helikopter, die Aufbauten, zoomte aufs Zodiac, zoomte auf den Namenszug am Bug. Menschen sah er nicht an Bord. Stattdessen erblickte er über sich einen Himmel aus rauschenden Wellen, als sei er es selbst, der auf mysteriöse Weise abgesoffen war. Anhand dieser Doppelspiegelung konnte man vom Schiff aus erkennen, ob das holografische System intakt war.
Er zerrte dreimal kräftig an der Leine und wurde eingeholt. Als sein Kopf die Projektionsfläche des Hologramms durchstieß, schnappte er unwillkürlich nach Luft, als sei er soeben vor dem Ertrinken gerettet worden.
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