Das Tahiti-Projekt
Die Zerstörung der Welt oder Leben im Ökoparadies? Begleiten Sie den Hamburger Spitzenjournalisten Cording auf seiner Reportagereise. Teil 23.
Eine Vorschau auf das Jahr 2022 — aufgeschrieben mehr als ein Jahrzehnt früher: Die Welt droht in einem Chaos aus natürlichen und menschengemachten Katastrophen unterzugehen. Nur auf Tahiti wächst ein neues ökologisches Paradies heran. Omai, der junge Präsident der Insel, versucht, sein Land zu beschützen. Der Hamburger Spitzenjournalist Cording lässt sich vom Idealismus Omais anstecken und wird unversehens in eine Affäre ungeheuren Ausmaßes hineingezogen. Denn die Mächtigen der Welt haben es auf die Rohstoffvorräte Tahitis abgesehen. Manova veröffentlicht jede Woche ein Kapitel aus Dirk C. Flecks visionärem und spannendem Roman. Hier finden Sie alle vorherigen Teile.
Omai hatte sich beim Betrachten der Fotos bisher mit keinem Wort geäußert. Er rief eines nach dem anderen auf und seine Augen starrten auf den Bildschirm, als gelte es, das Menetekel zu verinnerlichen, welches da so plötzlich an die Wand gemalt worden war.
Cording kam sich wie ein Zwitter vor, wie ein Wanderer zwischen zwei Welten, dem auf Tahiti Flügel gewachsen waren, während diese skrupellosen Eindringlinge aus dem Reich der Gier seine Füße in einen Betonblock zu gießen schienen. Lähmendes Entsetzen und Scham — das war es, was er in diesem Moment vor seinen tahitianischen Freunden empfand.
„Gute Arbeit, Rudolf“, bemerkte Omai nach einer Weile und legte seinem Leibwächter den Arm um die Schulter.
Sie blickten in den Innenhof des Präsidentenpalastes, als verlangten sie den flammenden, sich im Winde wiegenden Hibiskusblüten eine Antwort ab. Ihr Schweigen und die ihm zugekehrten Rücken irritierten Cording. Er hatte Angst, dass er für diese Menschen letztlich auch nur der Vertreter eines machtgeilen, zerstörerischen Systems sein könnte.
„Maeva und der Professor müssten jeden Augenblick hier sein“, beeilte er sich zu sagen. „Dann sollten wir gemeinsam überlegen, was zu tun ist.“
Omai kramte die aktuelle Ausgabe von Paris Match aus der Schublade seines Schreibtisches und reichte sie Cording. „GOTTES ÖKO-GARTEN“, Titelgeschichte, zwölf Seiten. Cording verzichtete auf die Lektüre und sah stattdessen den Präsidenten an, der seinen Blick standhaft erwiderte. Das freundliche Glimmen in den Augen seines Freundes war jedoch erloschen.
In diesem Moment betrat Maeva in Begleitung von Professor Engelhardt das Zimmer.
„Thorwald Rasmussen ist verschwunden“, sagte sie und setzte sich auf die Couch.
„Jedenfalls hat ihn seit gestern niemand mehr gesehen im Institut“, ergänzte Engelhardt. „Komisch, der Kollege ging nie alleine aus dem Haus. Er war ein wenig, wie soll ich sagen ... paranoid. Ja, das war er. Seine Sachen sind alle noch da ... Ich versteh das nicht ...“
Cording hatte das Gefühl, als würde man ihm die Luft abschnüren. Wenn sie Rasmussen hatten, würden sie auch ihn bald kriegen! Die Spur führte eindeutig zu ihm, so blöd waren sie nicht. Doch anstatt in seinem Schrecken zu erstarren, fühlte er sich plötzlich herausgefordert.
Engelhardt war die eigenartige Stimmung in Omais Büro nicht verborgen geblieben. Er erkundigte sich vorsichtig nach den Hintergründen. Omai lud ihn ein, einen Blick auf Rudolfs Bilderbeute zu werfen und erklärte ihm über die Schulter hinweg, was diese Zeugnisse zu bedeuten hatten. Dem deutschen Wissenschaftler erging es ähnlich, wie es Cording zuvor ergangen war: er schämte sich.
„Erinnerst du dich, was du mir auf Moorea gesagt hast?“, fragte Cording Omai. „Am Marae, ich weiß es noch wie heute. Ich sagte dir, dass ich euch nicht helfen kann, da meine Redaktion einen Negativbericht über das Tahiti-Projekt erwartet. ‚Du wirst uns helfen’, hast du geantwortet. Erinnerst du dich?“
Omai lächelte.
„Du hattest Recht“, sagte Cording. „Ich werde euch helfen. Ich kann die Sauerei publik machen. Wir hatten sie doch alle gerade hier, die Vertreter der Weltpresse, wir haben uns doch gut miteinander bekannt gemacht. Bessere Kontakte gibt es nicht. Ich organisiere das. Da wäre nur ein Problem: Meine Aufenthaltsgenehmigung läuft ab.“
Omai antwortete nicht. Er wusste um die Schwierigkeit, eine Ausnahmegenehmigung zu erwirken. Er entschied das nicht allein, er musste das Parlament um Einverständnis bitten, und es gab einige unter seinen Mitstreitern, die in dieser Angelegenheit nicht mit sich spaßen ließen, erst recht nicht, wenn sie Günstlingswirtschaft witterten.
„Du könntest ihn doch zum Sonderminister ernennen“, sagte Maeva in die entstandene Stille hinein. „Zum Sonderminister auf Zeit. Das sehen die Statuten vor.“
„Maeva“, entgegnete Omai lachend, „wenn wir dich nicht hätten ... Natürlich ist der Vorschlag total uneigennützig, nicht wahr?“
Maeva errötete. Cording auch.
„Da wäre noch etwas“, sagte er zögernd, „ich würde gerne mit Steve zusammen arbeiten. Der Junge ist ein Virtuose im Umgang mit dem Internet. Er könnte für uns von großem Nutzen sein. Ohne das Internet kommen wir nicht weit, wenn wir Erfolg haben wollen ...“
Omai zwinkerte ihm kurz zu.
„Also werde ich wohl zwei Ausnahmegenehmigungen beantragen müssen, richtig?“
Cording nickte. Professor Engelhardt verabschiedete sich. Sie kamen überein, dass er sie sofort informieren würde, sobald es Neuigkeiten über den Verbleib des Professors gab.
Bei der Londoner Telefonnummer, die ihm Steve hinterlassen hatte, ging keiner ran, einen Anrufbeantworter gab es auch nicht. Cording versuchte es den ganzen Tag über, aber ohne Erfolg. Gegen Mitternacht versuchte er es erneut. Wenn nötig, würde er es bis zum Morgen klingeln lassen. Er stellte den Lautsprecher des Telefons ein und legte sich aufs Bett.
„Hallo?“
Damit hatte er nicht gerechnet. Cording kam nicht so schnell von der Matratze, wie es erforderlich gewesen wäre. Als er den Hörer ans Ohr setzte, war nur noch das Freizeichen zu hören. Also noch einmal.
„Hallo ...?! Wer ist denn da?!“
„Tahiti! Fenua ma! Mein Gott, bin ich froh, dich zu hören, mein Junge!“
„He, Mann! Das ist ja ne Überraschung ...“
„Wie geht es dir, Steve?“
„Na ja ... Geht so. Fara hat mir geschrieben, die Jungs auch. Bestell ihnen, dass ich so schnell wie möglich antworten werde.“
„Hör mal, Steve“, sagte Cording, „ich möchte, dass du nach Tahiti kommst. Lässt sich das einrichten?“
„Machst du Witze?“
„Nein, nein, das ist überaus ernst gemeint. Ich brauche dich hier.“
„Was ist passiert? Ich dachte, du kommst am Sonnabend nach London.“
„Das dachte ich auch — bis gestern. Jetzt bleibe ich hier, und ich brauche niemand dringender als dich.“
„Aber warum?“
„Das kann ich dir am Telefon nicht erklären. Vertrau mir einfach. Wenn du in London irgendwie entbehrlich bist, setz deinen Hintern in den Flieger und komm her. Wir holen dich in Auckland ab. Mach schon.“
Steve reagierte nicht.
„Es ist verdammt wichtig, dass du kommst“, wiederholte Cording fast flehentlich.
„Na, wenn das so ist ..“, gab Steve lachend zur Antwort, „dann mach ich mich hier mal aus dem Staub. Die Flugdaten schicke ich Anapa ins Hotel.“
„Danke, mein Freund, danke.“
Cording, der von Omai in wenigen Stunden zum Informationsminister auf Zeit ernannt werden sollte, hatte den idealen Mitstreiter für die vor ihm liegenden Aufgaben gewonnen, dessen war er sich sicher.
Nach dem Frühstück zitierte Kapitän Willis NSA-Agent Agnew in seine Kajüte. Agnew und drei weitere Mitarbeiter der Nationalen Sicherheit hatten seit einer Woche Gastrecht auf der „South Pacific“, erteilt von Robert McEwen persönlich.
„Was ist das für ein Mann, den Sie in Ihrer Unterkunft versteckt halten?“, fragte Willis ohne Umschweife.
„Sir?“
„Ich meine den Mann, den Sie vor drei Tagen nachts an Bord gebracht haben. Wer ist das?“
„Bei allem Respekt, Capt’n, aber das geht Sie nichts an.“
„Einige meiner Leute“, fuhr Willis unbeirrt fort, „wollen auf dem Flur des öfteren ein lautes Stöhnen vernommen haben. Als würde jemand gefoltert. Ist das so?“
„Mit Verlaub, Sir: auch das geht Sie nichts an.“
„Ist das so, Agent Agnew?!“, wiederholte Willis scharf.
„Dazu darf ich mich nicht äußern, Sir.“
„Ich möchte den Mann sehen“, verlangte Willis.
„Das geht nicht, es ist gegen die Bestimmungen.“
Willis blickte seinem Gegenüber lange in die Augen, bevor er antwortete.
„Dies ist mein Schiff, Agent Agnew“, sagte er schließlich, „hier führe ich das Kommando. Ich bin es, der auf der ‚South Pacific’ die Befehlsgewalt hat. Haben Sie das verstanden?“
Agnew, der es nicht gewohnt war, dass man so mit ihm redete, biss die Zähne zusammen.
„Der Mann ist ein gefährlicher Terrorist, Capt’n“, antwortete er. „Wir sind dafür ausgebildet worden, mit solchen Leuten effektiv umzugehen.“
„Bringen Sie mich zu ihm.“
„Das werde ich nicht tun“, sagte Agnew.
„Dann verlassen Sie auf der Stelle mein Schiff. Sie, Ihre Leute und der sogenannte Terrorist ...“
„Keine Angst, Capt’n, das hatten wir ohnehin vor. Wir verbringen den Gefangenen auf den Ming-Pelikan, der heute Mittag Richtung L.A. startet.“
Kapitän Willis blickte an dem Mann vorbei auf die offene See. Es war gefoltert worden auf seinem Schiff und er hatte es nicht verhindern können. Zwei Stunden später beobachtete er, wie eine jämmerlich gebückte Gestalt in einem viel zu langen Trenchcoat von Bord geschafft wurde. Es war klar, was Agnew gemeint hatte, als er davon sprach, dass sie dafür ausgebildet worden waren, mit Gefangenen effektiv umzugehen ...
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