Den Schatten integrieren

Im Rubikon-Mutmachgespräch erläutert die Philosophin Sylvie-Sophie Schindler, dass wir nur wachsen können, wenn wir unsere unliebsamen Eigenschaften nicht länger auf andere projizieren.

„Wenn der Feind bekannt ist, hat der Tag Struktur“, sagte der Kabarettist Volker Pispers. Mit der Realität hat diese Struktur allerdings herzlich wenig zu tun. Feindbilder wiegen einen in dem Gefühl, dass stets „die anderen“ die Bösen, Falschen und Amoralischen sind. Alle, nur man selber nicht. Im Rubikon-Mutmachgespräch bricht die pädagogisch ausgebildete Journalistin und Philosophin Sylvie-Sophie Schindler mit diesen Denkmustern und legt dar, inwieweit unsere Feindbilder etwas spiegeln, was wir an uns selbst nicht wahrhaben wollen. Solange wir als Individuen und die Gesellschaft als Ganzes diese Schattenseite nur projizieren, anstatt sie in uns selbst aufzuspüren und letztlich anzunehmen, kann es kein Wachstum geben.

Die „Woke-Religion“ oder die Cancel-Culture — beide Phänomene sind Ausdruck eines sturen Wegdrückens dessen, was eine Gesellschaft bei sich selbst nicht sehen möchte. Die Schattenseiten werden dann etikettiert mit Labels wie „Nazi“, „Rechts“, „Verschwörungsmystiker“ und schlimmeres. Die Frage lautet, so führt Sylvie-Sophie Schindler im Mutmach-Gespräch aus, wo der „Nazi-Anteil“ oder ähnliches bei diesen Menschen selbst sitzt. Und umgekehrt müssten etwa auch Kritiker der Woke-Bewegung und der Klimakleber sich selbst fragen, inwieweit ihnen Anteile jener Menschen innewohnen, die sie kritisieren.

Als aufgeweckte und gläubige Lebenskünstlerin geht Schindler mit gutem Beispiel voran. Im Mutmach-Gespräch berichtet sie, wie sie offen zu ihren eigenen Schattenseiten steht, durch die Annahme selbiger in die eigene Ganzheit und damit in die Selbstliebe kam, die sie unabhängig werden ließ von dem Geliebt-werden durch Dritte. Das bei Sich-Sein ermöglicht es ihr, ihre dunklen Anteile bei sich zu lassen, ohne diese auf andere projizieren zu müssen. Mit dieser Geisteshaltung erübrigen sich selbstredend alle Feindbilder, auch die Angst vor einer Kontaktschuld verschwindet.

Schindler verkörpert einen Spirit des entgrenzten Freidenkens, welches konträr zu den engmaschigen Denkmustern der heutigen Zeit steht, in denen das Denken auf Sparflamme rein binär zwischen „Gut und Böse“, „Links und Rechts“ oder „Nazi oder kein Nazi“ oszilliert. Das neue Mutmach-Gespräch ist eine Einladung, gedanklich wie emotional quasi in einer Panorama-Perspektive über den eigenen Horizont hinauszublicken.


Friederike de Bruin im Gespräch mit Slyvie-Sophie Schindler