Den Wahnsinn in Betracht ziehen
Ein Papier der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik stellt offen die Möglichkeit eines nuklearen Erstschlags durch die NATO auf russisches Gebiet zur Diskussion.
Die Politikempfehlungen deutscher Thinktanks sind in erster Linie einmal Empfehlungen, keine offiziellen Planungen von Regierung und Militär. So zumindest hofft man inständig bei der Lektüre eines „Policy Briefs“ der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, das den Titel „Grundlagen einer neuen Nuklearstrategie der NATO — Lehren aus dem Kalten Krieg“ trägt. Wen das schon schlucken lässt, der wird vom Inhalt des Strategiepapiers nicht enttäuscht. Der Politikwissenschaftler Dr. Karl-Heinz Kamp bespricht den Einsatz von Nuklearwaffen nicht mit der gewohnt distanzierten Ehrfurcht vor den Konsequenzen eines solchen Ereignisses, sondern als praktische Option europäischer Außenpolitik. Sowohl den Abwurf über bewohntem Gebiet als auch einen Erstschlag durch die NATO stellt Kamp als zu diskutierende Möglichkeit in den Raum. Dass solche Dinge in einem der größten transatlantischen Thinktanks Deutschlands sagbar sind, lässt vermuten, dass hinter verschlossenen Türen ein beachtliches Maß an Eskalation in Betracht gezogen wird.
„Do not go gentle into that good night, Old age should burn and rave at close of day“
„Geh nicht sanft in diese gute Nacht, das Alter soll brennen und toben am Ende des Tages“
– Dylan Thomas
Einführung: Die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP)
Think Tanks – wörtlich übersetzt: Denkpanzer – bewegen sich an der Schnittstelle von Militärs, Regierungen und Privatwirtschaft. Weil sie im Hintergrund bleiben, ist ihr Einfluss auf die politische Entscheidungsfindung oftmals undurchsichtig. Die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) – im Ausland bekannt als German Council on Foreign Relations – ist ein Paradebeispiel für eine Institution, die die deutsche Außenpolitik seit ihrer Gründung 1955 maßgeblich prägt, dabei selbst jedoch höchstens am Rande in Erscheinung tritt. Schauen wir uns an, wer hinter dieser Denkfabrik steht.
Aktueller Präsident der DGAP ist Thomas Enders, ehemaliger Chief Executive Officer (CEO) des Rüstungs- und Luftfahrtkonzerns Airbus. Ab November übernimmt er außerdem den Vorsitz des Verwaltungsrats des deutsch-französischen Panzerprojekts der Firma KNDS.(1) Vorstand und Präsidium des Think Tanks zeigen, dass wir es mit einer typisch transatlantischen Institution zu tun haben. Viele der beteiligten Personen haben ihre Ausbildung entweder direkt in den USA oder an einer der zahlreichen in Deutschland ansässigen Denkfabriken mit US-Bezug (German Marshall Fund, Atlantik-Brücke und ähnlichen Einrichtungen) absolviert. Im Präsidium finden wir beispielsweise Stefanie Babst, ehemalige Leiterin des strategischen Planungsstabs der NATO, neben Wolfgang Ischinger (ehemaliger Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz), Annegret Kramp-Karrenbauer und Norbert Röttgen, aber auch Gregor Gysi. Beachtlich ist außerdem die Mitgliedschaft des deutschen Außenministers Johann Wadephul. (2)
Die DGAP fungiert als Sammelbecken aktueller und ehemaliger Größen aus Wirtschaft, Militär und Politik, um strategische Entscheidungen der deutschen Außenpolitik zu entwickeln, koordinieren und umzusetzen. Die gleichzeitige Präsenz des amtierenden deutschen Außenministers Wadephul mit einstigen NATO-Strategen wie Babst garantiert eine reibungslose Abwicklung langfristiger Projekte über Legislaturperioden und Parteigrenzen hinweg.
Die Opazität (Undurchsichtigkeit) solcher Institutionen ist beabsichtigt. Oft werden sie als Nichtregierungsorganisationen bezeichnet, obwohl sie direkt von der Regierung bezahlt werden – so die DGAP im Jahre 2024 mit mehr als 250.000 Euro jeweils vom Auswärtigen Amt und vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit.
Als weitere Finanziers werden unter anderem genannt: die Bill and Melinda Gates Foundation (> 250.000 Euro), die Open Society Foundation von George Soros (> 250.000 Euro), die Europäische Investitionsbank (< 25.000 Euro) und die NATO (< 25.000 Euro). (3)
Ein Blick in den Förderkreis des eingetragenen Vereins rundet das Bild ab: Rüstungsunternehmen (Airbus, Helsing, Lockheed Martin, Rolls-Royce) reichen Banken (Deutsche Bank, Goldman Sachs, Perella Weinberg), Autokonzernen (VW, BMW, Mercedes), sowie dem Tabakkonzern Philip Morris, Pepsico und Google die Hand. (4) (Die Auflistung ist nicht vollständig.)
Wir haben es bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik mit dem zu tun, was man ein Konsortium nennt – einem „vorübergehenden Zusammenschluss eigenständiger Institutionen zur Realisierung eines gemeinsamen Projekts“. (5) Wenn wir uns im Folgenden das „Policy Brief“ – eine politische Handlungsempfehlung – eines Autors der DGAP ansehen, sollten wir diese institutionellen Verflechtungen im Hinterkopf behalten.
Zeitenwende – jetzt auch nuklear
Der Politikwissenschaftler Karl-Heinz Kamp, der schon Anfang 2025 für eine „nukleare Zeitenwende“ plädiert hatte (1), meldete sich Ende Oktober erneut zu Wort. Sein Dokument „Grundlagen einer neuen Nuklearstrategie der NATO“2 lässt durchblicken, welche Szenarien auf Seiten der NATO-Militärs derzeit diskutiert werden. Diese basieren offenbar auf Erkenntnissen, die sich seit dem Kalten Krieg – bereits im Untertitel des Papiers genannt – kaum geändert haben.
Kamp ist in den transatlantischen Netzwerken kein Unbekannter. „Von 2007 bis 2013 war Karl-Heinz Kamp Forschungsdirektor am NATO Defense College in Rom.“ Anschließend (2015 bis 2019) fungierte er als Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik (BAKS) und bis 2023 als Berater des Bundesministeriums der Verteidigung. (8)
Bevor wir zu den Aussagen Kamps kommen, soll auf die Rolle des geteilten Deutschlands im ehemaligen Ost-West-Konflikt unter dem Gesichtspunkt der Atomwaffen eingegangen werden. BRD und DDR waren im Kalten Krieg gleichermaßen nukleare Frontstaaten.
Nach Gründung der Bundeswehr und deren Integration in die NATO 1955 – dem Gründungsjahr der DGAP – folgten die strategischen Planungen des Westens dem Paradigma der sogenannten „Vorwärtsverteidigung“. Damit gemeint war der Anspruch, einen sowjetischen Angriff soweit wie möglich im Osten abzuwehren. Für Westdeutschland bedeutete dies, im Falle eines sowjetischen Überfalls nuklear bombardiert zu werden – von den eigenen NATO-Partnern, auf Befehl der USA und Großbritanniens.
Der Militärhistoriker Dieter Krüger schreibt dazu:
„Nach ersten Zielabsprachen zwischen amerikanischen NATO-Offizieren und dem amerikanischen Strategic Air Command seit 1951 begann das Bündnis seit 1953 darüber nachzudenken, wie mit dem Einsatz von bis zu 1.000 taktischen Atomsprengköpfen eine sowjetische Offensive womöglich schon an der Elbe aufzuhalten sei. (…)
Ende 1955 wurde der Atomic Strike Plan vollständig überarbeitet. (…) Im Fall eines Überraschungsangriffs wären 66 Ziele auf dem Boden der DDR und sogar grenznahe Ziele auf westdeutschem Boden bombardiert worden. Sofern dem Angriff ein Truppenaufmarsch vorausging, erhöhte sich die Anzahl der Ziele entsprechend. Angesichts des Einsatzes von Sprengköpfen mit einer Sprengkraft von 2 bis 750 KT und eines fallweise mehrfachen Angriffs einzelner Ziele wird die atomare Verwüstung vorstellbar, die, je länger desto sicherer, nicht auf Ostdeutschland und Osteuropa beschränkt geblieben wäre.“ (9)
Die ehemaligen Bundeskanzler der BRD standen vor dem Dilemma, die eigene Bevölkerung als eine Art Faustpfand gegen einen sowjetischen Angriff einsetzen zu müssen: Im Falle eines Angriffs beruhte die nukleare Abschreckung darauf, die Vernichtung großer Teile Deutschlands zu akzeptieren, um einen weiteren Vormarsch zu verhindern.
Die Entscheidung darüber traf letztlich allein der US-Präsident, gemeinsam mit dem Supreme Allied Commander Europe (SACEUR). Diese Position existiert bis heute: Sie ist dem US-General vorbehalten, der im Falle eines Konflikts mit NATO-Beteiligung auf europäischem Boden den militärischen Oberbefehl hat – aktuell ein Herr mit bezeichnend russisch klingendem Namen: Alexus G. Grynkewich. (10)
Nutzlose Konsultationen damals …
Die nicht-nuklearen NATO-Staaten, also auch Deutschland, wären im Kalten Krieg bestenfalls über einen bevorstehenden Nukleareinsatz informiert worden – „if time permitted“, wenn die Zeit es erlaubt. (11) Zwar forderte der kanadische Außenminister 1954 noch ernsthaft „No annihilation without consultation“ – keine Auslöschung ohne Konsultation –, war mit diesem Vorstoß jedoch ähnlich erfolgreich wie ein Schwein vor der Schlachtbank. (12) Der britische Journalist Nigel Calder beschrieb 1979 die Praxis der 'Konsultation':
„Alle Mitgliedsstaaten der NATO müssen bei dieser Entscheidung [dem Atomwaffeneinsatz; Anmerkung des Verfassers) „konsultiert“ werden. Konsultation ist jedoch ein vager Begriff, der durch die Schwierigkeit und den Zeitverlust, mit den Regierungen und Militärchefs in 13 Hauptstädten oder Bunkern Verbindung aufzunehmen, noch vager wird. In der Praxis liegt die Entscheidung für den „Erstschlag“ hauptsächlich bei der Nation, die die Nuklearwaffen liefert (im typischen Fall bei den Vereinigten Staaten, denkbar wäre jedoch auch Großbritannien), und bei der Nation, auf deren Territorium Waffen zur Explosion kommen sollten (nach den Standardplänen: die Bundesrepublik).“ (13)
In der Tat ist man – wie auch Karl-Heinz Kamp feststellt – bis zum Ende des Kalten Krieges nicht über diese Form der „Beteiligung“ der Mitgliedsstaaten hinausgelangt. Mit dem Zusammenbruch der UdSSR wurden die strategischen Atomplanungen auf Eis gelegt. Wie ist es heute um die nukleare Strategie der NATO bestellt?
Im 2022 veröffentlichten „Strategic Concept“ (14) wird Russland klar als primärer Gegner des „Verteidigungsbündnisses“ genannt. In Paragraph 21 heißt es:
„We will deter and defend forward with robust in-place, multi-domain, combat-ready forces, enhanced command and control arrangements, prepositioned ammunition and equipment and improved capacity and infrastructure to rapidly reinforce any Ally, including at short or no notice.“
„Wir werden durch Vorwärtsabschreckung und Vorwärtsverteidigung agieren – mit robusten, ortsfest stationierten, multidimensional einsatzbereiten Kräften, verbesserten Führungs- und Kommandostrukturen, vorpositionierter Munition und Ausrüstung sowie ausgebauten Kapazitäten und Infrastrukturen, die es ermöglichen, jeden Verbündeten rasch zu verstärken – auch mit kurzer oder ganz ohne Vorwarnzeit.“ (Übersetzung des Verfassers)
Auch in Paragraph 24 kehrt das Motiv der Vorwärtsverteidigung wieder, wenn es heißt:
„NATO’s nuclear deterrence posture also relies on the United States’ nuclear weapons forward-deployed in Europe and the contributions of Allies concerned.“
„Die nukleare Abschreckung der NATO beruht auch auf den nach vorn verlegten Nuklearwaffen der Vereinigten Staaten in Europa und der Beteiligung der betreffenden Verbündeten.“ (Übersetzung des Verfassers)
Der terminus technicus „command and control“ bezieht sich in der Nuklearkriegsplanung auf die Diskrepanz zwischen dem, der den Befehl zum Einsatz der Atomwaffen gibt (command) und denjenigen Soldaten, die das zweifelhafte Privileg haben, den Befehl auszuführen (control). In Paragraph 24 ist die sogenannte „nukleare Teilhabe“ berührt, also die Verpflichtung derjenigen europäischen Bündnispartner, die US-Atomwaffen beherbergen, diese auf Befehl des SACEUR zum Einsatz zu bringen. Aktuell sind dies Deutschland, Belgien, die Niederlande, Italien, die Türkei und – seit dem Transfer von US-Wasserstoffbomben in diesem Jahr – auch Großbritannien.
… wie heute
Kamp bemängelt in seinem Dossier, dass sich die NATO zwar stets auf die nukleare Abschreckung als Grundpfeiler ihrer Existenz beruft, seit dem russischen Angriff auf die Ukraine jedoch keine neue Nuklearstrategie entwickelt hat. Wir werden sehen, dass die Vorschläge, die er macht, jeden beunruhigen sollten, der mit den Kriegsplanungen im Kalten Krieg vertraut ist. Wichtige Fragen werden gestellt:
„Welche politischen und militärischen Grundsätze sollen für einen möglichen Einsatz einer Kernwaffe durch die NATO gelten? Welche Ziele kämen für den Einsatz infrage? Welche Verfahren sollen für die Billigung eines solchen Extremfalls im Bündnis gelten?“ (15)
Der wichtigste Unterschied gleich vorweg: Deutschland ist – aufgrund der NATO-Osterweiterung, die entgegen den politischen Zusagen an die Sowjetunion sukzessive durchgezogen wurde – heute nicht mehr in der Gefahr, durch die eigenen Verbündeten bombardiert zu werden, um einen russischen Vorstoß aufzuhalten. Allerdings „können russische Kernwaffeneinsätze auf NATO-Gebiet nicht ausgeschlossen werden. In einem größeren militärischen Konflikt an den Ostgrenzen der NATO würde Russland versuchen, sowohl die Truppenbewegungen der NATO von Westen nach Osten als auch die Anlandung amerikanischer Verstärkung in Europa durch Angriffe auf Häfen oder Verkehrsknotenpunkte zu verhindern. Solche Angriffe könnten auch mit Kernwaffen erfolgen.“ (16)
Hier sollte man sich in Erinnerung rufen, dass Deutschland iterativ als „Drehscheibe der NATO“ (17) bezeichnet wird, Truppen- und Materialkonzentrationen zwangsläufig auf bundesdeutschem Gebiet stattfinden und so zur Zielscheibe der „nicht auszuschließenden“ russischen Nuklearschläge zu werden drohen. Aber zum Glück hat die BRD kluge Männer wie Karl-Heinz Kamp, die mit einer vorausschauenden Strategie Russland von einem derartigen Vorgehen abzubringen versuchen.
In neun Punkten wird diese Strategie entwickelt, die von Anfang an keinerlei Zurückhaltung verspüren lässt: „Erstens muss sich diese Strategie vor allem gegen Russland richten.“ (18) Und hier nun wird es ernst, sehr ernst, denn Kamp kommt – über mehrere vorbereitende Schritte – auf einen Ersteinsatz von Kernwaffen durch die NATO zu sprechen.
„Drittens (...). Eine nukleare Eskalation der NATO würde zuerst dem politischen Ziel dienen, Verteidigungswillen gegenüber dem Angreifer zu demonstrieren und ihn zum Abbruch der Kampfhandlungen zu bewegen. Das bedeutet allerdings nicht, dass Kernwaffeneinsätze rein symbolisch, etwa über unbewohntem Gebiet erfolgen sollen, da dies als mangelnde Entschlossenheit missverstanden werden könnte. Wie schon in den Diskussionen um die General Political Guidelines (im Kalten Krieg; Anmerkung des Verfassers) festgehalten, muss ein Kernwaffeneinsatz auch einen Schaden für den Angreifer verursachen, um als Warnung ernst genommen zu werden.
Viertens heißt dies, dass eine künftige nukleare Zielplanung vor allem gegen russisches Territorium gerichtet sein muss.“
Da haben wir es. Deutsche Politikwissenschaftler fordern unverhohlen, russische belebte Ziele – russische Städte – für die atomare Bombardierung auszuwählen, um so den Verteidigungswillen des Gegners zu brechen. Wie das wohl in Russland ankommt?
Der belgische Verteidigungsminister wurde unlängst gefragt, ob er denn keine Angst vor einem etwaigen nicht-nuklearen russischen Vergeltungsschlag auf Brüssel habe. Seine Antwort zeigt die Hybris der kleinen NATO-Staaten in aller Deutlichkeit: „Nein, denn dann treffen sie das Herz der NATO und dann werden wir Moskau dem Erdboden gleichmachen.“(4).
Offensichtlich muss man erneut daran erinnern, wer mit einer solchen Rhetorik zuletzt Politik gemacht hat:
„Die Vorstellungen der obersten Führung (der Wehrmacht; Anmerkung des Verfassers) über die Behandlung Leningrads wiesen einige Schwankungen auf. Ihr zerstörerischer Charakter blieb aber zumindest bei Hitler konstant. Schon bald nach Feldzugsbeginn teilte er nicht nur seinen engsten Vertrauten, sondern auch der militärischen Führung seinen „feststehenden Entschluß“ mit, „Moskau und Leningrad dem Erdboden gleich zu machen, um zu verhindern, daß Menschen darin bleiben, die wir dann im Winter ernähren müßten.“ (21)
Der fünfte Punkt in Kamps „Strategie“ behandelt die berüchtigten Konsultationen. Angesichts der uns nun bekannten Planungen aus dem ersten Ost-West-Konflikt sollte man in Deutschland ob seiner Worte gewarnt sein:
„Fünftens könnten die in der Vergangenheit entwickelten nuklearen Konsultationsmechanismen der NATO im Wesentlichen beibehalten werden. Konsultiert würden demzufolge vor allem die besonders betroffenen Staaten, also jene, die amerikanische Kernwaffen auf ihrem Boden stationieren, die Trägersysteme bereitstellen oder sonstige Unterstützung leisten.“ (22)
Friedrich Merz wird also rechtzeitig informiert, wenn die angelsächsischen Entscheidungsträger Kernwaffen gegen Russland einsetzen wollen. Ihr Leben in guten Händen.
Bevölkerung bereit zum Erstschlag
Ganz d'accord mit dem „Nuclear Posture Review“ der USA von 2022, schließt Kamp einen Ersteinsatz nicht aus:
„Sechstens sollte die Allianz, auch wenn ein früher Kernwaffeneinsatz der NATO sehr unwahrscheinlich ist, nicht von ihrem nach wie vor gültigen Konzept des „First Use“ abweichen. Das heißt davon, eine nukleare Eskalation auch dann zu erwägen, wenn der Gegner noch keine eigenen Kernwaffen eingesetzt hat.“(23)
In besagtem US-Dokument, das unter Präsident Joseph Biden verabschiedet wurde, wird den US-Atomwaffen ein dreifacher Daseinszweck zugeschrieben: „Abschreckung“, „Absicherung Verbündeter und Partner“ sowie „Erreichen von US-Zielen, falls die Abschreckung versagt“. (24) Im Abschnitt zur „Deklarationspolitik“ – welcher die Frage nach der Kommunikation der Nuklearpolitik an die Gegner betrifft –, wird festgestellt:
„We conducted a thorough review of a broad range of options for nuclear declaratory policy – including both No First Use and Sole Purpose policies – and concluded that those approaches would result in an unacceptable level of risk in light of the range of non-nuclear capabilities being developed and fielded by competitors that could inflict strategic-level damage to the United States and its Allies and partners.“
„Wir haben eine gründliche Überprüfung einer weiten Spannbreite von Optionen für die nukleare Deklarationspolitik durchgeführt – einschließlich der Politik des Verzichts auf den Ersteinsatz („No First Use“) wie auch der Politik des Einsatzes für genau definierte Zwecke („Sole Purpose“) – und sind zu dem Schluss gekommen, dass diese Ansätze angesichts der Bandbreite nicht-nuklearer Fähigkeiten, die Wettbewerber entwickeln und einsetzen und mit denen sie strategischen Schaden in den Vereinigten Staaten sowie bei deren Verbündeten und Partnern anrichten könnten, ein inakzeptabel hohes Risiko darstellen würden.“ (25)
Staaten wie China oder Indien haben sich unilateral zu einer sogenannten No-First-Use-Politik verpflichtet, sie verzichten also proaktiv auf den Ersteinsatz von Kernwaffen. Die NATO, mit den USA voran, hält derlei einseitige Deklarationen für Makulatur (26), und verzichtet auf den Verzicht zum Ersteinsatz. Die Vereinigten Staaten haben sich seit 1945 jederzeit das Recht vorbehalten, nuklear zuerst anzugreifen.
Gut dotierte Fachkräfte wie Kamp stoßen nun ins nukleare Horn und wollen der deutschen Bevölkerung den Atomkrieg schmackhaft machen. Mit empfindlichem Seismograph für das „gesunde Volksempfinden“ spürt er die „gute Stimmung“ im Land, was Aufrüstung und Militarisierung angeht – Zeit, dies auch auf die nukleare Ebene zu verlagern:
„Mit Russlands Krieg in der Ukraine, Moskaus aggressiven Aktionen gegen einzelne NATO-Mitglieder und wachsenden Spannungen an der NATO-Ostflanke ist die allgemeine Einsicht in die Notwendigkeit einer glaubwürdigen Verteidigung deutlich gestiegen. Die erhebliche Erhöhung der Verteidigungsausgaben in den meisten NATO-Staaten trifft meist auf ebenso breite öffentliche Zustimmung, wie die weitere Unterstützung der Ukraine oder die Verschärfung der Sanktionen gegen Moskau. Die NATO sollte diese allgemeine sicherheitspolitische Sensibilität nutzen, um auch im Bereich der nuklearen Abschreckung zu einer überzeugenden Strategie zu gelangen.“ (27)
Prompt meldete sich NATO-Generalsekretär Mark Rutte zu Wort:
+„Es ist wichtig, dass wir mit unseren Gesellschaften mehr über nukleare Abschreckung sprechen, um sicherzustellen, dass die Menschen verstehen, wie sie zu unserer gemeinsamen Sicherheit beiträgt.“* (28)
Wir dürfen davon ausgehen, dass diese im Denkpanzer entwickelte und nun nach außen getragene Strategie der „nuklearen Kommunikation“ in den nächsten Wochen und Monaten an Fahrt aufnimmt. Die europäischen Bevölkerungen sollen sukzessive auf eine atomare Eskalation, mithin gar einen Erstschlag der NATO, vorbereitet werden.
Um dem abstrakten – und daher entfremdenden – Jargon des Nuklearkriegs zu entkommen, sei zum Schluss noch einmal auf die Folgen eines bloß begrenzten Atomwaffeneinsatzes auf europäischem Boden verwiesen:
„Das gesamte Gebiet Großbritanniens, Belgiens, der Niederlande und der Bundesrepublik könnte durch Bombenexplosionen von 374 gut platzierten 1-Megatonnen-Bomben derart radioaktiv verseucht werden, dass jeder, der im Freien überrascht wird, mit dem sicheren Tod rechnen müsste.“
„Die Angriffe werden natürlich von Land zu Land variieren, wobei die Bundesrepublik, Großbritannien und Frankreich (in dieser Reihenfolge) am stärksten getroffen werden. Eine Schätzung britischer Experten für Zivilverteidigung, wonach Dreiviertel der Zivilbevölkerung umkommen würden, erscheint durchaus glaubwürdig.“ (29)
Hierbei sind die Verletzten, Verhungerten und alle weiteren Betroffenen noch nicht eingerechnet. Dies sind die nuklearen Strategien aus dem Kalten Krieg, die Kamp mit neuem Leben (?) füllen möchte. Und so schreibt er selbst zum Schluss:
„Deutschland, das die nuklearstrategischen Debatten des Kalten Krieges entscheidend mitgeprägt hat, kommt angesichts seines politischen Gewichts und seiner geostrategischen Lage auch heute eine besondere Verantwortung zu.“ (30)5
Ich hoffe, klargestellt zu haben, wie diese „besondere Verantwortung“ aussieht – damals wie heute.