Der Anfang im Ende

Einen sterbenden Menschen zu begleiten ist nicht die Aufgabe von Spezialisten, sondern der Gemeinschaft.

Etwas Neues zu beginnen setzt voraus, etwas Altes loszulassen. Es ist eine besondere Herausforderung, vor allem dann, wenn es darum geht, einen Menschen gehen zu lassen. Wir haben es verlernt, unsere Liebsten zu pflegen und ihnen die Fürsorge zu geben, die es braucht, um sie im Sterbeprozess zu begleiten. Was als eine kaum zu bewältigende Aufgabe erscheint, erweist sich schließlich als Geschenk.

„Jedem Anfang“, so schrieb Hermann Hesse 1940 in seinem Gedicht „Stufen“, „wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft zu leben.“ Um uns diesen Zauber zu erschließen, müssen wir bereit zum Abschied sein, der den Neubeginn erst möglich macht. Tun wir das nicht und halten weiter am Alten fest, blockieren wir den Kreislauf des Lebens und verunmöglichen, dass auf jedes Ende ein neuer Anfang erfolgen kann.

Wie für viele Menschen war das vergangene Jahr auch für mich von Trennungen und Abschieden gezeichnet. Über ein Jahr begleitete ich das langsame Sterben meines Lebensgefährten. Den Weg zum Krankenhaus kenne ich im Schlaf, die Notaufnahme, das bange Warten, die Pfleger der Intensivstation, die verschiedenen zuständigen Ärzte, von denen keiner für alles zuständig ist. Lunge, Herz, Niere — hier ist der Körper ein Agglomerat verschiedener Pathologien, die nichts miteinander zu tun zu haben scheinen.

Jeder beugt sich über sein Spezialgebiet. Alle geben ihr Bestes. Die überarbeite Notärztin, die hochformatierten Experten, die eiligen Pfleger. Der Mensch am anderen Ende wird verkabelt, vermessen und bis ins Kleinste durchgecheckt, erscheint verpixelt auf Bildschirmen und wird entlassen, wenn das Protokoll abgearbeitet ist. Von A bis Z läuft die Maschine. CT, EKG, MRT reihen sich aneinander und bringen letztlich nicht, was das eigentliche Ziel ist: Erleichterung. Genesung. Heilung.

Nicht dauerhafte Gesundheit steht im Fokus, sondern das Managen von Krankheit. Ausschlaggebend ist der Fluss des Geldes und nicht der der Kommunikation.

Es gibt so gut wie keine Verbindungen zwischen den Spezialisten, den Stationen, den Kliniken, zwischen Klinik und Hausarzt, zwischen Hausarzt und häuslichem Pflegepersonal. Jeder macht sein Ding, so gut er kann. Mehr oder weniger verloren folgt der Patient den jeweiligen Anweisungen und kann nur hoffen, dass etwas Gutes dabei herauskommt.

Widerstände

In diesem Fall war es nichts Gutes. Immer zerbrechlicher wird der Patient, immer mehr geht ihm die Autonomie verloren, bis es endlich ans Sterben geht. Ein langer Prozess beginnt. Für mich wird eine weitere Stunde der Wahrheit eingeläutet. „Wir wissen nicht mehr“, so kann man es in meinen Texten lesen, „wie es geht, zu Hause geboren zu werden und zu Hause zu sterben. Seit Langem haben wir unsere intimstem Lebensereignisse an Experten und Einrichtungen delegiert. Andere kümmern sich um Dinge, für die allein wir Verantwortung tragen.“

Nun bin ich dran. Bin ich bereit, Nächte zu durchwachen und rund um die Uhr für einen Menschen da zu sein? Bin ich dazu in der Lage, ihn bis zum Schluss zu begleiten?

Hier geht es nicht nur darum, ein wenig die Hand zu halten und über eine heiße Stirn zu streichen, sondern da zu sein, wenn die Angst kommt, die Wut, der Widerstand, die Resignation, die Trauer, wenn die Muskeln verkümmern, die Körperfunktionen versagen und die Organe ihren Dienst einstellen. Kann ich mich auf unbestimmte Zeit so zurücknehmen, ohne Erwartungen sein und ganz der Pflege des anderen hingegeben?

In mir flammt der Wunsch auf, ihn einer Spezialeinrichtung zu übergeben und die Verantwortung los zu sein. Er will nicht. Ich wehre mich gegen das, was mir aufgebürdet wird. Warum ich? Würde er das für mich tun? Warum ist es einmal mehr eine Frau, an der wie selbstverständlich die Pflege hängenbleibt? Warum soll ich mich in einen erneuten Lockdown begeben und auf fast alle Aktivitäten außer Haus verzichten? Wo sind die Palliativbetten? „Es gibt keine“, sagt die Krankenschwester, die morgens kommt. Ich will nicht. Ich will ans Meer fahren, lange Wanderungen machen, Freunde besuchen, meine Familie sehen, Orte erkunden, durch Städte bummeln, in Cafés sitzen, durch Ausstellungen schlendern. Ich will unbeschwert sein, mich frei fühlen, mich entfalten können. Ich will leben! Genau wie er.

Fürsorge braucht keine Selbstverleugnung

Ein spezielles Bett wird geliefert, ein Rolls-Royce unter den Krankenbetten. Mein Auto wird mit Pflegematerial und Medikamenten bepackt, die Krankenschwester kommt nun morgens und abends. Unmittelbar nach meiner Krebserkrankung hatte ich eine Ausbildung zur ehrenamtlichen Begleitung kranker und sterbender Menschen gemacht. Ich kann an Betten sitzen, kann präsent sein, zuhören und schweigen. Ich kann Hände halten und Füße massieren, kann einen Menschen aus- und anziehen, ihn in Wärme hüllen und die Sonne hineinlassen. Ich weiß, wie es ist, wenn jemand geht. Und ich weiß, wie wichtig es ist, die eigenen Bedürfnisse nicht zu verleugnen und Geben und Nehmen im Gleichgewicht zu halten.

Die Bereitschaft zur Fürsorge, die unsere Gesellschaft so nötig braucht, kann sich nur dann entwickeln, wenn Geben und Nehmen Hand in Hand gehen. Wir alle haben ein Anrecht auf die Erfüllung unserer Bedürfnisse und Wünsche, wir alle sind Leben inmitten von Leben, das leben will. Es macht aus uns keine besseren Menschen, wenn wir uns selbst vergessen. Wer die Verbindung zu sich selbst einem anderen opfert, der sät letztendlich Zerstörung. Er hält das infernale Trio am Leben, das unheilvolle Gespann aus Opfern, Tätern und Rettern, das die alte Welt an den Abgrund gefahren hat.

Wenn wir den Teufelskreis durchbrechen wollen, wenn wir dazu beitragen wollen, dass es keine Täter-Retter mehr gibt, die sich die Welt unterjochen, dann müssen wir in jeder Hinsicht aufhören, Opfer zu sein.

Es muss uns gelingen, ohne faule Kompromisse gleichermaßen uns selbst und anderen gerecht zu werden, das Entweder-du-oder-ich zu überwinden und dahin zu kommen, uns als Einheit zu begreifen. Liebe deinen Nächsten so wie dich selbst. Das Wohl des einen ist untrennbar mit dem Wohl des anderen verwoben. Was ich dir antue, das tue ich auch mir selbst an. Damit hatte ich meinen roten Faden in der Hand.

Auf Augenhöhe

Sich um einen anderen Menschen zu kümmern bedeutet nicht, ihn mit mitleidigem Blick von oben herab zu versorgen. Fürsorgliches Handeln hat nichts mit Almosen zu tun: Hier, ich werfe dir ein paar Zeitbrocken zu und bekomme dafür ein gutes Gewissen. Kopf hoch. Wird schon wieder. Fürsorge bedeutet nicht, das Leid des anderen dafür zu missbrauchen, sich selbst in Szene zu setzen. Seht nur alle her, wie toll ich mich um jemand anderen kümmere. Wirkliche Fürsorge ist die Bereitschaft, ein Stück des Weges gemeinsam zu gehen, einander ein Compagnon zu sein: derjenige, mit dem man sein Brot teilt.

Wir stehen hierbei nicht am Eingang der Höhle und rufen dem anderen zu, wie schön es draußen ist. Während er leidet, machen wir es uns in der Sonne gemütlich und schickem ihm hin und wieder ein wenig Licht und Energie, wie es gerade in Mode ist, oder versuchen, ihn mit unseren Geschichten abzulenken. Ein echter Compagnon geht ins Dunkel hinein und trägt sein Licht dorthin, wo es gebraucht wird. Er erfüllt den Raum mit seiner wohlwollenden Präsenz und wird zu einer Kerze, an der sich der Leidende wärmen und orientieren kann.

Der Begleitende trägt dafür Sorge, dass sein Licht stark und lebendig bleibt. Niemand hat etwas davon, wenn es in der Höhle dunkel wird und wenn alle leiden. Mitleid ist keine Hilfe, denn es zieht beide Seiten nach unten. Es ist das Mitgefühl, was uns auf einer Ebene verbindet.

Wir können uns in die Lage des anderen hineinversetzen und in das hineinspüren, was er durchmacht, ohne die eigene Kraft zu verlieren, die wir brauchen, um dem anderen eine Stütze zu sein.

Ubuntu

In einer solchen Begegnung können sich Geben und Nehmen verbinden. Der Nehmende bekommt Pflege und Aufmerksamkeit und der Gebende ein urmenschliches Bedürfnis erfüllt: den Wunsch, sich nützlich zu machen. Die Eigenschaft, anderen Lebewesen helfen zu wollen, wohnt uns inne. Wir können sie bei den Kindern beobachten, bevor sie von der Gesellschaft verbogen werden: Sie nehmen sich nicht nur das Spielzeug, sondern auch den Besen und den Hammer; sie werfen nicht nur runter, sondern heben auch auf.

In der südafrikanischen Kultur trägt das Bedürfnis, anderen zu helfen, einen Namen: Ubuntu. Der Begriff bezeichnet nicht nur ein Betriebssystem für Computer, sondern ist ursprünglich eine Lebensphilosophie. Ubuntu bedeutet Menschlichkeit, Nächstenliebe, Gemeinsinn sowie das Bewusstsein, dass man selbst Teil eines Ganzen ist. Als Individuen sind wir nicht voneinander getrennt, sondern in einem unendlich komplexen Lebensnetz miteinander verbunden.

Eine der bekanntesten Ubuntu-Geschichten ist die eines Anthropologen, der Kindern ein Spiel vorschlug. Er stellte einen Korb mit Früchten unter einen Baum, rief die Kinder und sagte ihnen, dass alle Früchte dem gehören würden, der als erster den Korb erreichte. Geduldig warteten alle auf das Signal, nahmen sich bei der Hand und rannten zusammen zu dem Baum. Am Ziel angekommen, teilten sie die Früchte untereinander auf und genossen gemeinsam den gewonnenen Preis.

Die Menschlichkeit zurückholen

Wenn wir heute sehen, wie Passanten reglos an Menschen vorbeigehen, die auf öffentlichen Plätzen stürzen, wenn die Passagiere in der U-Bahn den Blick abwenden vor der Gewalt, die einem anderen Wesen zugefügt wird, dann zeigt sich daran, wie sehr wir Ubuntu und unsere Wurzeln vergessen haben. Wie weit wir uns von unserer Menschlichkeit entfernt haben, haben wir in nur allzu erschreckender Weise auch daran erkannt, dass wir unsere Nächsten, unter dem Vorwand, sie schützen zu wollen, verlassen, isoliert und alleine haben sterben lassen.

Wir haben es zugelassen, dass Eigenverantwortung zu Egoismus wurde, Selbstdenken zur Gefahr und Gehorsam zu Solidarität. Unser Bestes haben wir uns nehmen lassen.

Nun ist es an der Zeit, die Verdrehungen und Verfälschungen wieder aufzulösen und uns daran zu erinnern, wer wir im Grunde sind. Vergessen wir die Märchen vom sündigen und fehlerhaften Affenmenschen. Decken wir die Verbrechen auf, die Kirche und Wissenschaft am Menschen begangen haben, um ihn klein und nutzlos zu machen, und holen wir uns unsere Menschlichkeit und unsere Fürsorglichkeit zurück.

So bekommen wir erneut Zugang zu dem Glücksgefühl, das uns durchströmt, wenn wir anderen helfen und beistehen können. Wie eine warme Welle erfasst es uns, wenn wir einander in der Tiefe begegnen. Ob in Freud oder Leid: Das Schönste und Größte, was wir miteinander teilen können, ist unser Dasein. Hier bin ich. Du bist nicht allein. Ich stehe bei dir.

In den Händen der Gemeinschaft

Heute bin ich diejenige, die die Kissen aufschüttelt und die Nächte durchwacht. Morgen werde ich diejenige sein, die Hilfe braucht. Lassen wir uns nicht alleine, ob als Begleitende oder als Begleitete. Öffnen wir die Türen füreinander. Wir brauchen keine Spezialisten. Wir brauchen uns. Ebenso wie die Liebe sind Geborenwerden und Sterben keine Privatsache. Es ist die Gemeinschaft, die die großen Lebensereignisse trägt.

Nicht allen kommt hierbei dieselbe Aufgabe zu. Neben denjenigen, die direkt vor Ort sind und am Sterbebett stehen, gibt es alle anderen, die das geben, was sie zu teilen haben: ein Paket Schokolade, ein aufgenommenes Lied, ein schönes Bild, das Licht einer Kerze, ein Gebet, eine Meditation. Ob nah oder fern: Wir stehen dem Leid der anderen nicht hilflos gegenüber. Wir sind Menschen. Wir können etwas tun.

Ziehen wir uns nicht zurück, aus Angst, zu stören, zu ungeschickt oder nicht wichtig genug zu sein. Geben wir unserer Anteilnahme Ausdruck, ein jeder auf seine Weise. Reichen wir einander die Hände und laufen wir alle zusammen zum Baum. Auch wenn es auf unserem Weg immer wieder Passagen gibt, durch die wir allein hindurchmüssen, so seien wir uns gewiss, dass wir niemals allein sind. Wir sind all eins, Früchte desselben Weltenbaumes, der, auch wenn die Blätter fallen, immer wieder neue Blüten trägt.



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