Der Anschlag nach dem Anschlag

Eine TV-Serie von 3sat über den Anschlag am Breitscheidplatz in Berlin dokumentiert die Unfähigkeit der Beteiligten, die herrschende Deutung des Geschehens infrage zu stellen.

Der öffentlich-rechtliche Sender 3sat hat am 10. Dezember 2025 alle fünf Teile einer TV-Dokumentation über den Anschlag auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz in Berlin von 2016 ausgestrahlt. Bei der Tat, die sich am 19. Dezember zum neunten Mal jährt, starben zwölf Menschen unmittelbar, ein dreizehnter Jahre später; Dutzende weitere wurden verletzt und traumatisiert. Die Dokumentation, die den zahlreichen offenen Fragen des Ereignisses nachgehen und das offizielle Narrativ infrage stellen wollte, endete stattdessen mit einer Unterordnung unter ebendieses Narrativ. Demnach soll der Tunesier Anis Amri der alleinige und spontan handelnde Attentäter gewesen sein.
Das macht diesen Artikel notwendig.

Ich war an der Dokumentation beteiligt: zum einen als Protagonist, der über Jahre hinweg unter anderem die parlamentarischen Untersuchungsausschüsse zu diesem Anschlag begleitete und mehr als 100 Berichte dazu verfasste. Zudem veröffentlichte ich 2021 das Buch Der Amri-Komplex. Aufgrund dieser Arbeit war ich zugleich als Fachberater für das gesamte Projekt engagiert worden. Mit der konkreten Realisierung und Ausrichtung der Serie hatte ich jedoch nichts zu tun.

Das Endprodukt ist nicht das, was ursprünglich geplant und besprochen worden war. Die Zielrichtung veränderte sich im Laufe der vierjährigen Arbeit grundlegend: Aus einer kritischen Untersuchung der Hintergründe wurde eine Anpassung an die offizielle Version. Um diesen Kurs einzuschlagen mussten die Macher eine Reihe von Fakten ignorieren oder beiseiteschieben.

Diese offizielle Version spricht von dem Alleintäter Amri, einem vorgeblichen Islamisten, der am 19. Dezember 2016 einen geparkten Lkw kaperte und ihn kurz nach 20 Uhr in den Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche steuerte. Anschließend begab sich Amri auf die Flucht über die Niederlande, Belgien, Frankreich, Turin und Mailand bis nach Sesto San Giovanni, wo er von zwei Polizisten erschossen wurde.

Diese Darstellung, die von den Ermittlungsbehörden stammt und von der etablierten Politik wie der etablierten Presse mitgetragen wird, ist allerdings lediglich eine Hypothese, beziehungsweise Theorie, die mit zahlreichen Widersprüchen behaftet ist.

Ich vertrete dagegen folgende Hypothese: Anis Amri war nicht der Fahrer des todbringenden Lkw, wohl aber Teil einer Tätergruppierung von mindestens fünf bis zehn Personen, die an dem Anschlag beteiligt waren.

Zu dieser Gruppe gehörten sowohl zugereiste tunesische Dschihadisten, zu denen auch Amri zählte, als auch „deutsche“, genauer: „berliner“ nominelle Islamisten. Hinzu kam eine unbekannte Anzahl von V-Leuten, also staatlichen Agenten.

Der Fahrer des Lkw und mutmaßliche Haupttäter ist bisher nicht identifiziert. Vorbereitet wurde die Tat über einen Zeitraum von etwa einem Jahr, vom Weihnachtsmarkt 2015 bis zum Weihnachtsmarkt 2016. Welche konkrete Rolle Amri innerhalb des Tatplans spielte oder welche ihm zugedacht war, ist bis heute unklar.

Dieses Spannungsfeld sollte ursprünglich durch die Dokumentation aufgegriffen und die amtliche Version mit Gegenbefunden konfrontiert werden.

Doch bereits mit dem ersten Bild legt sich die Geschichte in der Täterfrage fest: Jeder Teil der Serie beginnt mit Fotos des Tunesiers Anis Amri. Die Macher greifen damit gleich zu Beginn auf eine Täter-Suggestion zurück, die sich wie ein Leitmotiv über die gesamte Serie legt. Das ist keine Aufklärung, sondern Propaganda — und lässt sich durchaus als Statement verstehen: Wir rütteln nicht am nationalen Narrativ, diese Produktion fügt sich ein.

Um Amri als Täter behaupten zu können, müssen Dinge weggelassen oder Fakten zurechtgebogen werden.

Aus dem Off ist Thomas Beck zu hören, damals stellvertretender Generalbundesanwalt. Er erklärt, Amri habe im Tat-Lkw bewusst seine Geldbörse und seine Duldungsbescheinigung hinterlassen, „um die Tat mit seiner Person in Verbindung zu bringen“ — sprich: als Zeichen der Tatbekennung.

Ergänzt wird diese Deutung durch den Spiegel-Journalisten Jörg Diehl, der erklären darf, Amri habe ein Bekennervideo an den IS verschickt. Ein Video, das bereits Wochen vor dem Anschlag entstand, soll als „Bekennervideo“ gelten — und das für eine Tat, deren Zeitpunkt laut offizieller Version gar nicht geplant, sondern spontan gewesen sein soll.. Das wirkt schon ziemlich konstruiert.

Doch es kommt noch etwas hinzu: Wer behauptet, Amri habe sich zu dem Anschlag bekannt, der darf nicht verschweigen, dass es gegenteilige Aussagen gibt — mindestens zwei Dementis von Amri, eines schriftlich, eines mündlich. Zu dem mündlichen Dementi ermittelte die Bundesanwaltschaft noch bis ins Jahr 2020 hinein, ehe sie die Ermittlungen einstellte — obwohl der Zeuge, dem Amri gegenüber gesagt haben soll, er sei nicht am Anschlag beteiligt gewesen, bis dahin nicht einmal befragt worden war.

Und die 3sat-Dokumacher? Sie kannten diesen Sachverhalt genau. Trotzdem unterließen sie es, diese Wahrheit den offiziellen Darstellungen gegenüber zu stellen. Wer die Dementis verschweigt, darf auch die angebliche Tatbekennung nicht präsentieren.

Ganz ähnlich verhält es sich bei der Frage des Todes von Amri in dem Mailänder Vorort Sesto San Giovanni. Roberto Guida, ein Polizeioffizier, schildert, wie Amri zu Tode gekommen sei — und berichtet dabei Unrichtiges: Nachdem Amri auf die Polizeistreife geschossen habe, habe ein Beamter zurückgeschossen und ihn ins Herz getroffen; er sei sofort tot gewesen. Tatsächlich wurde Amri von zwei Kugeln getroffen; eine traf ihn in den Oberarm, die andere in den Rücken. Vor allem die Kugel in den Rücken wirft fundamentale Fragen auf: War er etwa geflohen? Warum wurde er dann nicht festgenommen? Amri war keineswegs sofort tot; nach dem zweiten Treffer lebte er noch etwa eine Stunde.

Und die Dokumacher? Sie wissen Bescheid — trotzdem lassen sie diesen Sachverhalt weg und präsentieren wissentlich die falsche Version eines Polizeibeamten.

Auch in Bezug auf die Pistole, die Amri angeblich mit sich führte und mit der er auf die beiden italienischen Polizisten geschossen haben soll, ergeben sich inzwischen neue Fragen. Nachdem das Bundeskriminalamt im Juni 2021 die Waffe in Italien abgeholt und zur kriminaltechnischen Untersuchung nach Deutschland gebracht hatte, stellten die Forensiker fest, dass sie vorher gründlich gereinigt worden war. Sämtliche Spuren an der Waffe, auch die, die italienischen Ermittler bei einer ersten Untersuchung sichergestellt hatten, waren beseitigt worden — unter anderem eine DNA-Spur des Hauptmieters Kamel A., bei dem Amri gewohnt hatte. Wurde die Tatwaffe von italienischen oder deutschen Ermittlern manipuliert? Das ist in der Dokumentation ebenfalls kein Thema, obwohl die Macher auch diesen Sachverhalt kennen.

Warum das so ist, müssen sie letztlich selbst beantworten. Stattdessen kommt in der Serie der ranghohe BKA-Vertreter Sven Kurenbach ausgiebig zu Wort und darf die ungenügend belegte offizielle Version vortragen. Er spricht ebenfalls von offenen Fragen im Anschlagskomplex und ist mit dem O-Ton zu hören: „Wo kommt die Waffe her? Das werden wir auch nie klären können.“ Damit der BKA-Mann anschließend unkritisch vom Rechtsstaat" reden kann, der den Ermittlern Grenzen setze, muss jedoch die offenkundige Manipulation der Waffe — die Spurenverwischung durch die Ermittler – verschwiegen werden.

Überhaupt Sven Kurenbach, Abteilungsleiter im BKA: Im Konflikt zwischen dem LKA Nordrhein-Westfalen und dem BKA um eine wichtige Vertrauensperson, der im November 2019 durch die Aussage eines LKA-Verantwortlichen im Untersuchungsausschuss des Bundestags bekannt wurde, nahm Kurenbach eine hervorgehobene Rolle ein. In diesem Konflikt soll das BKA versucht haben, jene V-Person „kaputtzumachen“ und aus dem Spiel zu nehmen. Das hätte sowohl den mutmaßlichen IS-Verbindungsmann in Deutschland, Abu Walaa, geschützt als auch Anis Amri. Die Einflussnahme sei „von ganz oben“ gekommen, sagte der Zeuge damals öffentlich aus. Damit waren namentlich der Bundesinnenminister Thomas de Maizière sowie Sven Kurenbach gemeint. Damit konfrontiert wird er in der Dokumentation jedoch nicht.

Als Amri in Italien erschossen wurde, hatte er zwei Zugfahrkarten bei sich: eine TGV-Fahrkarte von Chambéry nach Mailand sowie eine zweite Fahrkarte von Turin nach Mailand, die er offensichtlich gar nicht benötigte. Hatte er etwa Begleitung? Wer oder was hindert das BKA daran zu ermitteln, wann diese zweite Fahrkarte in Turin gelöst wurde– zu einem Zeitpunkt, als Amri sich bereits dort aufhielt, oder zuvor? Der „Rechtsstaat“ ist es jedenfalls nicht, der die Ermittler daran hindert.

Ein Handy ist ein nahezu unschlagbares Beweismittel. Amri hatte ziemlich sicher ein Mobiltelefon bei sich, als er getötet wurde; so steht es zumindest in den italienischen Ermittlungsakten. Dieser Punkt gilt heute offiziell als „gecleant“: Amri habe kein Handy bei sich gehabt, heißt es nun. Die italienischen Behörden haben ihre Unterlagen offenkundig im Interesse des deutschen BKA angepasst. Der Vorwurf, die Polizei habe ein Handy verschwinden lassen, ist zweifellos ungeheuerlich — er holt die Ermittler jedoch spätestens bei der Tatpistole wieder ein.

Der aus Tunesien eingereiste Bilel Ben Ammar galt neben Amri als zweiter Tatverdächtiger Beide hatten sich noch am Vorabend des Anschlags getroffen. Ben Ammar war nach dem Anschlag zunächst untergetaucht, wurde jedoch aufgespürt und in Untersuchungshaft genommen. Aus dieser Untersuchungshaft heraus wurde er Anfang Februar 2017 aus Deutschland nach Tunesien abgeschoben. Treibende Kraft war das BKA; politisch abgesichert wurde dieses Manöver vom Bundesinnen- und vom Bundesjustizministerium.

Der BKA-Abteilungsleiter Kurenbach darf in der 3sat-Dokumentation erklären, es habe nun mal kein „dringender Tatverdacht“ gegen Ben Ammar bestanden, die Vorwürfe hätten nicht für einen Haftbefehl gereicht. Das ist Vernebelung. Ein Haftbefehl lag zum Zeitpunkt der Abschiebung längst vor; ausstehend war lediglich die Haftprüfung. Für die Fortdauer der Haft hätte jedoch ein „hinreichender Tatverdacht“ genügt — und dieser war bei Ben Ammar gegeben.

Als weiterer Beleg dafür, dass Anis Amri der Attentäter gewesen sein soll, der am Abend des 19. Dezember zunächst den polnischen Speditionsfahrer an dessen Standplatz in Berlin-Moabit erschossen und anschließend den Lkw in den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz gesteuert habe, wird — unter anderem vom damaligen GBA-Vize Thomas Beck — angeführt, am Friedrich-Krause-Ufer, wo der Lkw gestanden habe, sei eine „dazugehörende Geschosshülse“ gefunden worden.

Diese Hülse wurde allerdings nicht am folgenden Tag, sondern erst am 21. Dezember, also am übernächsten Tag, am Krause-Ufer sichergestellt. Zudem lag sie nicht dort, wo das Führerhaus des Lkw stand, sondern weiter hinten. Und sie befand sich auch nicht auf der Seite, auf der der Speditionsfahrer im Lkw saß — der Beifahrerseite —, sondern auf der gegenüberliegenden Seite des Fahrzeugs. Auch das wissen die Macher der Dokumentation. Wer diesen Sachverhalt nicht erwähnen will, weil er vielleicht zu kompliziert erscheint oder zu weit führt, der darf jedoch auch nicht erwähnen, es sei am Tatort eine eindeutige, passende Patronenhülse gefunden worden.

Der dahinterliegende Verdacht — nämlich der einer Tatortmanipulation — wäre nicht der einzige. Denn Manipulationen gab es auch am Tatort Breitscheidplatz und an der Tatwaffe Lkw. Als Beleg dafür, dass Amri nach dem Anschlag in seiner Wohnung Freienwalder Straße gewesen sei, nennt das BKA die Geodaten seines Handys der Marke HTC. Das würde bedeuten, dass sich dieses Handy nach dem Anschlag ebenfalls dort im Wedding befunden haben muss, sonst hätte es ja keine Geodaten hinterlassen können. Wie aber ist das möglich, wenn sich dasselbe Handy seit etwa 20 Uhr am Tat-Lkw auf dem Breitscheidplatz in Charlottenburg befunden haben soll, wo es im Laufe der Nacht in einem Loch der vorderen äußeren Karosserie sichergestellt wurde. Wer hat es dort wann platziert — und warum?

Amri soll zur Navigation des Lkw Richtung Breitscheidplatz einen Zettel mit der Ortsangabe „Hardenbergstraße“ geschrieben haben. Dieser Zettel wurde bei der Spurensicherung im Tat-Lkw allerdings erst bei einer Nachschau im Januar 2017, also drei Wochen später, gefunden – obwohl er angeblich unter dem Lenkrad auf der Tachoanzeige gelegen haben soll.

Es gäbe noch zahlreiche Beispiele solcher Widersprüche und Ungereimtheiten.

In der Doku werden Steinchen um Steinchen aus der Waagschale der Kritik genommen und in die Waagschale der offiziellen Darstellung gelegt. Das geschieht mit Methode.

Deshalb ist auch folgendes Beispiel kein Zufall — es betrifft mich selbst. In Folge zwei bin ich mit folgendem Satz zu hören:

„Der Anis Amri ist praktisch dann auf der Budapester Straße das erste Mal am Breitscheidplatz vorbeigefahren, geradeaus weiter bis zum Ernst-Reuter-Platz, machte da einen U-Turn praktisch und dann zurück auf den Breitscheidplatz.“

Wie das? War Amri doch der Fahrer des Tat-Lkw? Die offizielle Version, nun wiedergegeben ausgerechnet vom angeblichen Kritiker? Doch auch dies ist leider eine Manipulation: Ich sollte für die Dramaturgie die offizielle Version referieren und kennzeichnete sie zu Beginn und am Ende ausdrücklich als „offizielles Narrativ“. Diese Einschränkung wurde in der Produktion weggeschnitten. So wurde aus einem Zitat die Sicht des Zitierenden gemacht — eine der unverzeihlichsten journalistischen Verfehlungen.

Als ich die Folge zu sehen bekam, beschwerte ich mich darüber bei den Produzenten. Sie waren aber nicht bereit, etwas zu ändern oder richtigzustellen. Deshalb sehe ich mich gezwungen, dies nun selbst zu tun.

Die Stärke der Dokumentation liegt in den Opfergeschichten und der Opferperspektive. Einige von ihnen kommen ausgiebig zu Wort. Zugleich bilden die Opfer aber die Brücke, über die die Serie letztlich zum offiziellen Narrativ geführt wird.

Die Darstellung der Opfersituation soll für Akzeptanz der Anpassung an die offizielle Version sorgen.

Doch selbst bei der Opferfrage werden bestimmte Sachverhalte ausgeblendet. Im März 2025, als die Bundesregierung den nationalen Gedenktag für Terroropfer beging, wurden zwei Opfer vom Breitscheidplatz ausgeladen beziehungsweise einem von ihnen der Zutritt zur Veranstaltung verwehrt — mit der Begründung, sie stellten ein Sicherheitsrisiko dar. Worin dieses Sicherheitsrisiko bestehen sollte, wurde trotz mehrfacher Nachfrage bis heute nicht beantwortet. Ein demütigender Umgang mit Opfern, der nicht zur demagogischen Opferfolklore der Regierenden passt. Die Doku-Macher waren bei der Veranstaltung anwesend und wissen auch um diese (Opfer-)Geschichte. Erwähnung findet sie in der Dokumentation, dessen Schlussteil den Titel „Konsequenzen“ trägt, ebenfalls nicht.

Doch wer die Opfer so demonstrativ in den Mittelpunkt stellt und in ihrem Namen agiert, muss erst recht nach der Wahrheit suchen und darf keine falschen Darstellungen akzeptieren: Wie war es wirklich? Und warum wird die mögliche Wahrheit unterdrückt? Das erscheint wie ein „Anschlag nach dem Anschlag“.