Der aufrechte Mensch

Innere und äußere Stabilität sind nicht nur in Krisenzeiten wichtig.

Die dynamisch, entgegen der Schwerkraft aufgerichtete Wirbelsäule des Menschen besitzt auch ein inneres Pendant, eine innere Kraft, die, wird sie gefördert und entwickelt, zu außerordentlichen und mutigen Taten befähigt. Nicht zuletzt wird diesem inneren Aufrichtevermögen auch in der Kunst Tribut gezollt.

„Wahrheit wagt ich kühn zu sagen, und die Ketten sind mein Lohn...“ — Welcher Musik- und Opernliebhaber kennt sie nicht, diese Worte aus der großen Arie des Florestan im 2. Akt der Freiheitsoper Fidelio von Ludwig van Beethoven? Gesprochen, besser gesagt gesungen werden diese von einem Eingekerkerten, einem fast Verhungerten in einem dunklen Verlies.

Was war passiert?

Da hatte doch dieser Florestan sich offensichtlich gegen eine grausame Person und deren Niedertracht aufgerichtet, und versucht, deren schändliche Machenschaften ans Licht zu bringen. Für ihn selbst hatte dieses Statement unendliches Leid und den dunklen Kerker zur Folge.

Das Werk, im November 1805 uraufgeführt, ist sicherlich nicht nur ein Szenario lang verblichener Zeiten. Auf Anhieb fallen mir mehrere Personen unserer Gegenwart ein, die ebenso kühn sind wie Florestan und für Wahrheit und Aufklärung Sorge tragen. Jetzt sind sie im Exil, im Gefängnis oder werden als Spinner, Sektierer oder Verschwörungstheoretiker gebrandmarkt.

Was ich an diesen Menschen bewundere, ist ihre mutige Positionierung für Wahrheit und Tugend, ihre innere Aufrichtekraft. Es ist eine Kraft, die zwar jedem Menschen zur Verfügung steht, die jedoch eigenständig entwickelt werden muss.

Das sichtbare Aufgerichtetsein, den aufrechten Gang, die vertikale Wirbelsäule, das was uns rein optisch von allen anderen Wesen der Erde unterscheidet, haben wir in unserer frühesten Kindheit unter ausdauernden Bemühungen und vielen Missgeschicken mühsam errungen. Das Gleichgewicht und die aufrechte Haltung sind uns schließlich zur Selbstverständlichkeit geworden.

Das innere Aufrichtevermögen jedoch, diese Kraft der Seele, die klare, ästhetische, moralische Haltung mit Mut und Wahrheitssuche benötigt wohl ein lebenslanges Ringen in den verschiedenen Schicksals- und Zeitbedingungen. Sie bedarf eines deutlichen Übersteigens der eigenen subjektiven Emotionen und Gefühle, also aller Ängste, Zwänge usw. um in eine wirklich objektive Anschauung der Realität zu kommen.

Manipulationen, Suggestionen, Lügen und Angstmacherei sind Werkzeuge, welche von macht- und geldgierigen Personen immer wieder eingesetzt werden, um Menschen zu steuern, sie in gewisse Handlungen zu treiben, sie letztlich für ihre eigenen, egoistischen Zwecke zu missbrauchen. Da ist Mut und ein klares, waches Bewusstsein notwendig, um von all dem Negativen und wahrhaft Bösen in der Welt den Blick nicht zu wenden, sondern eine gesunde moralische Haltung dagegen einzunehmen, welche dann mit Blick auf das soziale weltweite Umfeld in ein verantwortungsvolles und aufbauendes Handeln führen kann.

Diese eigenständige Aktivität, die eigene Meinungsbildung und der gesunde Dialog im Miteinander sind nicht nur in Krisenzeiten unerlässlich, sie gehören zu den Grundvoraussetzungen für die Selbstbestimmung und die Selbstwerdung des Menschen.

Hören wir nochmals hinein in diese Arie des Florestan, wenn er singt:

„...süßer Trost in meinem Herzen: meine Pflicht, ja meine Pflicht hab' ich getan ...“

Der Protagonist dieser Oper hat trotz der widrigen Umstände seine innere Aufrichtekraft nicht verloren. Er hat sich nicht verbogen, hält noch immer seine klare, ästhetische Position, findet Trost und Halt in der erfüllten Pflicht.

Oft wird der Forschende und unermüdlich Suchende, der Mensch, der für Wahrheit und beste Moralität eintritt und unbeugsam daran festhält, zum Außenseiter, Ausgestoßenen, zum Einsamen — eine harte Bewährungsprobe für die innere Aufrichtekraft — ein weiterer Schritt auf dem Weg zur Freiheit.

Das äußere und das innere Aufrichten, die äußere und die innere Stabilität des Menschen gehören zusammen. Letzteres macht ihn jedoch erst wirklich schön, edel, es macht ihn ganz im Sinne seiner ursprünglichen Bestimmung.

Die Oper Fidelio nimmt ein gutes Ende: Florestan wird von seiner ebenso mutigen wie liebenden Ehefrau befreit. Er entkommt den Ketten. Die Wahrheit, die Unbeugsamkeit, das Durchhaltevermögen, die innere Aufrichtekraft haben gesiegt. Es hat sich gelohnt — nicht nur er selbst wird frei, auch seine Mitgefangenen verlassen den Kerker.


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