Der blinde Fleck

Die Justiz in Deutschland ist keine unabhängige Staatsgewalt, denn die Unabhängigkeit der Justiz, wie sie das Grundgesetz in Artikel 20 vorsieht, wurde niemals realisiert.

„Gewaltenteilung in Gefahr“, „Gewaltenteilung als Firlefanz“ — so oder so ähnlich titelten zahlreiche deutsche Zeitungen anlässlich einer fragwürdigen Justizreform in Polen. Doch wie ist es um die Gewaltenteilung in Deutschland bestellt? Der Verein „Neue Richtervereinigung e.V.“ (NRV) sowie eine im Jahr 2009 erlassene Resolution der parlamentarischen Versammlung des Europarats (1) fordern die Selbstverwaltung und damit eine unabhängige Justiz in Deutschland. Brauchen wir eine Justizreform?

Die Justizreform in Polen

Die polnische nationalkonservative Regierung hat nicht nur zahlreiche Richter frühzeitig in den Ruhestand geschickt und die frei werdenden Posten mit Richtern ihrer Wahl besetzt, auch die Wahl der Richter und der neu gegründeten Disziplinarkammer unterliegt nicht mehr den weitgehend unabhängig gestellten Richtern des Nationalen Justizrats, sondern mit der Reform nunmehr, mit einer notwendigen 60-Prozent-Mehrheit, dem Parlament.

Damit hat sich das Parlament einen unverhältnismäßig großen Einfluss auf die Judikative gesichert. Die polnische Regierung rechtfertigt den Umbau mit dem Filz im Nationalen Justizrat; mit Richtern, die schon zu Sowjetzeiten Unrecht gesprochen haben sollen und mit einer größeren demokratischen Legitimierung der parlamentarischen Richterwahl. Eine Gefahr für den Rechtsstaat, so sieht es die EU, so sehen es zahlreiche polnische Juristen, so sehen es Frankreich und auch Deutschland. In Polen demonstrierte das Volk gegen die Demontage der Gewaltenteilung.

Gewaltenteilung in Deutschland

Doch wie ist es um die Gewaltenteilung in Deutschland bestellt? Das Grundgesetz sieht die Dreigliederung der Staatsgewalt vor. Diese bedarf der jeweiligen Unabhängigkeit von Parlament, Regierung und Justizapparat. So wurde es im Grundgesetz unabänderlich in Artikel 20 und Artikel 79 Absatz 3 verankert. Wunderbar! So sollte man meinen. Wir alle haben es so in der Schule gelernt und so ist es auch auf dem Portal des Bundestags „mitmischen.de“ zu lesen:

„Damit der Staat die Macht nicht missbraucht, ist sie aufgesplittet auf mehrere ‚Gewalten‘. Diese kontrollieren sich untereinander. Es sind die Legislative (die gesetzgebende Gewalt), die Exekutive (die ausübende Gewalt) und die Judikative (die rechtsprechende Gewalt)“ (2).

Doch stimmt das überhaupt? Die Stellung des Justizapparats hätte 1949 einer Reform bedurft, um Artikel 20 und Artikel 79 Absatz 3 des Grundgesetzes gerecht zu werden; die alten, noch dem Kaiserreich entstammenden, autokratischen Staatsstrukturen, basierend auf dem Gerichtsverfassungsgesetz von 1877, wurden der Anforderung des modernen, staatstheoretischen Prinzips der Gewaltenteilung nicht gerecht. Doch diese Reform ist niemals erfolgt.

Schon der 40. Deutsche Juristentag hat 1953 die Verwirklichung des Grundgesetzes angemahnt:

„Gesetzgeberische Maßnahmen, um die Unabhängigkeit des erkennenden Richters sowohl durch die Art seiner Auswahl und Beförderung als auch durch seine Stellung gegenüber der Verwaltung institutionell zu sichern, sind notwendig zur Durchführung des Grundgesetzes“ (3).

Doch bis heute hat sich am übermächtigen sowie durch und durch intransparenten Einfluss der Exekutive auf die Judikative nichts geändert.

Einfluss der Exekutive auf die Wahl der Richter in Deutschland

Wie nun gestaltet sich die Wahl der Richter in Deutschland? Für die Bundesgerichtshöfe werden Richter von einem Gremium gewählt, welches sich aus Ministern oder Senatoren der jeweiligen Fachgebiete der Länder und vom Bundestag gewählten Abgeordneten zusammensetzt — es entscheidet also ein kleines Gremium der Legislative und der Exekutive. Aufstrebende Bundesrichter tun gut daran, sich parteipolitisch gut zu vernetzen. Für die Wahl der Bundesverfassungsrichter gilt ein eigenes Verfahren.

Die Wahl der Richter auf Länderebene erfolgt unterschiedlich nach Landesgesetzen in Richterwahlausschüssen mehrheitlich durch Vertreter der Exekutive. Das Landesjustizministerium hat ein Vetorecht. Die Verfahren sind intransparent und laut Klagen von Juristen parteipolitisch gefärbt. Der ehemalige Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde sprach von „personeller Machtausdehnung der Parteien“ (4).

Der fortwährende große Einfluss der Exekutive auf Auswahl und Werdegang deutscher Richter wird mit der demokratischen Legitimation von Regierung und Abgeordneten begründet. Doch wofür kritisiert man Polen? Polen begründet die parlamentarische Wahl von Richtern und Richtern der Disziplinarkammer ebenfalls durch die größere demokratische Legitimation des Parlaments, nicht anders, als es in Deutschland ohnehin schon immer der Fall war und ist, dazu noch auf ungleich intransparente Art und Weise.

Einfluss der Justizminister auf die Staatsanwaltschaft

Noch viel größer ist der Einfluss der deutschen Exekutive im Bereich der Strafermittlung. Die deutsche Regierung braucht das Rentenalter für Staatsanwälte nicht erst zu ändern, so sie mit deren Arbeit unzufrieden ist. Diese sind nicht Teil der Judikative, sondern weisungsgebundene Regierungsbeamte. Bundes-, Staats- und Generalstaatsanwälte können jederzeit von Ermittlungen abgezogen oder gar vorzeitig in den Ruhestand geschickt werden.

So entließ der Justizminister Heiko Maas im Jahr 2015 den Generalbundesanwalt Harald Range, nachdem dieser in einem spektakulären Auftritt live im Fernsehen folgende Botschaft verkündete:

„Ich würde gern nach Recht und Gesetz ermitteln. Aber ich darf nicht. Der Justizminister will es nicht. Auf Ermittlungen Einfluss zu nehmen, weil deren mögliches Ergebnis politisch nicht opportun erscheint, ist ein unerträglicher Eingriff in die Unabhängigkeit der Justiz“ (5).

Die Staatsanwaltschaft muss den Justizminister bei wichtigen, gesellschaftlich oder politisch relevanten Fällen schon vorab über geplante Ermittlungsschritte informieren. Sie hat Weisungen zu laufenden Ermittlungen entgegenzunehmen, und Staatsanwälte können jederzeit von einem Fall abgezogen werden. Anweisungen können ungeregelt auch ohne Protokoll erfolgen — Anruf oder gar eine Andeutung sollten genügen. Auf Weisung des Justizministeriums und Paragraph 146 GVG muss ein Verfahren auch frühzeitig eingestellt werden.

So sind deutsche Justizministerien, ob auf Bundes- oder Länderebene, vollumfänglich ermächtigt, auf denkbar diskrete, aber nachhaltige Weise, einsam darauf Einfluss zu nehmen, wie Ermittlungen verlaufen und ob überhaupt. Einer interessengesteuerten Vorteilsnahme durch die Exekutive sind dadurch Tür und Tor geöffnet.

Die Erfolgschancen einer der Exekutive und ihren Interessen und Netzwerken abträglichen Strafermittlung dürfte so gegen null tendieren. Erst im Jahr 2014 erfolgte eine partielle Einschränkung dieser Macht; seither muss die Staatsanwaltschaft ermitteln, sofern eine Anzeige gegen eine Amtsperson vorliegt. Die diskrete Macht des Dienstherren dürfte jedoch auch hier ihre Wirkung nicht verfehlen und im Konfliktfall wird der Staatsanwalt die Konfrontation wohl meiden.

Der blinde Fleck — warum wurde nicht ermittelt, warum verliefen Ermittlungen im Sand?

Wer fragt sich schon, was hinter dem „Ehrenwort“ von Helmut Kohl steckte, welches er Spendern der Partei gegeben hatte, deren Identität verschleiert wurde. Warum hatte ein vor aller Welt offenbar gewordener, schwerer Fall von Korruption keinerlei rechtliche Folgen?

Wer fragt sich noch, was Ende der 80er Jahre aus der fix und fertig ermittelten Akte der französischen Staatsanwaltschaft bezüglich der sogenannten Leuna-Affäre wurde? Die deutsche Staatsanwaltschaft empfing die fertigen Ermittlungsergebnisse der Franzosen. Deutsche Politiker sollen sich gemeinsam mit einigen französischen Kollegen schwerer Korruption schuldig gemacht haben. In Deutschland verschwand die Akte sang- und klanglos im Archiv. In Frankreich wurden mehrere namhafte Politiker zu Gefängnisstrafen verurteilt.

Wer fragt sich schon, warum der als „Sachsensumpf“ bekannt gewordene Fall von Zwangsprostitution Minderjähriger in Leipzig, welche hochrangige Leipziger Juristen als Freier identifiziert hatten, im Sande verlief und ob die damit einhergehenden Urteile in Anbetracht der Abhängigkeit deutscher Justiz wirklich unser Vertrauen verdienen. Gegen die ehemaligen Zwangsprostituierten wurden später Verleumdungsklagen eingereicht.

Das Verfahren gegen die zur Tatzeit noch minderjährigen Opfer wurde dann vorläufig eingestellt. Auch gegen Journalisten wurde in dem Zusammenhang geklagt, und dies bescherte Deutschland, laut „Reporter ohne Grenzen“ im Jahresbericht 2012/2013, eine Verschlechterung der Bewertung der Pressefreiheit in Deutschland (6). Wie viele Fälle mag es noch geben, von denen wir noch nie etwas gehört haben?

Dass nun in Polen vom Parlament gewählte Richterkammern Urteile aufheben und Richter disziplinieren können, mag fachlich begründet sein oder auch eine ungebührliche Einflussnahme der Politik auf die Rechtsprechung darstellen, im Vergleich zur diskreten Machtfülle deutscher Justizminister handelt es sich doch um eine vergleichsweise transparente, tatsächlich mit größerer demokratischer Legitimation versehene und nur mittelbare Einflussnahme.

Urteil des EuGH zum nicht passenden Begriff „Justizbehörde“ hinsichtlich der deutschen Staatsanwaltschaft:

Der EuGH entschied in einem Urteil vom 27. Mai 2019, dass deutsche Staatsanwälte, auf Grund der konkreten Gefahr der Einflussnahme durch einzelne Vertreter der Exekutive (7), anders als ihre europäischen Kollegen keinen europäischen Haftbefehl ausstellen dürfen. 5.000 aktuell von deutschen Staatsanwälten ausgestellte europäische Haftbefehle haben damit Ihre Gültigkeit verloren.

Karrierewege deutscher Richter

Die richterliche Unabhängigkeit im Gerichtssaal kann in Deutschland dem Richter niemand nehmen. Doch Urteile, welche den Parteien, der Regierung und den Regierungsmitgliedern abträglich wären, könnten einen negativen Einfluss auf die Lebensplanung des Richters haben. Schon die Wahl der Richter dürfte durch Anbiederei an die Exekutive begünstigt werden. In einem fortwährenden Monitoring werden Leistungen der Richter von Regierungsbeamten bewertet, und inwieweit fachliche Gründe allein für die Bewertung ausschlaggebend sind, sei dahingestellt. Wie wahrscheinlich ist unter diesen Umständen ein frei nach Gewissen, Recht und Gesetz gefälltes Urteil eines Richters?

Die dritte Staatsgewalt?

Sieht so die dritte Säule des Staats, sieht so die dritte Staatsgewalt aus? Tatsächlich ist die Judikative ein integraler Bestandteil der Exekutive, aber sicher keine eigenständige dritte Säule. Die Gewaltenteilung erfordert drei gleichgeordnete Träger der Staatsgewalt. Dies ist in Deutschland — anders als in den meisten europäischen Ländern, in welchen die Justiz sich tatsächlich unabhängig und frei von Parteienpatronage und Einmischung der Exekutive selbst verwaltet — nicht der Fall. Allein in Österreich und der Tschechischen Republik steht die Justiz in ähnlich großer Abhängigkeit zur Exekutive.

Die Unabhängigkeit des Bundesverfassungsgerichts

Alleine das Bundesverfassungsgericht untersteht keiner anderen Behörde. Unter Druck der Öffentlichkeit wurde deren 1957 erhobene Forderung nach Unabhängigkeit von der Exekutive erfüllt. Das Bundesverfassungsgericht verfügt jedoch über keine Mittel der Rechtsdurchsetzung gegenüber der Politik. Es ist im eigentlichen Sinne keine rechtssprechende Instanz, sondern prüft Verfassungsbeschwerden und setzt Rechtsnormen.

Der blinde Fleck — Amnesie einer Nation

Sind wir Deutsche daran gewöhnt, dass der Amtsmissbrauch von Politikern nicht geahndet wird? Ist der Amtsmissbrauch von Politikern überhaupt eine Straftat? Wundern wir uns nur still und leise im Verborgenen, begleitet von einem verhaltenen Gefühl einer irgendwie nicht näher zu definierenden Unstimmigkeit? Beinhaltet unerklärt unser Selbstverständnis eine Obrigkeit, für die andere Regeln gelten als für den Rest der Bevölkerung?

Realisieren wir, dass Missachtung der Verfassung durch die Politik, zwar mitunter benannt, aber kaum je wirkungsvoll geahndet oder auch nur vollumfänglich korrigiert wird? Und was für Folgen hat dies konkret für die politische Gestaltung der Republik? Sollten wir in einem vermeintlich freien Land, in einer Demokratie, nicht aufbegehren gegen ein System, welches die politische Klasse in ihrer Amtsausübung für weitgehend sakrosankt erklärt?

Leidet unser staatsbürgerliches Selbstverständnis vom Bürger bis zum Staatsanwalt und Bundestagsabgeordneten, quer durch die Republik, an einem blinden Fleck, an einer partiellen Amnesie des Bewusstseins? Im Grundgesetz und auf dem Portal des Regierungsservers, da steht es doch geschrieben:

„In Deutschland haben wir Gewaltenteilung“.

Na, dann ist ja alles gut.

Die Petition mit der ID 98383 beim Petitionsausschuss des Bundestags fordert ein Ende des Weisungsrechts der Justizminister an die Staatsanwaltschaft und die Selbstverwaltung der Justiz in Deutschland.

Sie kann nach Registrierung auf dem Petitionsportal von interessierten Bürgern, die sich eine echte Gewaltenteilung wünschen, mitgezeichnet werden. Das Erreichen des Quorums von 50.000 Unterschriften bis zum 8. Oktober kann der Forderung nach einer unabhängigen Justiz Nachdruck verleihen und sollte vom Bundestag nicht ignoriert werden.

Mein besonderer Dank gilt den engagierten Juristen des Vereins „Neue Richtervereinigung e.V.“ (NRV), der online viele Themen zur Sache aufbereitet hat und seit Jahren für eine Reform der deutschen Justiz kämpft (8).

Zur Petition.


Quellen und Anmerkungen:

(1) http://assembly.coe.int/nw/xml/XRef/Xref-XML2HTML-en.asp?fileid=17778
(2) https://www.mitmischen.de/bundestag-wissen/lexikon/g/gewaltenteilung
(3) Beschlüsse des 40. Deutschen Juristentages 1953 (Memento vom 17. März 2014 im Internet Archive).
(4) Sind die Parteien zu mächtig? Gerd Langguth für Die Welt, 29. Februar 2000.
(5) Range räumte mit einem Märchen auf, Per Hinrichs, Thorsten Jungholt, Uwe Müller , Die Welt, 9. August 2015.
(6) https://de.wikipedia.org/wiki/Sachsensumpf
(7) https://www.hrr-strafrecht.de/hrr/eugh/18/c-508-18.php
(8) https://www.neuerichter.de/startseite.html