Der deutsche Wiederholungszwang
Gerade was den Umgang mit dem Erbfeind im Osten betrifft, sind deutsche Politiker traditionsbewusst — sie wollen nur nicht daran erinnert werden, an wen sie da anknüpfen.
Wer sich sprachlich und literarisch dem Gleichklang widersetzt, von dem ist anzunehmen, dass er sich auch politisch als unbezähmbar erweist. Michael Sailer ist ein Paradebeispiel für diese Regel. Sein Text ist eher eine Sammlung von Einzelbeobachtungen zum politischen Geschehen als ein Artikel herkömmlicher Art. Einen gemeinsamen Nenner all dieser Betrachtungen gibt es dennoch: den neudeutschen Drang, sich von den Nazis zu distanzieren, um sich ihnen auf Umwegen dann doch immer wieder anzunähern. Speziell in Richtung Osten gerichtet, ist „zurückgeschossen“ damals wie heute der Tarnbegriff derer, die nicht zugeben wollen, dass sie dabei sind, anzugreifen. Von „Lebensraum im Osten“ bis „Zeitenwende“ spannt sich so ein weiter Bogen über das wechselvolle Schicksal der Deutschen. Auch wenn Sailers Artikel nicht auf ein klares Ziel zuläuft — der Weg dorthin, gepflastert mit grimmigem Humor, ist lohnenswert.
Eine Anmerkung vorab: Das Folgende ist eine Sammlung von Gedanken, nur teilweise geordnet, teils fragmentarisch, mäandernd, aber hoffentlich trotzdem wert, gehört zu werden.
Am 3. Oktober 1941 meldete sich Adolf Hitler nach monatelangem Schweigen öffentlich zu Wort — im Berliner Sportpalast, zunächst ungewohnt verhalten, dann aber so, wie man ihn kannte: Der im Juni mit Verspätung — weil erst noch Jugoslawien zerschlagen werden musste — begonnene Angriffskrieg gegen „die Russen“ sei unvermeidlich gewesen, um einem russischen Überfall zuvorzukommen, bellte er. In der Sowjetunion habe sich „gegen Europa eine Macht zusammengeballt, von der leider die meisten keine Ahnung hatten und viele auch heute noch keine besitzen“. Eine „einzige Waffenfabrik“ sei die UdSSR gewesen, eine „Waffenfabrik gegen Europa“. Ein „zweiter Mongolensturm“ habe gedroht! Diese Gefahr sei abgewendet worden, und die Nachwelt werde feststellen, dass damit eine „neue Zeitenwende“ begonnen habe. Auch diesen Kampf habe er nicht gewollt, er sei dazu gezwungen worden.
Hitler warf also seinen Taten Worte hinterher, andere hatten sie vorausgeworfen. Die Rote Armee sei an der Grenze aufmarschiert, die Kommunistische Internationale sei „konspirativ“ tätig, führe also einen „hybriden Krieg“, somit sei die UdSSR Deutschland „in den Rücken gefallen“, behauptete das Memorandum, das der deutsche Botschafter dem sowjetischen Außenminister am Morgen nach dem Überfall überreichte. Der deutsche Außenminister wiederum erklärte in seiner Note, die UdSSR habe sich „entgegen allen von ihr übernommenen Verpflichtungen und im krassen Gegensatz zu ihren feierlichen Erklärungen gegen Deutschland gewandt“ und sei „mit ihren gesamten Streitkräften an der deutschen Grenze sprungbereit aufmarschiert“.
Und Goebbels plärrte im Radio: „Zur Abwehr der drohenden Gefahr aus dem Osten ist die deutsche Wehrmacht am 22. Juni, drei Uhr früh, mitten in den gewaltigen Aufmarsch der feindlichen Kräfte hineingestoßen.“ Und zwar, na klar, zur „Sicherung Europas“. Es ging ja nur um „Schutz vor der Barbarei“, um „Freiheit als Ziel“! Was war den armen Deutschen, dem lebensgefährdeten Europa, denn anderes übriggeblieben? Hatte es nicht schon seit langem immer wieder „Provokationen“ gegeben, wusste nicht jeder, dass der Russe seit dem Urknall nichts anderes im Schild führte und auf ewig führen wird, als Deutschland und Europa anzugreifen, bis an die Atlantikküste zu überrennen und zu unterwerfen?
All das war gelogen, jedes einzelne Wort, wie jedes Schulkind weiß oder wenigstens wusste, solange es noch einen vernünftigen Geschichtsunterricht gab. Trotzdem schwadronierten noch in den achtziger Jahren vermeintliche Historiker über einen „Präventivkrieg“. Wie gesagt: alles gelogen. Die UdSSR hatte weder Pläne noch Absichten noch den geringsten Grund, Deutschland anzugreifen, weil da absolut nichts von Interesse zu holen war und man genug eigene Probleme um die Ohren hatte. Vielmehr kam der Überfall so überraschend, dass Stalin den Offizier, der ihn als Erster meldete, wegen vermuteter Trunkenheit aus dem Dienst entfernen ließ. Er konnte nicht glauben, dass Deutschland den erst 1939 geschlossenen „Nichtangriffspakt“ einfach so über den Haufen schmeißen würde.
Daran hat man sich in der Russischen Föderation, dem Restnachfolgestaat der UdSSR, inzwischen gewöhnt: Wenn Deutschland einen Vertrag schließt oder garantiert oder irgendwelche „festen Zusagen“ macht, dann werden die gebrochen, sobald sie ihren betrügerischen Zweck erfüllt haben — von der Wiederbewaffnung über die Kolonisierung des europäischen Ostens durch die NATO, den 2+4-Vertrag bis hin zu Minsk I und Minsk II ist kein Abkommen zu finden, an das sich Deutschland je gehalten hätte — zumindest nicht länger als es dem eigenen Ansinnen und den Plänen der Besatzungsmacht USA dienlich war. Die eigenen Ansinnen kamen dabei nicht etwa überraschend und spontan, sondern lagen seit vielen Jahren auf dem Tisch, sei es Hitlers Vorhaben, die UdSSR zu vernichten, sei es die NATO-Strategie zur „Dekolonisierung“, Zerschlagung und Unterwerfung Russlands.
Und heute? Müssen wir uns die gleichen Lügen erneut anhören, aus den Mäulern alerter Politiker, die behaupten, Russland wolle Europa schon wieder überfallen.
Die Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg, tönt der unbelehrbare Generalstabsoffizier Roderich Kiesewetter, sei nicht etwa, Russland endlich in Ruhe zu lassen, sondern: „Wenn Russland nicht eingedämmt wird, machen sie weiter!“ Und schon droht der nächste „Mongolensturm“, der eben nur „präventiv“ eingedämmt werden kann.
Die Parallelen sind trivial und banal; Zündpunkt der Eskalation des Krieges war damals wie heute das Baltikum, wo die EU-Kriegsministerin Kallas herkommt und wo man es vor lauter SS-Verehrung gar nicht erwarten kann, endlich loszuschlagen. Auch die Lügen, die als Vorwand für den Angriff herbeigezerrt wurden, gleichen sich so frappierend, dass man die Unterschiede mit der philologischen Lupe suchen muss — etwa was exakte Orte und den genauen Verlauf russischer Öl- und Gasgeschäfte mit Deutschland betrifft. Die ukrainischen Stellvertretertruppen tragen sogar zu einem nicht geringen Teil dieselben Uniformen und Symbole und feiern dies gar noch als „Tradition“. Dass man die Runen und Hakenkreuze in Deutschland heute nicht mehr so gerne sieht, sie vielmehr ausblendet und verleugnet, ist dem rudimentären Geschichtsunterricht zu verdanken.
Auch die Sprache ist die gleiche geblieben. Olaf Scholz’ „Zeitenwende“ unterscheidet sich von Adolf Hitlers „Zeitenwende“ nur im Tonfall. Wenn der Kriegsminister Pistorius deklamiert, mit Bildung und Sozialleistungen könne Deutschland nicht „verteidigt“ werden, meint er „Kanonen statt Butter“, und die Girlanden mit der angeblich nötigen „Verteidigung“ haben Goebbels, Streicher und andere schon damals wortreich um das Monstrum der totalen Kriegswirtschaft geflochten.
Ich könnte jetzt Stunden damit zubringen, deutsche Politiker der Gegenwart zu zitieren, wie sie deutsche Politiker des „Dritten Reichs“ zitieren. Stunden wären nicht genug allein für zwei durchgeknallte Kriegshetzer wie Strack-Zimmermann und Kiesewetter, die ihre völkisch-reichsbürgerlichen Wahnphantasien fast täglich im deutschen Staatsfunk zelebrieren dürfen oder vielmehr müssen, weil ihre Auftraggeber und Profiteure ihnen sonst nichts mehr zahlen.
„Wir erleben eine Zeitenwende“, schwurbelte also der von einigen immer noch als „Sozialdemokrat“ diffamierte Wirtschaftskriminelle Olaf Scholz 2022 in den Bundestag hinein, wo sich aufgrund der Bildungskatastrophe niemand mehr erinnern konnte, wo er den Begriff herhat. Worum es ging, war hingegen klar: Waffen her! Im Gleichschritt Marsch auf Stalingrad!
Und sein Nachfolger Merz? Der spricht nicht einmal mehr zu seinem „Volk“, das er fürchtet und hasst wie generell jede Kreatur, wenn sie nicht aus Geld besteht. Das er fürchtet und hasst, weil es ihn ja davon abhalten könnte, an der weiteren Entwicklung seiner eigenen Bankkonten und der eventuellen Anschaffung eines dritten Privatjets zu werkeln. Nein, der quakt seine Kriegserklärung bei einem „WDR-Europaforum“ — für das die letzten paar hundert GEZ-Zahler die Zeche blechen müssen — ins Talk-Mikrophon, als wäre dieser Krieg, diese Massenabschlachtung mit deutschen Waffen, ein „Format“ fürs Frühstücksfernsehen. Wie könnte man so einen oder solche mit Hitler vergleichen?
Übrigens schafft es der Marschflugkörper „Taurus“ im Gegensatz zu britischen und US-amerikanischen Modellen tatsächlich bis nach Moskau und Stalingrad, wie einst die deutsche Wehrmacht, als es solche Raketen noch nicht gab und man den slawischen Untermenschen noch händisch ermorden musste.
Wieso all dies, dieser kollektiv-totale Wiederholungszwang, der zuverlässig in den gleichen Abgrund führen wird wie 1945, kaum jemandem auffällt, mag ein Rätsel sein. Möglicherweise kommt hier die während der „Corona“-Kampagne gedrillte kognitive Dissonanz zum Zug: Was man sieht und hört und weiß, ist falsch; wahr ist nur das, was die Propaganda sagt, die aus Kloaken wie „T-Online“, ARD, ZDF, „Zeit“, „Spiegel“, „SZetera“ seit Monaten und Jahren in einem solchen Sperrfeuer herausschießt, dass selbst der Widerständigste hin und wieder meinen möchte, in einer Parallelwelt zu leben. Vielleicht ist es auch so, dass man zwei Dinge, die weitestgehend deckungsgleich sind, irgendwann so sehr nicht mehr unterscheiden kann, dass das eine — das Original sozusagen — praktisch unsichtbar wird, zumal man auch davon zugleich ein passendes Zerrbild erstellen und es ebenfalls unablässig wiederholen kann, bis es fast wirklich erscheint.
Was sich ein beliebiger Untertan heute unter dem „dritten Reich“ vorstellt, hat folglich mit diesem kaum noch etwas zu tun. Es ist eine künstliche „Framing“-Schablone, die man umstandslos auf Russland, den Iran, China draufpressen kann, wie schon auf Jugoslawien, Irak, Libyen, Syrien und Afghanistan, je nachdem wer gerade „Feind“ ist und gehasst werden muss, notfalls auch die USA, wenn deren erratischer Präsident eines Morgens beim Frühstücksspeck beschließt, er habe keine Lust mehr auf den Krieg, den Deutschland so dringend will und braucht.
Ein paar Drehungen und Umkehrungen sind dazu nötig. Was Ignazio Silone einst über den Faschismus schrieb — wenn er wiederkehre, werde er sich nicht „Faschismus“ nennen, sondern „Antifaschismus“ — gilt auch für die Gestalten und Figuren, die derzeit das deutsche Fremd- und Selbstzerstörungsritual ein drittes Mal vollziehen: Es muss immer wie „anti“ ausschauen, sonst macht keiner mit. Vielleicht liegt hier das philosophische Geheimnis von Annalena Blablubbs 360-Grad-Wendung.
Schon der Führer war ja das optische und rhetorische Gegenteil eines Kaisers gewesen: schwitzig-schwiemelig, pseudoproletarisch, schmucklos dunkel leuchtend, als wäre er direkt aus dem schlammigen Schützengraben gestiegen, dem sich ein Wilhelm nie genähert hätte. So wie sich Hitler als antimonarchistische Novität verkaufte, dazu den Begriff „Sozialismus“ einer gesamtvölkischen Gruppenvergewaltigung unterzog und Preußens krebszerfressene Glorie endgültig hinwegzublasen versprach, so kämpfen nun mit Scholz und Merz die absichtlich auralosen Wackeldackel um ein neues altes Gesellschaftsmodell: Wogegen sie sich „entschieden“ zu stellen simulieren, ist aber hier wie da im Kern das gleiche, lediglich optisch ins Gegenteil gestülpt oder — sorry, das muss sein — „auf links gedreht“, wie man früher bei Textilien sagte. Oder eben auf rechts, weil ja der Adolf in Wahrheit ein Linker war, gelt?
Merz nun will es nicht mehr recht gelingen, das nächste innerlich gleiche Gegenteil — zum Scholz — darzustellen, weil er vom Vorgängerregime den Kriegsminister und den militärischen Oberbefehlshaber einfach übernommen hat — wie das die „Bundeswehrmacht“ (K. Adenauer) bei ihrer zwangsweisen Einführung ja ebenfalls tat, notgedrungen.
Weil das Alte halt immer im Faschingskostüm des komplett anderen Neuen daherkommen muss, damit man nicht merkt, dass man Übel durch Übel auszutreiben versucht, den verrosteten eisernen Besen mit dem eisernen Besen hinauskehrt. Da war aber wohl der Abstand trotz inszenierter Verzögerung (eine Art simulierte erneute „Zeitenwende“) zu kurz, zudem sieht Merz aus wie eine etwas in die Länge gezogene Kopie des Vorgängers, ist wie dieser bis zum Kragen in die tiefste (oder höchste) Kapitalkriminalität verstrickt und werkelt ja am selben Kriegsprojekt, das jener unvollendet liegenließ und das er nun energisch durchpeitschen soll.
Wenn’s nicht so blöd und akademisch trocken wäre, könnte man vielleicht als Vergleich Hitlers Wandlung heranziehen, die er vollzog, nachdem mit dem Tod des Reichspräsidenten Hindenburg der letzte Rest Kaiserei in die Latrine geschwemmt war und der nun auch offiziell als solcher beamtete „Führer“ in seiner ganzen Modernität erstrahlen konnte. Einen Hemmschuh wie Hindenburg spart man sich heute. Er ist ja auch nicht mehr nötig, um verkrustete Altmonarchisten zu überzeugen, und so gibt Hindenburgs Parodist Steinmeier nicht mehr ab als einen Spiegel, der das widerliche Geschwätz der Kriegstreiber aus der anderen Richtung auf die Masse zurückschmeißt.
Derweil meldet eine vermutlich regimefinanzierte GONGO namens „Bleibt stabil“, die Stadt Herne sei „stabil“ — im Sinne des ehernen „Bleibt stabil“-Dogmas:
„An einem stabilen Ort gibt es keine Zusammenarbeit, keine Bühne, keinen Raum für Rechtsextreme. In einem stabilen Restaurant haben Rechtsextreme keinen Zugang, in einem stabilen Unternehmen werden Rechtsextreme nicht angestellt, in einem stabilen Kiosk liegen keine rechten Zeitschriften aus. Wir wollen uns vernetzen als Orte und Initiativen der Vielfalt. Wir wollen einen aktiven Beitrag dazu leisten, dass wir unseren Rassismus verlernen und Diskriminierung entgegen treten.“
Und zwar, na klar, durch Diskriminierung, strukturellen Rassismus, glühenden Hass und ein ausreichendes Maß an Erblindung und Verblödung, um nicht zu bemerken, dass auch dies nichts anderes ist als eine Imitation der „Judenfrei!“-Kampagnen der Nazizeit. „Wer Jude ist, bestimme ich!“ hieß es damals. Wer „rechtsextrem“ ist, bestimmt heute die geheime Staatspolizei, die sich in orwellscher Manier „Verfassungsschutz“ nennt und dem Befehl des Innenministers unterworfen ist.
So geht das, wenn sich die Geschichte wiederholt, was sie ja angeblich nie tut: Sie imitiert sich dann als Selbstparodie, als die erbärmliche Farce, die sie schon beim letzten Durchlauf war, was man aber immer erst hinterher bemerkt, so wie der einsame Pornokonsument, der stets aufs Neue meint, echte Lust zu erleben, und sich hinterher ekelt vor sich selbst und dem klebrigen Leintuch. Was ihn nicht davon abhält, es nach einer Weile der Selbstscham erneut zu versuchen, mit „frischen“ Gesichtern und Leibern, versteht sich.
So solidarisiert man sich also mit Nazis, schickt eigene Nazis — von der Partei „Der III. Weg“ rekrutiert, von NATO-Offizieren ausgestattet und gedrillt — als „Deutsches Freiwilligenkorps“ zur Verstärkung an die bröckelnde Front — Verzeihung: „Ostflanke“ —, lügt die Nazis aber zu Freiheitskämpfern um und retuschiert zufällig ins Bild geratene Hakenkreuze und SS-Runen eifrig weg. Derweil feiert die Propaganda mindere, teils frei erfundene Triumphe und prophezeit in zunehmend kabarettistischer, wenn auch unfreiwilliger Pompösität den nahenden Endsieg — so laut und unablässig, dass nur die vereinzelten Zweifler die Absurdität des Theaters wenigstens noch ahnen. Um den NATO-Generalsekretär Mark Rutte zu zitieren: „Die Ukraine kann nicht verlieren, aber die Frontlinie verschiebt sich in die falsche Richtung.“
Während sich Hitler noch blitzartig brüstete, seit 5 Uhr 45 werde „jetzt zurückgeschossen“, wollte Scholz erst mal Heizdecken, Helme und Schraubenzieher liefern und dann erst die Panzer, bei deren erster Charge man auch noch peinlichst betonte, sie seien rein defensiv, weil sie ja nur nach oben schießen könnten und nicht nach vorne.
Merz wiederum brabbelt zwar, schweigt sich aber so komplett aus wie damals der Führer, wenn es darum geht, ob die „Taurus“-Raketen samt zugehörigem Bundeswehrmachtspersonal denn nun schon drüben und scharf sind. Höchstens finden sich im Bukett seiner Lügen verschwurbelte Eindeutigkeiten wie diese: „Wir nennen das im Jargon Long-Range-Fire. Also auch mit Waffen die Ukraine auszustatten, die militärische Ziele im Hinterland angreifen.“ Dass damit das eigene „Hinterland“ — also unter anderem die Stätten, wo das Long-Range-Fire-Zeug zusammengeschraubt wird, wie „Taurus“ in Schrobenhausen — ebenso angreifbar ist und angegriffen werden wird, muss man sich eben dazu- oder vielmehr wegdenken, um nicht in Defaitismus zu verfallen.
Nicht vergessen sollte man, wer da heute herrscht und regiert im „besten Deutschland“ aller Zeitenwenden: Das sind eben zum allergrößten Teil nicht die Nachfahren von Widerstandskämpfern, Juden, Pazifisten, Kriegsgefangenen oder Kommunisten — die man übrigens ein Jahrzehnt nach ihrer Befreiung ins Zuchthaus zurückschickte. Sondern es sind meistenteils Kinder und Enkel von SS-Führern, Wehrmachtsoffizieren, KZ-Kommandeuren, Parteibonzen, Schergen des Reichs, dem sie wohl noch als Opas (und zum Teil auch Omas) nachtrauerten und diese schmerzliche Sehnsucht dem Nachwuchs ins ideologische Immunsystem träufelten. So konnte es geschehen, dass eine Baerbock öffentlich vom Kampf ihres Großvaters um „Europas Freiheit“ schwärmt, den leider die Rote Armee gewann.
Im Herbst 1941 standen Hitler und sein Deutschland auf dem Höhepunkt ihrer Macht. Die Europäische Union, die der Führer als Fundament seiner weiteren Planungen brauchte, war weitestgehend vollendet. Lediglich der Brexit, an dem der traditionell germanophobe Winston Churchill eisern festhielt, saß ihm wie ein rostiger Nagel im Hintern, aber da war eben vorläufig nichts zu machen, und immerhin drohte von den britischen Inseln keine unmittelbare Gefahr.
Der Beschluss, die Sowjetunion zu überfallen, erschien im Nachhinein vielen (nicht nur) Historikern als ungeheure Dummheit, als eine Art Selbstmord ohne Not. Tatsächlich aber war dies der ursprüngliche, der eigentliche Plan und alles, was zuvor geschehen war — insbesondere die gewaltsame Einigung Europas unter deutscher Führung —, lediglich notwendige Vorbereitung. Dabei darf man das wahnhafte Gerede vom „Lebensraum im Osten“, den das deutsche „Volk ohne Raum“ so dringend brauchte, um sich nicht gegenseitig auf den Zehennägeln herumtrampeln zu müssen, getrost als dummes Zeug abtun oder zumindest als Verbrämung dessen, worum es eigentlich ging: Bodenschätze und Rohstoffe, ohne die der deutsche Größenwahn mit seinem fragilen Konstrukt aus Pracht und Herrenmenschentum früher oder später zusammenbrechen musste.
Denn das galt schon damals: Waffen kann man nicht essen, aus Bomben keine Häuser bauen, mit Sprengstoff weder Eisenbahn noch Autos zum Rollen bringen, und das schönste Wirtschaftswunder ist keinen Pfifferling wert, wenn es auf Rüstung beruht. Weil — wie gesagt, Waffen keine „zukunftsfähige“ Investition sind, sondern die nutzlosesten Konsumartikel, die es nur geben kann: Ihr einziger Zweck sind Mord und Zerstörung, die zwar immerhin unnütze Esser beseitigen und der Bauwirtschaft helfen, sonst aber nichts und niemandem.
Es war damals nicht ganz leicht, das deutsche und das europäische Volk von der Unerlässlichkeit dieses Krieges zu überzeugen. Normalerweise dauert es ziemlich genau ein Lebensalter, bis so gut wie alle, die den letzten Krieg noch erlitten und überlebt haben, ausgestorben sind und man eine neue Generation in den nächsten Wahnsinn hineintreiben kann.
1941 war das große Schlachten des Ersten Weltkriegs, das die bis dahin unvorstellbare Zahl von (grob geschätzt) 17 Millionen Menschenleben gekostet hatte, gerade mal 23 Jahre her.
Nur dank einer bis dahin ebenfalls unvorstellbaren Propagandakampagne konnte es gelingen, die Angst vor der „jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung“, deren Nest Moskau war, in die Köpfe wenigstens einer hinreichenden Zahl von Volksgenossen hineinzuhämmern. Der einzige Fehler, den Hitler, Goebbels und ihre Reklameindustrie dabei machten, war vielleicht, die diffusen Wellen von Hass und Angst auf etwas ebenso Diffuses wie eine ungreifbare Verschwörung zu lenken statt auf die zentrale Person des großen, bösen Satans und Weltzerstörers Stalin. Vielleicht war der als geborener Georgier auch einfach nicht russisch genug. Da immerhin ist man heute schlauer: Nach fünfzehn Jahren ununterbrochener „Putin ist gleich Hitler!“-Beschallung und der begleitenden Indoktrination einer „russisch-rechten Weltverschwörung“ findet man kaum noch einen Deutschen, der nicht bei der bloßen Erwähnung des Namens des russischen Präsidenten ins Schäumen geriete und touretteartig sämtliche Horrormärchen vom diktatorischen Autokraten ausstieße. Mindestens zwei, wenn nicht sämtliche lebenden Generationen von Deutschen haben gegenüber Russland nie etwas anderes gelernt als Hass, von ein paar Wochen „Gorbi“-Karneval mal abgesehen. Und an den zweiten Weltkrieg kann sich niemand mehr erinnern.
Wichtig ist hier vor allem der Nachwuchs, deshalb tobt der totalitäre Tugendterror besonders intensiv an Schulen. 2021 brüllte die Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, sie habe „einen politischen Auftrag“, der „über Bildung hinausgeht“, und man fragt sich: Wohin geht er denn hinaus, dein „politischer Auftrag“? Klar: Die Dame versteht sich und ihre Organisation „ausdrücklich als antifaschistische Organisation und Stimme. Es ist unbedingt notwendig, gemeinsam und solidarisch gegen Rechts zu kämpfen. Wir sind nicht neutral!“ Wobei — wie erwähnt — „rechts“ heute im Grunde alles ist, was früher mal „jüdisch-bolschewistisch“ war: also überhaupt alles, was dem volksgemeinschaftlichen „Konsens“ nicht entspricht, sei es auch nur ein Sprechfehler beim „*innen“-Knacks oder der vorsichtige Einwand, Kohlensäure sei so schlimm nun auch wieder nicht.
Besonnene Zeitgenossen mögen einwenden, Antifaschismus sei ja an sich nichts Schlechtes und da schäume eben ein erhitztes Gemüt im Furor der Spiegelfechterei gegen Windmühlen ein bisserl über. Ich hingegen erinnere an den zitierten Herrn Silone und wende ein, dass das Geplärr erstens klar gesetzeswidrig ist (weil Lehrer und Erzieher grundsätzlich politisch neutral sein müssen), zweitens kein Einzelfall, sondern lediglich ein Beispiel für den insgesamt tobenden aufgepeitschten Hass und drittens genau das, was anderswo offenbar nicht mehr zu finden ist: faschistisch nämlich. Was bedeutet: Staat und Kapital und alle sittenreinen gesellschaftlichen Kräfte zu bündeln und mit dem solcherart gebildeten volksgemeinschaftlichen Schlagwerkzeug den Abweichlern, Defaitisten, Querdenkern, Außenseitern und zu inneren Feinden erklärten Andersdenkenden den Schädel zu vertrimmen — erst mal nur quasi symbolisch — durch Ab- und Ausgrenzung, Niederbrüllung und irgendwann dann möglicherweise auch ganz handfeste Knüppelung. Erinnert sich noch jemand an die „Corona“-Hasskampagne, an die verbalen, juristischen und wasserwerferlichen Ausschreitungen gegen jeden, der sich der Genspritze entzog?
Vielleicht ist auch das der Grund, weshalb Deutschlands Wiederholungszwang nur den wenigen auffällt, die davon nicht infiziert sind: Das ganze Theater imitiert derart deckungsgleich das Vorgehen der deutschen Obrigkeit und der kompatibel braven Untertänigkeit in den Jahren ab 1933 und — in milderer Form — 1871, dass man sich mangels Unterschied für das exakte Gegenteil halten kann, bloß weil die Uniformen — zumindest die zivilen — diesmal anders aussehen und die allgegenwärtige weltanschauliche Beflaggung ein neues Symbol in die Welt rammt.
Schon 1993 — damals noch skandalträchtig — beklagte der notorische Ernst Nolte, die moralisch degenerierten Bundesdeutschen seien „ihrer Tendenz nach eine todverneinende Gesellschaft“, weil sie „den Opfertod nicht zu rechtfertigen“ vermochten. Da hatte er nicht ganz unrecht, war es doch gerade die ausschließlich auf Opfer und Todeskult fixierte Naziideologie, die man abgeschüttelt zu haben glaubte. Inzwischen ist es allenthalben vorbei mit der weichlichen „Lebensbejahung“, mit der ein Endsieg zum alltoten „Frieden“ nun mal nicht zu „erringen“ (Steinmeier) ist.
Heute brüllt ein Egon Flaig in der FAZ: „Im Dunstkreis solcher Gesinnung scheuen Rechtsgelehrte nicht davor zurück, die Individualrechte zu verabsolutieren und zu dekretieren: ‚Das Freiheitsprinzip der Verfassung schließt jede rechtliche Inanspruchnahme des Menschen für letzte Güter, Ziele, Zwecke oder Werte aus, die ihn übersteigen.‘ (Hasso Hofmann)“.
Was der Kerl da flammend geißelt, sind nicht weniger als die unveräußerlichen Menschenrechte, die Artikel 1, 2 und weitere des Grundgesetzes und ihre wiederholte Untermauerung durch das Bundesverfassungsgericht. Er fordert also die Überwindung der „freiheitlich-demokratischen“ Grundordnung und ist somit ein Verfassungsfeind. Das kümmert im allgemeinen Rummel „gegen rechts“ aber niemanden mehr — ebenso wenig wie die folgende völkisch-extremistische Tirade: „Die Ukraine kämpft einen gründenden Krieg, in welchem das multiethnische und plurisprachliche ukrainische Volk zur Nation wird.“
Derartig ultrarechtsextremes Geschrei hätte noch unter Helmut Kohl ohne Zweifel zum sofortigen Ausschluss aus der CDU geführt, und so etwas an einer Universität zu verbreiten zu einem Aufstand mindestens der Studenten. Nun bin ich ein Verfechter der Meinungsfreiheit und des Pluralismus und finde, dass man auch so einen anhören muss, um zu wissen, woran man ist. Aber was genau stört Leute, die sich an solchen Thesen aufgeilen und sie gedanklich wohl auf Deutschland und das EUropäische Reich übertragen, eigentlich an Björn Höcke oder Martin Sellner? Dass die den Krieg nicht wollen, wenigstens nicht sofort?
Man huldigt nun also den Führern im schimmernden Ornat, die sich ohne ehedem noch hinderliche bürgerliche Skrupel der Höflichkeit bereichern, man feiert die Pflicht zum Verzicht und zum Opfertod und geißelt den „Neid“ derer, denen Kommissbrot und Graupensuppe nicht schmecken mögen, die noch immer von altmodischem Kram wie einer individuellen Freiheit träumen, wo es „Freiheit“ doch nur volksgemeinschaftlich geben kann, als vernichtenden „Kraftakt“ mit galoppierender „Schlagzahl“. Zugleich gibt man sich „weltoffen“, wenn es gilt, Rekruten aus bombardierten Kolonien anzuwerben, weil man selber für den Schützengraben vom Seelengefühl her noch nicht ganz bereit ist. Zugleich dünstet man die schafsköpfige Sklavenseele in wohlfeilem Pseudo-Anti-Schmalz, trägt gebügelte ACAB-Leibchen aus dem Online-Shop, der vor ein paar Wochen noch „Geimpft und stolz“-Armbinden verscheuerte.
Das Wort „Lüge“ ruft nur noch ein Gähnen hervor, weil man wie damals zumindest unbewusst weiß: Es ist nicht so, dass diesem Regime hin und wieder eine Falschaussage unterläuft — nein, es ist alles gelogen, jedes Wort, egal um was es geht.
Die Lüge ist die Grundstruktur einer Propaganda, die etwas verkaufen oder vielmehr den Menschen einbläuen soll, was keiner will. Und zwar so lange, bis sie es eben doch wollen, dann erst recht. Dann weiß man, dass alles eine Lüge ist, und bestraft den Renegaten, der die Lüge eine Lüge nennt, weil man selbst im höchsten Rausch das Erwachen irgendwie doch noch fürchtet.
Der Humor dieses neu erstandenen Volks, den ihm stramme Mehrheitssatiriker in Staatsfunklogen servieren, ist ein Stahlbad mit keckerndem „Ho ho!“, über Tritte von oben nach unten, auf den „Blinddarm“ und die „Ratten“, eine ätzende Brühe aus Hetze und Häme, die sogenannte „Instinkte“ weckt, die man dann auf die Straße tragen kann, beim betreuten Aufmarsch, untergehakt mit den Führern, dirigiert von den Vorskandierern, ein millionenkehliger Fischer-Chor der Niedertracht, die Haltung, Gesicht und Flagge zeigt. Man grölt diesmal nicht „Mit dem Führer für den Weltfrieden!“, sondern „Ganz XY hasst die AfD!“, aber die Botschaft ist auch hier die gleiche: Wir sind mehr! und deshalb sind wir „wieder wer“!
Trotzige Bamsen mit ondulierten Kaiserbärten gebärden sich im Straßenverkehr und im Alltagsumgang wie Dreijährige, die den Kopf an die Wand hauen, weil die Mama schuld ist, dass sie in die Heia müssen, um anderntags im Sandkasten wieder „ranklotzen“ zu können für Europas Aufschwung. Auf einer heiligen Messe der „Digitalkultur“ feiert man die Wehrpflicht als Errungenschaft des Volkswillens — unter dem Titel eines PC-Killerspiels („Call of Duty“), das einst als höchst verdächtig und „Pipeline nach rechts“ verpönt war. In den Vasallenstaaten, die zum Aufmarsch gebraucht werden — und wahrscheinlich nicht nur dort — manipuliert man derweil Wahlen, verhaftet unliebsame Kandidaten oder — falls doch mal einer durchgeht — lässt sie niederschießen.
Selbsternannte „Dichter“ sülzen hochtrabende Sentenzen, kotzen schwarzschwulstigen Mulm mit Endreim in das zum Poesiealbum kastrierte Feuilleton ihrer selbstredigierten Sozial-Media-Litfaßsäulen und in die Staatsmedien, als hätten sie ihr Leben lang nur Kolbenheyer, Karrasch, Blunck und Grimm gelesen, fordern mehr Gefühl und Kitsch und zugleich Rücksicht aufs empfindsame Seelchen wie die Aufrüstung des teutschen Gemüts zum inneren Stahlhelm des unbeugsamen Helden. Es scheint, dass ideologisch Anfälligen jedes Mal wieder die bloße theoretische oder vielmehr kollektiv erträumte Macht über Vernichtungsmittel den Wahn einflößt, noch ihr kleinster Nasenrammel sei eine Ausgeburt des Weltgeists.
Das gilt im Ansatz auch umgekehrt und wühlt so noch tiefer: Wer sich öffentlich etwa zu Israel „bekennt“, gilt der geheimen Staatspolizei automatisch als verdächtig, weil er damit doch nur seinen Antisemitismus tarnt, der in „Codes“ aber trotzdem durchscheint: Hat da nicht gerade jemand „Bill Gates“ gesagt, gar „Blackrockefeller“ oder Schlimmeres?
Und wir? Tun wir nicht das gleiche, folgen wir nicht demselben Muster, wenn wir uns seufzend zurückziehen ins biedermeierliche „innere Exil“, um abzuwarten und durchzustehen, was nicht zu verhindern ist? Wer weiß? Ich weiß es nicht.
Verzeihen Sie, liebe Leser, die Länglichkeit dieser Ausführungen und ihre mangelnde Stringenz. Haben Sie bitte auch Nachsicht, dass es mir nicht gelingen will, eine Lösung vorzuschlagen. Das vielleicht Schlimmste an der Entwicklung, an dieser gesamtgesellschaftlichen Wiederholung der Historie ist, dass die, die sie tragen, überhaupt nicht bemerken, was sie da tun und wer das Gleiche vor ihnen schon einmal getan hat. Aber wie hält man das auf?