Der digitale Tod

Nur Zombies wollen das Leben aus dem Netz bestellen.

Digitalisierung als Ausverkauf des Lebens: Thomas Wagner baut eine „Umfrage“ mit Prozenten Schritt für Schritt zu einem Bild der „menschlich-zombischen“ Gesamtlage aus und appelliert an die Erinnerung: Es war einmal ein Mensch, der das Leben nicht aus dem Internet bestellen, sondern es schlicht und einfach leben wollte — Sonnenbrand inklusive. Eine bitterbös-wahre und traurig-wunderschöne Abrechnung mit dem, womit längst abzurechnen wäre: mit dem Götzen der Digitalisierung. Bitte verbreiten — auch unter Zombies.

Menschen wollen keine Digitalisierung. Die meisten Menschen, mit denen ich gesprochen habe, wollen nicht, dass ihr gesamtes Leben digitalisiert wird. In meiner Umfrage sprechen sich sechsundachtzig Prozent der Befragten gegen eine Digitalisierung sämtlicher Lebensbereiche aus. Sie wollen mit Bargeld bezahlen können und haben große Angst, dass das Geld abgeschafft wird. Sie wollen selbst entscheiden, wie, womit und wann sie bezahlen.

Menschen wollen Geldscheine in der Hand halten und ihr Knistern hören und nicht einer Illusion vertrauen, die sie nicht einmal mehr sehen und anfassen können. Menschen wollen nach wie vor auf eine Behörde gehen, also sich körperlich dort einfinden, und vor Ort ihre Angelegenheiten regeln. Sie wollen Anträge auf Papier stellen können. Die Menschen wollen ihre Probleme persönlich und in direktem Kontakt mit einer zuständigen Person lösen, auch wenn es fast unmöglich geworden ist, eine zuständige Person anzutreffen. Das hängt aber damit zusammen, dass es immer weniger Personen gibt, die für eine Sache zuständig sein wollen. Kaum einer mag noch Verantwortung übernehmen, denn es droht immer von irgendwoher Schelte. Und die mag keiner, denn das fühlt sich beschissen an.

Wie dem auch sei: Menschen wollen, dass es lebende Personen gibt, die zuständig sind. Menschen wollen ihre Probleme nicht mit Computern besprechen. Denn sie haben die Erfahrung gemacht, dass dabei nichts herauskommt.

Ihr Telefon ist und bleibt tot, ganz gleich, wie oft sie dem Computer am anderen Ende der Leitung erzählen, dass sie vom Telefon ihres Nachbarn anrufen. Menschen wollen den direkten Kontakt zu anderen Menschen, wollen ihnen von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen oder -sitzen. Menschen wollen auch Kinokarten, Konzertkarten, Theaterkarten an einer Kasse kaufen können und mit Bargeld bezahlen. Und man sollte es kaum für möglich halten, Menschen wollen auch ihre Zugkarten an einem Schalter kaufen, hinter dem ein lebender Mensch sitzt. Solche Schalter gab es an jedem Bahnhof. Da soll mal einer sagen, das sei nicht besser gewesen. Und die Bahnhofshalle war immer sauber gekehrt, nirgendwo stank es nach Urin.

Heute quälen sich die Menschen mit einem Automaten herum, frieren sich dabei im Winter die Finger ab, verpassen dann ihren Zug und landen mit einer Lungenentzündung im Krankenhaus. Und wenn sie Glück haben — oder eher Pech — und kurzsichtig sind und sich keine Gleitsichtbrille leisten können und es trotzdem schaffen, eine Fahrkarte im Automaten zu lösen, dann fahren sie am Ende in die falsche Richtung. Auf die Frage, würden sie sich wieder einen Fahrkartenschalter in ihrem Bahnhof wünschen, hinter dem jemand sitzt, der ihnen eine Fahrkarte verkauft und sagt, zu welchem Gleis sie müssen, und sie damit vielleicht vor der Lungenentzündung bewahrt, haben immerhin zweiundvierzig Prozent der Befragten mit JA geantwortet; sechsundzwanzig Prozent wussten nicht, was ein Fahrkartenschalter ist; sechzehn Prozent der deutschsprachigen Befragten konnten mit dem Wort Bahnhof nichts anfangen.

Menschen wollen keine Digitalisierung der Schule, selbst die Lehrer wollen das nicht. Und die Kinder wollen erst recht keine Digitalisierung. Kinder gehen nämlich gerne in die Schule. Allerdings nicht, um dort irgendeinen Blödsinn zu lernen oder auf einen Lehrer zu treffen, der sie wie Deppen behandelt. Kinder gehen gern in die Schule, weil sie dort ihre Freunde treffen und später dann die erste Liebe finden.

In der Schule lernt man nicht für das Leben oder um später einen Beruf auszuüben und zu einem gutgläubigen Lasttier zu werden. Die erste Liebe zu suchen und zu finden, das ist der einzig wahre Grund, zur Schule zu gehen. Die erste Liebe besteht selten in einem Schulfach, auch wenn das schon vorgekommen sein soll. Die Menschen wollen keine Digitalisierung sämtlicher Lebensbereiche.

Um es ganz deutlich zu sagen, die Menschen scheißen auf die Digitalisierung. Was meinen denn Sie, weshalb in letzter Zeit so viel Klopapier gekauft wurde. Nicht etwa, weil die Leute glaubten, sie bekämen bald keins mehr und müssten sich wie früher ihren Hintern mit Blättern abwischen. Nein, sie ahnten schon, dass nach der Krise die totale Digitalisierung kommt und sie viel öfter würden scheißen müssen als zuvor. Was ja auch viel praktischer ist, weil sie zu Hause bleiben sollen. Stellen Sie sich vor, siebenundsechzig Prozent der Befragten gaben an, sie könnten nur zu Hause aufs Klo gehen.

Für Menschen ist es nicht gut, nur zu Hause zu sitzen, Menschen brauchen Auslauf wie ihre Hunde, und das nicht bloß, um Gassi zu gehen. Menschen wollen auch nicht ihre Reisen und ihre Hotels im Internet buchen, obwohl das günstiger und bequemer ist. Menschen wollen ins Reisebüro gehen und dort einem echten Menschen gegenübersitzen, der die Arbeit für sie macht und sich auch um Dinge kümmert, an die sonst keiner denkt.

Menschen wollen Bücher und Zeitschriften im Buchladen kaufen oder Filme im Kino ansehen. Menschen wollen anfassen und riechen können, was sie lesen, und mit anderen zusammen einen Film bestaunen — am besten in einem abgedunkelten Raum, in dem sich nur Leute aufhalten, die frisch geduscht sind und eine gesunde Verdauung haben. Menschen brauchen Bewegung und Abwechslung, sie wollen nicht bequem sein und alles geschenkt bekommen, Menschen brauchen Herausforderungen, auch wenn das bedeutet, sich die Beine in einer Warteschlange in den Bauch zu stehen und im schlimmsten Fall keine Eintrittskarte mehr zu erhalten. Menschen wollen im Restaurant in einer echten Speisekarte blättern und nicht an einem Flachbildschirm scheitern.

Wie? Sie glauben das nicht? Die Mehrzahl der Menschen regelt lieber alles bequem von zu Hause aus, sagen Sie. Menschen sind mehr mit ihrem Handy beschäftigt als mit Denken und schauen sich Filme nicht länger als dreißig Sekunden an. Das ist zwar traurig, scheint aber zu stimmen. Doch leider haben Sie dabei eine Kleinigkeit übersehen:

Das sind keine Menschen.

Denn nur Zombies meiden für gewöhnlich den Kontakt zu anderen Menschen, verkriechen sich in ihren Löchern, regeln alles mit ihrem Computer und starren die meiste Zeit stumpfsinnig vor sich hin.

Nur Zombies kaufen im Internet und erledigen Behördenangelegenheiten aus ihren Löchern heraus im Internet, gehen auf Kreuzfahrt und haben Angst, die Zombieapokalypse zu verpassen.

Wikipedia verrät uns, nach einer Definition des französischen Ethnologen Michel Leiris – Zombies seien „Individuen, die man künstlich in einen Scheintodzustand versetzt, beerdigt, dann wieder ausgegraben und geweckt hat und die infolgedessen folgsam wie Lasttiere sind, da sie ja gutgläubig annehmen müssen, dass sie tot sind.“

Auch wenn man dem Internet nie ganz trauen darf, so trifft diese Definition den Nagel auf den Kopf: Scheintote, die folgsam sind wie Lasttiere — ist das nicht das, was die meisten von uns immer dann sind, wenn wir nicht schlafen?

Jetzt höre ich, wie Sie laut ausrufen: „Ha! Haben wir dich endlich erwischt, du Schelm, schaust bei Wikipedia nach statt in einem Lexikon und versuchst uns das Internet madig zu machen — bist doch selber ein Zombie!“

Also gut, sage ich, wir Zombies haben keine Kontakte zu Menschen, nur zu anderen Zombies, und suchen im Internet nach Antworten auf die Frage, wer wir sind. Haben wir dann endlich eine Antwort gefunden auf unsere existentiellen Fragen, können wir nichts damit anfangen. Aber wir Zombies können uns freuen, was wir natürlich nicht tun, weil wir keine Gefühle haben. Also, wir Zombies könnten uns freuen, wenn wir es denn könnten, weil die totale Digitalisierung sämtlicher Lebensbereiche kommen wird. Sie wird kommen, aber nicht, weil wir Zombies das wollen. Wo kämen wir denn da hin?

Was Zombies wollen, ist völlig belanglos — genau wie das, was Menschen wollen. Denn es gibt außer Menschen und Zombies noch eine weitere Spezies auf diesem Planeten: Mächtige und Reiche. Und genau die wollen die totale Digitalisierung.

Reiche wollen die totale Digitalisierung, um noch reicher zu werden. Mächtige wollen die totale Digitalisierung, um noch mächtiger zu werden. Davor sollten Menschen und Zombies wirklich Angst haben.

Zombies ist das egal, Zombies kennen weder Angst noch Freude. Zombies sehnen sich nach Leid und Schmerz, nach Herrschaft und Sklavendasein, aber alles ohne Gefühl — wie Lasttiere, die gutgläubig annehmen, dass sie tot sind.

Aber Menschen, Menschen wollen das, was sie schon seit Millionen von Jahren wollen: Sie wollen leben, sie wollen, dass es ihren Familien gut geht, sie wollen wohlschmeckende Speisen genießen oder einfach nur satt werden. Sie wollen Magie und Zauber, sie wollen die Sterne sehen und die Erde unter ihren Füßen hören, sie wollen den ersten warmen Frühlingstag auf ihrer Haut spüren, sie wollen den Geruch aufbrechender Blüten einatmen. Sie wollen das Unaussprechliche in Bildern festhalten und um Worte ringen. Menschen wollen mit anderen Menschen lachen und Geschichten erzählen — und sie wollen Sonnenbrand und Sex.

Zombies glauben, dass man das alles im Internet bestellen kann, und sie versuchen es. Zombies glauben aber auch, dass man Handys essen kann, und sie tun es. Zombies waren schon immer vielseitig. Zombies kaufen Schuhe bei Zalando und Bücher bei Amazon, Zombies bezahlen nicht bar, sondern mit PayPal, Zombies besitzen die besten Stühle, die es auf der Welt gibt, und die schnellsten Internetverbindungen. Zombies verhungern vor ihren Computern und Zombies haben keinen Sex. Und keinen Sonnenbrand. Das brauchen sie auch nicht, um sich fortzupflanzen.

Denn Zombies kommen nicht als Zombies auf die Welt. Auf die Welt kommen nur Kinder. Und Kinder werden von Menschen geboren. Kinder sind immer Menschen. So lange, bis dann im Laufe ihres Erwachsenwerdens irgendetwas fürchterlich schiefläuft und sie sich durch einen Virus in Zombies verwandeln.

Es fängt an, wenn sie in den Kindergarten gehen und nimmt so richtig Fahrt auf, wenn sie die Schule besuchen. Dann schwächelt das Immunsystem, und die Totengräber beginnen ihre Arbeit. Der Virus treibt die Verwandlung voran, und in der zweiten Dekade erfolgt dann die Zombieinitiation: Die Zombies werden beerdigt, ausgegraben und geweckt und durch das Geschenk einer Xbox, eines Smartphones oder Tablets in den Stand des neuen Erdenbürgers erhoben.

Eines ist gewiss, die Menschen wollen keine Digitalisierung sämtlicher Lebensbereiche. Menschen wollen so etwas nicht, Menschen können so etwas nicht wollen. Die Menschen scheißen auf die Digitalisierung, und sie haben jetzt genug Klopapier, um sich danach den Hintern abzuwischen.

Was unsere Politiker und Manager leider nicht bedacht haben: Die Abwasserkanäle lassen sich einfach nicht digitalisieren, und Zombies scheißen auch — zwar nicht auf die Digitalisierung, aber ins Klo. Manchmal befinden sich in der Scheiße der Zombies noch Kleinteile der Handys, die sie gefressen haben und nicht verdauen konnten. Diese Kleinteile verstopfen dann zusammen mit dem Klopapier die Abwasserkanäle, was zu erheblichen Problemen führt, für deren Lösung sich niemand verantwortlich fühlt.

Und je mehr Verfechter der totalen Digitalisierung das Wort ergreifen, umso mehr verstopfen die Abwasserkanäle. Deshalb wird uns eines schönen Tages, wenn die totale Digitalisierung vollzogen ist, die Scheiße nicht nur bis zum Hals stehen.

Und vergessen wir das Trinkwasser nicht: Sauberes Trinkwasser lässt sich einfach nicht digitalisieren, genauso wenig wie guter Wein und gutes Essen und alles andere, was nicht nur den Leib, sondern auch die Seele zusammenhält und das Leben lebenswert macht — wie zum Beispiel Liebe, Sex und Sonnenbrand. Doch das wird uns allen erst richtig klar werden, wenn uns die braune Plörre über die Unterlippe schwappt.