Der europäische Patient

Die Angst vor Russland, die Russophobie, hat eine psychologische Dimension.

Die westliche Furcht vor dem großen Land im Osten, dort wo die Russen und viele andere Völker wohnen, wird geschürt — und zugleich sitzt sie tief. Daran haben das Ende des Kalten Krieges und der Untergang der als kommunistisch bezeichneten Sowjetunion nichts geändert. Das liegt auch daran, dass die Ursachen dieser Angst tiefer liegen und weit in die Zeit vor 1917 zurückreichen. Zugleich zeigen sich dabei grundlegende psychologische Prozesse, die in die Politik hineinwirken. Diese zu verstehen, kann helfen, der immer wieder neu angefachten und gezielt genutzten Angst vor Russland zu widerstehen. Das gilt zudem weit darüber hinaus.

Elf Jahre vor dem Ende der Sowjetunion, also im Jahre 1980, schrieb Norbert Elias in seinem Essay Die Fischer im Mahlstrom diesen prophetischen Satz: „Wahrscheinlich wären sie Gegner (Russland und die USA, Anm. des Autors), auch wenn beide in der kommunistischen oder beide in der kapitalistischen Weise regiert würden.“

Damals ging es um Abrüstungsverhandlungen und Elias war der Meinung, dass es nicht genüge, Abrüstungsverträge zu schließen, um den Kalten Krieg zu beenden. Man müsste auch die ideologische Hochrüstung reduzieren: „Aus der Nähe betrachtet, funktioniert keines der beiden Systeme so gut, dass es sich lohnte dafür zu sterben. Aber ein hochemotionales Phantasiedenken, das Korrelat der sehr realen Bedrohung, die beide Großmächte füreinander bilden, verwandelt zwei noch sehr unvollkommene Gesellschaftssysteme in die lebende Verkörperung ewiger Ideale und Werte. Manifest geschieht es vor allem im Namen dieser Ideale und Werte, dass sie einander als Feinde ansehen.“

Fehlende Demobilisierung des affektiven Arsenals

Es wird heute viel zu wenig erinnert, dass im Westen nie eine Demobilisierung des affektiven Arsenals aus dem ideologischen Stellungskrieg gegen den Osten stattgefunden hat. Zu diesem Arsenal gehören (leider immer noch) Bilder des Hasses, der Verachtung und des Misstrauens, die tief im kollektiven Gedächtnis des Westens verankert sind. Sie werden manifest in unzähligen schriftlichen oder mündlichen Überlieferungen, ja selbst in den nichtsprachlichen Intonationen, die mitschwingen bei Zentralbegriffen wie „Russe“ oder „Moskau“ oder „Kreml“. Würde man den alten psychologischen Versuch machen und ließe politisch wenig interessierte Zeitgenossen auf mehrstufigen Skalen von angenehm bis unangenehm, oder von freundlich bis unfreundlich, die Kennworte Washington, Moskau, Weißes Haus, Kreml, einordnen, so kämen vermutlich signifikante Unterschiede zwischen Amerika und Russland heraus.

Diesen Gefühlslagen, oder emotionalen Dispositionen, gehen keine erkenntnismäßigen Recherchen voraus, sondern sie wachsen, vor aller erkenntnismäßigen Befassung, Kindern und Jugendlichen beim Älterwerden zu. Sie sind also dem Erkenntnisprozess vorgeschaltet und beeinflussen unbewusst die Wahrnehmung und das daraus resultierende Weltbild. Was aus dem unendlichen Fluss des Geschehens ins Bewusstsein dringt, wird stark durch emotionale Dispositionen (Motivationen) beeinflusst. Und es wird nicht alles mit jedem Augen-Blick neu taxiert, denn Wahrnehmung ist zu großen Teilen nur ein Abgleich mit vorhandenen Erinnerungsbildern oder Bewusstseinsinhalten. Das Gedächtnis spielt also bei der Wahrnehmung eine erhebliche Rolle. Und es ist nun schon in dritter Generation vorprogrammiert mit den Gefühlslagen und fantasiegetränkten Erinnerungsbildern aus dem Arsenal des Kalten Krieges.

Siegestrunkene Selbstüberschätzung

Die emotionale Spannung des Kalten Krieges ergab sich aus dem Kontrast zwischen Selbstbild und Feindbild. Je negativer der Feind definiert wurde, desto positiver hob sich das eigene Selbstbild ab. Mit dem Untergang der Sowjetunion haben sich zwar im Osten die ewigen Ideale und Werte des Kommunismus und auch das Feindbild des Kapitalismus weitgehend verflüchtigt, nicht aber spiegelbildlich im Westen.

Nach dem Wegfall des Gegners hätte auch hier entspannteres, näher bei der Realität gelagertes Denken Platz greifen können. Aber das Gegenteil war der Fall. Die friedliche Überwindung des kommunistischen Systems war im Grunde ein Sieg der Völker der Sowjetunion. Der Westen interpretierte das jedoch als seinen Sieg im weltweiten Kampf um „Freiheit oder Sozialismus“. So führte der Untergang des gegnerischen Blocks zu einem kolossalen Schub an siegestrunkener Selbstüberschätzung.

Statt die Welt realistischer zu sehen, nahmen die Fantasieanteile im politischen Denken zu. Autoren verkündeten das „Ende der Geschichte“, eine „Neue Weltordnung“ wurde auf die Tagesordnung gesetzt, „humane Kriege“ wurden „angedacht“ und geführt und der Neoliberalismus wurde als Nonplusultra ökonomischer Weisheit gepriesen. Mehr denn je war der Westen von seiner moralischen Überlegenheit überzeugt und jene, die sich zur siegreichen Mannschaft zählten, formulierten sich fortan als Westliche Wertegemeinschaft.

In der Euphorie der Selbstüberschätzung hält man die eigene Moralität für das einzig Wahre und dieser Absolutheitsanspruch verwandelt die Westliche Wertegemeinschaft in eine pseudoreligiöse Glaubensgemeinschaft. Die Bezugnahme auf Westliche Werte, die in den letzten Jahren besonders von Sprechern der alten EU geübt wird, ersetzt den früheren Bezug auf christliche Werte. Diese neue Glaubensdoktrin, die in manchen Punkten dem christlichen Kanon widerspricht, wird mit missionarischem Eifer und ungebremster Arroganz dem Rest der Welt verkündet, auch wenn sich der Westen damit in eine Frontstellung zur übrigen Menschheit bringt. Die hat ein konservativeres Welt-, Religions- und Geschlechterverständnis. Dazu gehören übrigens auch die Staaten des ehemaligen Warschauer-Pakts.

Der Mensch ein Bilanzposten

„Ein paar Milliarden mehr Schulden bereiten mir weniger schlaflose Nächte, als hunderttausend Arbeitslose.“ Dieser legendäre Ausspruch Bruno Kreisky‘s markiert den Gegenpol zu einer marktradikalen Wirtschaftstheorie, die unter der Bezeichnung Neoliberalismus geläufig wurde und für die ein arbeitender Mensch nicht viel mehr ist als ein Bilanzposten. Welche Wirtschaftstheorie sich im Staatshandeln durchsetzt, ist auch ein Ausdruck der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse. Die alte Sozialdemokratie war eng mit der keynesianischen Sozialen Marktwirtschaft liiert. Der Neoliberalismus brach sich Bahn nicht nur durch die Abwahl der Sozialdemokraten aus Regierungsämtern, sondern auch weil viele Genossen statt ihres Parteibuchs ihre Weltanschauung wechselten.

Aus der Sicht des Neoliberalismus sind in der Tat ein paar Milliarden Schulden dramatischer als ein paar Millionen Arbeitslose. Den Global Players des Finanzkapitals ist der Neoliberalismus auf den Leib geschnitten und eine starke Anhängerschaft sitzt in der Brüsseler Administration. Mit der Digitalisierung haben seine Anhänger ein einzigartiges Medium in der Hand, um alle Lebensbereiche in allen Weltgegenden zu durchdringen. Wie sehr die neoliberale Weltsicht bereits gediehen ist, lässt sich beispielhaft am Bildungssektor ablesen.

Der Wert akademischer Einrichtungen wird zunehmend danach bemessen, welchen Nutzen ihr „Output“ für die Ökonomie hat. Gäbe es die Digitalisierung nicht, der Neoliberalismus müsste sie erfinden und umgekehrt gäbe es ohne Digitalisierung keinen globalen Neoliberalismus. In Anlehnung an Lenins einstige Verheißung: Kommunismus — das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes, könnte man sagen: Globalisierung — das ist Finanzmacht plus Digitalisierung der ganzen Welt.

Schein und Sein in der Wertewelt

Der stolze Bürger der Westlichen Wertegemeinschaft ist im wirklichen Leben ein bilanzfaktorielles Vorkommnis in den Gewinn- und Verlustrechnungen internationaler Spieler. Die vollkommen rechtlosen Leibeigenen des Frühmittelalters wurden bekanntlich im Himmel rehabilitiert, was ihre irdische Situation zwar nicht verbesserte, aber das Gottesgnadentum der Herrschaft stabilisierte und die Unterdrückung verklärte. Ähnlich wird heute die Härte neoliberaler Politik durch den Glauben an eine Westliche Wertegemeinschaft verklärt. Je mehr die Widrigkeiten des bürgerlichen Alltags den hehren Verheißungen widersprechen, desto lauter erklingt das Credo der westlichen Werte. Und mit großem Tätärätä blasen die Ritter vom Orden der Wertegemeinschaft zum Angriff auf äußere Feinde.

Inquisitor statt Politiker

Am 16. August 2020 verkündete ein Außenminister: „Wir verteidigen unsere Werte auch jenseits unserer Außengrenze“ (Heiko Maas auf Twitter anlässlich der Sanktionen gegen Belarus). Das Bekenntnis erinnert an das „Neusprech“ in George Orwell´s 1984. Die Einforderung westlich-orientierten Benehmens, außerhalb des eigenen Territoriums, hat nichts mit Verteidigung zu tun, sondern mit Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates, ist also eher als Aggression zu werten.

Er fühlt sich dazu berechtigt, weil er mehr als Inquisitor denn als Politiker auftritt, was der neuen pseudoreligiösen Dimension westlicher Politik entspricht. Der ungarische Regierungschef Orban spricht diesbezüglich von „moralischem Imperialismus“. Fast sieht es so aus, als wüchse in den oberen Etagen der Europäischen Union ein neues, moralapostolisch kostümiertes Herrenmenschentum heran.

Der Konstruktionsfehler der Europäischen Union

Mit der neoliberalen Privatisierung von kommunalen oder staatlichen Aufgaben und den zugehörigen Betrieben, ändert sich auch das Verhältnis der Menschen zu ihrem Gemeinwesen. Die Bindung an die Heimat, die Kommune oder den Staat ist ein hierarchisches Geflecht von Identifikationen. Wenn nationale Identifikationsobjekte beschädigt oder vernichtet werden, verringert sich die Identifikation der Bürger mit ihrem Staat. Erfahrungsgemäß ist nur mit jenen, die sich mit ihrem Gemeinwesen identifizieren, ein Staat zu machen. Möglicherweise sind die schleichende Ent-Nationalisierung und De-Identifizierung gewollt, im Sinne eines größeren Ganzen, eines zukünftigen europäischen Bundesstaates.

Wenn diese Rechnung aufgehen soll, müssten sich die Menschen mit der Europäischen Union zunehmend identifizieren. Aber die Europawahlen zeigen beharrlich, dass die Identifikation sehr gering ist. Den europäischen Völkern, soweit sie überhaupt gefragt wurden, hat man eine Staaten-Union zur Wahl gestellt, aber keinen zentralistischen Unionsstaat. So erweist es sich als Irrtum, zu glauben, weniger Nation bedeute mehr Europa. Der kardinale Konstruktionsfehler der Europäischen Union scheint darin zu bestehen, dass nie zu Ende gedacht wurde, wie sich die Metamorphose der Nationalstaaten zu einem Einheitsstaat vollziehen soll. Wenn man einen Korb ganz verschiedener Früchte, süßer und saurer, reifer und unreifer, zu einer Maische einstampft, entsteht alles andere als ein edler Tropfen.

Den Protagonisten eines Unionsstaates fehlt die zündende Idee, die einigende Agenda. Was bleibt, ist das Glaubenskonstrukt der Westlichen Wertegemeinschaft. Und die permanente Berufung darauf hat wohl ihre tiefere Ursache darin, dass es an anderen Ideen mangelt. Das würde erklären, warum die Brüsseler Wertewächter so empfindlich auf jede Abweichung von ihrem Moralkodex reagieren und erbitterte Kämpfe auf internen Kriegsschauplätzen führen, etwa um ungarische Einwanderungsquoten oder polnische Heiratsgesetze.

Die Beschwörung einer äußeren Gefahr

Ein alterprobtes Mittel, Widerstrebende zu einigen, ist die Beschwörung einer äußeren Gefahr. Die 1991 entschwundene Bedrohung durch den Feind im Osten hat sich der Westen mit wenigen Schritten zurückgeholt: Nato-Osterweiterung, Raketenstationierung in Polen und Rumänien, Maidan-Putsch und in dessen Folge Volksabstimmung auf der Krim. Endresultat: „Annexion“ und Wiedergeburt des alten Feindes.

Der Feind ist also wieder da, aber das alte Feindbild passt nicht mehr. Kapitalismus und Kommunismus sprachen tatsächlich einander die Existenzberechtigung ab. Aber das heutige Russland ist alles andere als ein erbitterter Gegner des Kapitalismus. Um die neue Gegnerschaft plausibel zu machen, musste politisches Denken erneut mit Russophobie angereichert werden, einer Russophobie, die im Grunde eine Neuinszenierung mit den alten Schreckgespenstern aus dem Arsenal des Kalten Krieges ist. Die Partitur wurde lediglich um jene Stellen gekürzt, die einen direkten Bezug zum Kommunismus haben.

In jüngster Zeit schürten gerade die Wortführer der EU die Russophobie in nie gekannter Weise. Das mag oberflächlich mit dem britischen Abgang zusammenhängen, der für die Strategen der EU ein Tiefschlag von epochalem Ausmaß sein muss, geradezu ein Trauma. Den Zusammenhalt der verbliebenen Horde sicher zu stellen, mag ihnen oberstes Gebot sein, daher die Beschwörung eines äußeren Feindes. Aber für das Ausmaß an Irrationalität, das diese Russophobie offenbart, mag es noch tiefer gehende Gründe geben. Es handelt sich bei den derzeitigen russophoben Wallungen um fantasiegeborene Konstruktionen beziehungsweise Unterstellungen, die ein selbstzerstörerisches Moment mit sich führen, denn sie gehen auf Kosten bereits vorhandener, wirklichkeitsnäherer Einsichten und lange erprobter Beziehungen. Wenn Politik selbstzerstörerische Momente in sich trägt, dann haben Emotionen die Oberhand gewonnen über nüchterne Kalkulation. Ross und Reiter haben die Rollen getauscht. Solches passiert nur in Zeiten epochaler Verunsicherung.

Exkurs: Im religiösen Erbe des Westens steckt Extremismus

Ideell betrachtet, lebt der christliche Westen in einer mittelalterlich-neuzeitlichen Schizophrenie. Das Weltbild ist den modernen Naturwissenschaften verpflichtet, nachgalileisch-humanistisch, während der göttliche Kosmos archaisch-vorgalileisch geblieben ist. Da gibt es Himmel und Hölle, Gott und den Teufel, Erlösung und Verdammnis. Der erbsündige Christ lebt in einem permanenten Belagerungszustand durch das Böse. Zwar wird das Reich Gottes dereinst kommen, aber bis dahin ist der Teufel der große Versucher.

Götter mit guten und schlechten Eigenschaften gab und gibt es in vielen Religionen. Aber bei den alten Griechen, Römern und Nordländern sind sie doch irgendwie „Mensch“ geblieben, mit Stärken und Schwächen und ohne absolute Macht. Die Steigerung des Guten und des Bösen ins Extrem, in Gott und den Teufel, der ganze Pantheon gespalten in zwei feindliche Lager, miteinander ringend in einem totalen kalten Krieg, das ist zwar nicht die Quintessenz christlicher Theologie, aber die Szenerie landläufigen Volksglaubens.

Dieser metaphysische Kosmos ist keine demokratisch verfasste Friedensordnung, sondern eine Theokratur im permanenten Kriegszustand. Es gibt Gebote und Verbote. Wer dagegen verstößt, wird mit ewiger Verdammnis bestraft — einer Potenzierung der Todesstrafe. Ein Rechtskodex, an den sich der göttliche Herrscher zu halten hätte, existiert nicht. Strafmilderung gibt es nur durch seine Gnade.

Ein demokratischer Rat der Götter, in einem auf Interessenausgleich angelegten, harmonischen Kosmos, ist mit diesen christlichen Glaubensvorstellungen, in denen sich die Machtstrukturen der mittelalterlichen Gesellschaft widerspiegeln, unvereinbar. Genau das aber, ein demokratischer Rat der Bürgerinnen und Bürger, gilt heute als höchstes Ideal in irdischen Angelegenheiten. Demokratie im Sein, Theokratur im Glauben, dieser Widerspruch wird formal durch die Trennung von Kirche und Staat geheilt, was bedeutet, dass für den irdischen Kosmos andere Gebote gelten als für den himmlisch-höllischen Kosmos. Die Trennung von Kirche und Staat ist sozusagen ein historischer Kompromiss zwischen mittelalterlichem und neuzeitlichem Denken.

Man könnte die Auffassung vertreten, dass diese alten Glaubensinhalte im säkularisierten Westen keine Rolle mehr spielen. Westliches Verhalten wird aber plausibler, wenn man annimmt, dass Dispositionen mittelalterlichen Denkens auch heute noch fortwirken.

Durch die Jahrhunderte, von Arian bis Hus, zieht sich eine blutige Spur des Kampfes um den rechten Glauben. Stets gab es nur ein Entweder-Oder. Entweder rechtgläubig oder Ketzer, entweder im Bunde mit Gott oder im Bunde mit dem Teufel. Der eigene Kampf war stets geheiligt durch die Gewissheit, für den wahren Glauben zu streiten. Nach der neuzeitlichen Trennung zwischen Kirche und Staat, zwischen Gott und der Welt, scheint diese Gewissheit der Rechtgläubigkeit auch in das politische Kalkül der Westlichen Wertegemeinschaft eingeflossen zu sein.

In der Tiefe des abendländischen Bewusstseins lebt noch die Erinnerung an die Allgegenwart des Teufels. Die dunkle Ahnung des Bösen beunruhigt und weckt die Bereitschaft, die Angst an einem äußeren Feindbild festzumachen. Und umgekehrt wird der reale, oder eingebildete, äußere Feind stets mit dem metaphysischen Bösen in Verbindung gebracht. Es sieht so aus, als ob im Urgrund abendländisch-westlichen Bewusstseins die Welt ohne den großen Feind undenkbar ist.

Die digitale Revolution als Auslöser übersteigerter Angstfantasien

Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass in Epochen einer wissenschaftlich-technischen Revolution nicht nur das Wissen zunimmt, sondern auch die Irrationalität zunehmen kann, weil das Neue in Teilen der Bevölkerung, besonders bei den Traditionsträgern, Verunsicherung, ja sogar Angst auslöst.

Der Untergang des geozentrischen Weltbildes und die frappierenden Entdeckungen der beginnenden Neuzeit waren begleitet von Teufelsglauben und Hexenwahn. Mit den Stürmen der ersten industriellen Revolution zogen die dunklen Wolken der „ismen“ auf, die rückwärtsgewandten Mythen des Rassismus, Faschismus und Antisemitismus und die Utopie des Kommunismus. Auch die moderne digitale Revolution, die gerade die Welt der etwas älteren Menschen auf den Kopf stellt, könnte der Auslöser für Unruhe und Ängste sein, die sich als übersteigerte Angstfantasien festmachen an Themen wie Klima, Viren, Russland, Ausländer und anderem.

Die Epoche selbst sieht ihre Fantasieanteile nicht

Elias schrieb über die Menschen früherer Epochen:

„Sie hatten wenig Kontrolle über die Naturgewalten, von denen doch ihr Überleben abhing. Völlig angewiesen auf Ereignisse, deren Zusammenhang miteinander, deren immanente Ordnung ihnen verschlossen war ... lebten sie in extremer Unsicherheit. Ihr Leben wäre unerträglich gewesen, hätten sie nicht das Vermögen gehabt, sich das Ausmaß ihres Nicht-Wissens durch Phantasien zu verdecken, deren Affektgeladenheit die Unsicherheit ihrer Lage, die Ungewissheit ihres Kenntnisbestandes widerspiegelte.“

Entsprechend lebten sie in einer Welt, die von Geistern bevölkert war, guten und bösen. Und ihre Mühen des Alltags galten zu einem erheblichen Teil dem Arrangement mit den unsichtbaren Mitbewohnern ihrer Welt, sei es, dass sie die einen mit Opfern besänftigten, sei es, dass sie die anderen um Hilfe baten. Dabei waren sie von der Sinnhaftigkeit ihres Tuns überzeugt und konnten sich keine realitätsgerechtere Handlungsweise vorstellen.

Die Menschen selbst sehen die Fantasieanteile ihrer Vorstellungswelt nicht, denn könnten sie das, würden sie vom Schrecken über ihr Nicht-Wissen überwältigt. Erst Menschen späterer Kulturen sind dank ihrer wirklichkeitsnäheren Erklärungsmodelle in der Lage, die Fantasiekonstruktionen zu erkennen. Was Elias in früheren Kulturen beobachtet, lässt sich verallgemeinern: Die Epoche selbst sieht ihre Fantasieanteile nicht. Vielleicht werden sich Menschen späterer Kulturen über die Menschen des Jahres 2020 wundern, die kleinen Gesichtsmasken beinahe magische Kräfte zuschrieben.

Teufelsglaube und Hexenwahn

Den Glauben an Hexen, Kobolde, Trolle und Ähnliches gab es ja immer im Volke. Kirchenmänner verwarfen derlei im Hochmittelalter als dummen Aberglauben und heidnische Ketzerei. Sie selbst glaubten nicht daran. Ein paar Jahrhunderte später, als ihre Welt aus den Fugen geriet, waren es Männer der Kirche, die Hexenverfolgungen inszenierten. Dass sich die Sonne nicht länger um die Erde drehen soll, widersprach ihrem Glauben sowie dem Augenschein. Die gottgewollte Harmonie des Kosmos, mit der Erde als Mittelpunkt, schien in Gefahr zu geraten. Das konnte nur Teufelswerk sein.

Einer Springflut gleich, bedrohte das neue Denken ihre tiefsten Glaubensgewissheiten. In ihrer Panik meinten die Verwirrten, das Böse in Menschengestalt zu erkennen, in ihrer Mitte, in Gestalt von Hexen und Hexenmeistern. Es waren die Fieberfantasien ihrer Angst, die sie auf vermeintliche Hexen projizierten, bis die Qualen derer, die auf den Scheiterhaufen brannten, ihrer verletzten Psyche Linderung brachten. In der Vernichtung der Hexe meinten sie, dem Teufel zu widerstehen, zum Wohlgefallen des Herrn. Wenn Affekte die Fantasie beherrschen, ist nichts zu absurd, um nicht geglaubt zu werden. Der Hexenhammer ist das erschütternde Dokument einer fanatischen Gegenbewegung zur Aufklärung.

Gift, das Elixier des Teufels und immer wieder Gift

Die Fantasiemächtigkeit des Antisemitismus stand dem Hexenwahn in nichts nach. Jüdisches Blut vergifte arisches Blut. Sein Vorläufer, der mittelalterliche Antijudaismus, unterstellte den Juden, die große Pest ausgelöst zu haben, indem sie die Brunnen vergifteten. In den Angstfantasien der Hassenden hat Gift stets einen prominenten Stellenwert. Gift, dieser dämonische Stoff mit seinen todbringenden Kräften war des Teufels Elixier.

Auch die neuzeitliche Ermordung der Juden wurde, wie die der Hexen, mit dem Wohlgefallen des Herrn in Verbindung gebracht. „So glaube ich heute im Sinne des allmächtigen Schöpfers zu handeln: Indem ich mich der Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn“, rief ein Diktator im Jahre 1939 einer tosenden Anhängerschaft zu.

Die Schuld des Feindes steht von vornherein fest

Hexenwahn, Antisemitismus und Russophobie — wie andere Phobien, die als Massenwahn auftreten — sind Glaubenskonstrukte mit Kreuzzugs-Charakter, deren Angriffskraft sich aus einer verhängnisvollen Kombination zweier dominanter Affekte ergibt: der doppelköpfigen Hydra aus Angst und Hass. Diesen wahnhaften Glaubenskonstrukten gemeinsam ist, dass die Schuld des angeklagten Feindes von vornherein feststeht. Wenn Affekte die Phantasie beherrschen, ist nüchternes, abwägendes Denken ausgeschaltet.

Die erste Frage jeder kriminalistischen Untersuchung „wem nützt es?“ (cui bono?) bleibt für die Beweisführung außer Betracht. Nicht die Ankläger müssen die Schuld nachweisen, sondern die Betroffenen müssen ihre Unschuld beweisen. Die als Hexe — und deshalb Giftmischerin par excellence — Verdächtigte, hätte beweisen müssen, dass sie das verstorbene Kind nicht vergiftet hat, die Juden, dass sie die Pest nicht durch vergiftete Brunnen herbeigeführt hatten.

Der mittelalterliche Antijudaismus vollstreckte durch Pogrom. Der Hexenwahn verbrannte seine Opfer. Der rassische Antisemitismus unterstellte eine todeswürdige Erbsünde, nämlich Jude zu sein. Seine Methode der Vollstreckung ist bekannt.

Die gegenwärtige Russophobie hat nicht die Machtmittel, einen Angeklagten auf den Scheiterhaufen oder in die Gaskammer zu schicken, obwohl manch wertewestlicher Kreuzritter das wohl gerne täte. Das Urteil, das von vornherein feststeht, wird in diesem Fall mit „Sanktionen“ und gnadenloser medialer Diffamierung vollstreckt.

Konstruktionsfehler der EU als Quelle von Russophobie

Bei all dem sollte nicht vergessen werden, dass diese wahnhaften Glaubenskonstrukte mit Kreuzzugs-Charakter ihre Entstehung meist historischen Konstellationen verdanken, die mit ihren Opfern gar nichts zu tun haben. Auch die derzeitige Russophobie mag eine ihrer Quellen in der fragwürdigen Konstruktion der EU haben. Um ihre zentrifugalen Kräfte im Zaum zu halten, braucht sie einen mächtigen äußeren Feind. So gesehen könnte man sagen: Gäbe es Putin nicht, Brüssel müsste ihn erfinden.

Russophobie, Islamophobie, Coronahysterie, westliche Politik mit pseudoreligiösem Heilsanspruch, sind das die Vorboten einer Zeitenwende, in der Emotionen die Oberhand gewinnen über nüchternes, vernunftgeleitetes Bemühen um Erkenntnis? Eine allgemeine Emotionalisierung des öffentlichen und insbesondere des politischen Diskurses, ausgelöst durch die psychischen Erschütterungen aufgrund der digitalen Umgestaltung der Welt?

Es bleibt zu hoffen, dass eine wachsende Gegenöffentlichkeit bei Verstand bleibt und schließlich ans Ruder kommt.


Quellen und Anmerkungen:

Literatur: Norbert Elias, Engagement und Distanzierung, Frankfurt am Main 1987