Der Feudal-Staat

Die Mont-Pelerin-Gesellschaft erobert die Welt.

So langsam wird auch in Deutschland bekannt, welchen immensen Einfluss sich marktradikale Vordenker auf das politische und gesellschaftliche Geschehen erarbeitet haben. Die Satiresendung „Die Anstalt“ (1) hat einem breiten Publikum mit einem Schlag die enorme Macht des diskreten Ökonomen-Netzwerks der Mont-Pelerin-Gesellschaft deutlich gemacht. Nach wie vor mangelt es jedoch an einem wirklich differenzierten Verständnis dieses beeindruckenden Hegemonie-Projekts. Da wird vom „Neoliberalismus“ gesprochen. Nach wie vor wird nicht verstanden, dass das Mont-Pelerin-Netzwerk eine Bündelung unterschiedlichster Strömungen beinhaltet, die einzig ein Generalnenner eint: die strikte Ablehnung jeder Planwirtschaft.

In den Anfangsjahren der Mont-Pelerin-Gesellschaft (kurz: MPS) gehörten zu diesem Netzwerk auch Politiker und Ökonomen wie Ludwig Erhard, Alfred Müller-Armack, Alexander Rüstow oder auch Wilhelm Röpke. Die Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik dieser echten Vertreter des Neoliberalismus – oder auch: Ordo-Liberalismus, Rheinischer Kapitalismus – dachten gar nicht daran, den Staat als proaktive Gestaltungsmacht abzubauen, den öffentlichen Raum zu privatisieren oder die Gewerkschaften zu schwächen. Im Gegenteil, im Einklang mit dem New-Deal-Konsens der Eisenhower-Jahre und dem Beveridge-Sozialstaatskonzept in England wurden Löhne und Arbeiterrechte ausgebaut. Eine aufschlussreiche Studie von Sebastian Müller eröffnet in dieser Hinsicht ein differenziertes Verständnis jener Epoche in Deutschland (2).

Doch die Neoliberalen dieser Epoche sind mittlerweile ausgestorben.

Geblieben sind jene Fraktionen des MPS-Zusammenhanges, für die ich den Begriff „Marktradikalismus“ verwenden möchte. Denn die österreichische Schule um Ludwig von Mises sowie Friedrich von Hayek und auf der anderen Seite die Chicago-Schule um Milton Friedman und Frank Knight sind charakterisiert durch die radikale Ablehnung eines gestalterischen, proaktiven Staates. Zurückgreifend auf die alte liberale Schule des 18. Jahrhunderts gehen die beiden oben genannten Schulen davon aus, dass grundsätzlich jede staatliche Intervention in das Wirtschaftsgeschehen von Übel ist. Zerstörung der Macht der Gewerkschaften, radikale Privatisierung des öffentlichen Sektors und rigide Durchsetzung ökonomischer Kategorien in praktisch allen Lebensbereichen stellen für die Österreicher und die Chicago-Denker das Allheilmittel dar.

„Wein aus Virginia in den Schläuchen der Mont Pelerin Gesellschaft“

Nun hat Nancy MacLean, die Geschichte und Politik an der Duke-University in North Carolina lehrt, uns eine dritte Spielart des Marktradikalismus nahegebracht, nämlich die Virginia-Schule des James McGill Buchanan. MacLean hat bereits eine Monographie des im Ersten Weltkrieg wiederbelebten Ku-Klux-Klan vorgelegt. Ihr Schwerpunkt ist die Erforschung sozialer Bewegungen, besonders in den Südstaaten der USA. Und auch in ihrer Studie über James Buchanan spielen die Besonderheiten der Südstaaten eine große Rolle.

Buchanan begann nämlich seine Karriere als Hochschullehrer an der Universität von Virginia, in den Südstaaten. Virginia hat eine spezielle Vergangenheit was den Rassismus angeht. Mit Unterstützung der eugenisch orientierten Universität in Richmond in Virginia wurden Rassentrennungsgesetze für den Staat durchgesetzt, die der Geschäftsführer des Eugenics Record Office, Harry Laughlin, zuvor als Blaupause erarbeitet hatte. Weiße und „Farbige“ wurden strikt getrennt. Als „farbig“ galt, wer auch nur einen hundertvierundzwanzigstel Anteil an nicht-weißen Vorfahren hatte. Die Rassentrennungsgsetze des Staates Virginia wurden später vom Deutschen Nazireich als „Nürnberger Rassegesetze“ übernommen, und deren Autor Harry Laughlin wurde dafür mit der Ehrendoktorwürde der Universität Heidelberg ausgezeichnet (3).

In dieser Tradition befand sich noch jener Universitätspräsident Colgate Whitehead Darden jr., der 1956 den siebenunddreißigjährigen James Buchanan mit einem Lehrstuhl an der Universität Virginia bedachte, damit dieser ihm ex cathedra bei der Ausarbeitung seiner rassistischen Agenda behilflich sein konnte. Es brach eine wilde Zeit an. Denn die Rassentrennung war in allen Bereichen des Lebens wirksam im Staate Virginia. „Farbige“ durften nicht an denselben Schulen und Universitäten lernen und lehren wie ihre weißen Mitbürger. Dass zudem die Ausstattung der Universitäten für die „Farbigen“ jeder Beschreibung spottete, ließen sich die farbigen Studenten nicht mehr länger gefallen.

Universitätsstreiks an den Unis zweiter Klasse fanden ein großes Echo in den gesamten USA. Die politischen Auseinandersetzungen parierte die Regierung von Virginia kurzerhand durch die Schließung aller öffentlichen Schulen von Virginia.

Ein gewisser Milton Friedman von der Universität Chicago bot ein Alternativkonzept an: Die Eltern sollten Schulgutscheine (school vouchers) erhalten, mit denen sie dann ihre Kinder auf private Schulen und Unis schicken konnten. So wurde der Kampf gegen die Rassentrennung (Segregation) clever genutzt, um einem marktradikalen Projekt der Schulprivatisierung auf die Sprünge zu helfen. Die Schulprivatisierung in Virginia war das Einstiegsprojekt, an dem Buchanan maßgeblich mitarbeitete. Wenn auch auf Druck der Bundesregierung in Washington die öffentlichen Schulen wieder ihre Tore öffnen mussten, und die Schulprivatisierung zunächst ad acta gelegt wurde, so hatte Buchanan hier seine ersten Pflöcke gesetzt.

Bei den Studentenunruhen von 1968 war Buchanan sodann Professor an der Universität von Los Angeles. Sein Hass gegen die Studentenrevolte brachte ihn schnell in das Lager des neuen Gouverneurs von Kalifornien, eines gewissen Ronald Reagan. Der ging mit äußerster militärischer Härte nicht nur gegen protestierende Studenten, sondern auch gegen friedfertige Hippies vor. Unter anderem durch die Bekanntschaft mit Buchanan schärfte Reagan sein Profil als knallharter marktradikaler Politiker.

Buchanan hatte derweil ein geschlossenes theoretisches Gebäude erstellt. Am ehesten ist Buchanan breiteren Kreisen in der Wissenschaft bekannt geworden durch seine Public-Choice-Theorie, die er zusammen mit Gordon Tullock (4) öffentlich machte. Für die Entwicklung dieser Theorie erhielt Buchanan 1986 den Wirtschaftsnobelpreis.

Der Mensch wird in diesem Gedankengebäude vom Zoon Politikon sozusagen zum Zoon Oekonomikon umgedeutet. Alle politischen Prozesse sind ausschließlich nur durch ökonomische Beweggründe erklärbar. Politik wird zur Unterabteilung der Wirtschaft degradiert. Politiker handeln keinesfalls, um dem Gemeinwohl zu dienen. Vielmehr versuchen sie, aus dem politischen Geschäft materielle Vorteile zu ziehen. Das zeigt sich, so Buchanan, daran, dass Politiker nicht nur in Zeiten der Wirtschaftsflaute fleißig staatliches Geld in die Wirtschaft pumpen, sondern auch in Zeiten der Hochkonjunktur, wo nach der Lehre von John Maynard Keynes der Staat viel eher Geld aus der Wirtschaft herausnehmen sollte, um eine Überhitzung zu vermeiden. Denn die Politiker wollen ja wiedergewählt werden. Also müssen sie sich mit Geschenken aus dem öffentlichen Füllhorn beliebt machen. So entsteht zwangsläufig eine immer krasser ausufernde Staatsverschuldung.

Buchanan geht in seiner Geringschätzung der Rolle des Staates wesentlich weiter als Hayek oder Friedman. Denn für Buchanan ist der Staat schlichtweg ein Räuberhaufen. Der Staat hat keine Legitimation, den Besitzenden und Erfolgreichen ihr Geld durch Steuerabgaben zu entreißen und es den Besitzlosen zuzuwerfen. Der Staat hat kein Recht, selber die Alters- und Gesundheitsvorsorge zu organisieren. Damit wird nur den Faulen und Unfähigen ihr lustiges Leben verzuckert. Menschen, die keine private Altersvorsorge abschließen, müssen nach den Worten von Buchanan „… behandelt werden wie untergeordnete Mitglieder der Spezies, Tieren ähnlich, die in Abhängigkeit leben“ (5).

Und auch hier sieht Nancy MacLean Buchanan eingebettet in eine lange Tradition in der Geschichte der USA, besonders aber in die Besonderheiten der Südstaaten. Im Grunde macht Buchanan da weiter, wo im 19. Jahrhundert, noch vor dem Bürgerkrieg zwischen Süd- und Nordstaaten, der Politiker und Sklavenhalter John C. Calhoun die Vorzüge der Sklavenhalterwirtschaft zu preisen wusste. Calhoun verkündete überaus angriffslustig, die Bundesregierung in Washington sei ein unnützer Parasitenkörper, der den Leuten, die Werte schaffen, eben diese Werte dreist entreißt, und sie den Unnützen zuschanzt. Dabei wusste Calhoun zu ignorieren, dass er seinen Reichtum wohl kaum aus eigener Kraft geschaffen hatte, sondern diesen aus dem Blut und Schweiß seiner bedauernswerten Sklaven gepresst hat.

Doch Calhoun stand mit seiner Position keineswegs alleine da in den USA. Konservatismus und Feindschaft gegen den Staat gehen in den USA traditionell eine Verbindung ein. Anders als in Europa, wo Konservatismus, bislang jedenfalls, immer einherging mit der Forderung nach einem starken Staat.

Und genau diese Polarität: hier die Linken, die mit einem starken proaktiven Staat soziale Ungleichheiten abbauen wollen; und dort die Rechten, die einen schwachen Staat wollen, um ihre Privilegien auszubauen, findet sich im heutigen politischen Koordinatensystem der USA wieder.

„Jeder Mensch strebt nach Herrschaft über eine Welt von Sklaven“

Allgemein bekannt ist die Rolle, die der Ökonom Milton Friedman mit seinen Schülern bei der Transformation der chilenischen Gesellschaft nach dem Putsch von Augusto Pinochet 1973 gespielt hat. Friedmans „Chicago Boys“ – Ökonomen, die an Friedmans Fakultät in Chicago ihre Ausbildung erhielten – hatten ihre marktradikalen Experimente unter der Duldungsstarre der Bevölkerung von Chile an einer kompletten nationalen Ökonomie ausprobieren dürfen. MacLean weist in ihrem Buch nach, dass Buchanan seit 1980 an der neuen, autoritären Verfassung Chiles federführend beteiligt war. Von oben herab dekretierte er der Junta den Grundsatz, dass der Staat so weit wie möglich zu entmachten sei.

Buchanans Macht und Einfluss nehmen zu, als er ein eigenes Institut an der George-Mason-Universität zugeteilt bekommt, die nur durch den Potomac-Fluss von der Bundeshauptstadt Washington entfernt ist. Da er mit der politischen Maschine von Ronald Reagan sowieso schon seit den späten 1960er Jahren eng verzahnt ist, genießt Buchanan nunmehr den Status eines Ökonomen mit direktem Zugang zum Weißen Haus.
Und nun gesellt sich zu den exzellenten Kontakten noch das große Geld. Denn der Multimilliardär Charles G. Koch investierte schon lange in das konservative Rollback der USA. Ähnlich wie Richard Mellon Scaife, der alleine schon 600 Millionen US-Dollar in rechte Denkfabriken und Politiker gesteckt hatte, kauft sich auch Koch die Diskurshoheit rechten Gedankenguts. Seine Gelder sind so weit eingesickert in undurchdringliche marktradikale Netzwerke, dass man in den USA schon von der „Koch-Krake“ („Kochtopus“) spricht.

Charles G. Koch hatte in den Siebziger Jahren in die synthetische, von ihm angestiftete libertäre Bewegung investiert. Sein Bruder David war sogar selber als Vizepräsidentschaftskandidat der von ihm finanzierten Libertären Partei aufgetreten. Zudem hatte er als deren Chefideologen den Anarchokapitalisten Murray Rothbard aufbauen lassen. Jedoch kam die Libertäre Partei nicht über den Status einer Splitterpartei hinaus. Entnervt ließen die Koch-Brüder die Libertäre Partei fallen. Und investierten fortan in James Buchanan als ihrem bevorzugten Rennpferd. Das lohnte sich umso mehr, da Buchanan 1986 den Wirtschaftsnobelpreis zuerkannt bekam.

Üppig finanziell gepolstert und mit direktem Zugang zum Oval Office, war Buchanan nun auf dem Gipfel seiner Karriere. Doch jetzt folgte der tiefe Fall. Koch hatte das Label „James Buchanan“ gekauft und schlachtete es ohne Rücksicht auf dessen Namenspatron skrupellos für seine Zwecke aus. Buchanan zog sich verbittert zurück auf sein Altenteil.
Nancy MacLean hatte das Glück, die nachgelassenen Korrespondenzen von Buchanan sichten und auswerten zu können. Es entsteht in ihrem Buch ein spannender Abriss, wie Wissenschaftler, die Standesdünkel und Vorurteile verinnerlicht haben, sich vor den Karren skrupelloser Kapitalisten spannen lassen. Wie eine diskrete und geschickte Hintergrundarbeit dafür sorgt, dass der seit Franklin Delano Roosevelt bestehende Konsens einer integrativen Sozialpolitik geräuschlos über den Haufen geworfen werden konnte.

Das Pendel schwingt über die Jahrzehnte und Jahrhunderte immer wieder herum – von einer hemmungslosen Ausnutzung von Privilegien hin zu einer sozial ausgewogeneren Politik, und wieder zurück. Im Augenblick geht die Pendelbewegung immer noch weiter hin zu einer immer rücksichtsloseren Konzentration von Reichtum und Macht in den Händen weniger Superreicher. MacLean lehrt uns, wie dieser Pendelschwung von interessierter Seite angeschoben wird.
Daraus zu lernen ermöglicht uns, das Pendel vielleicht wieder in die Richtung gerechterer Gesellschaftsordnungen zurückzuschwingen.


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Quellen und Anmerkungen:

(1) Die Anstalt vom 7.11.2017 https://www.youtube.com/watch?v=vzUNwWpk6CE
(2) Sebastian Müller: Der Anbruch des Neoliberalismus – Westdeutschlands Wandel in den 1970er-Jahren. Wien 2016
(3) Edwin Black: The War against the Weak – Eugenis and America’s Campaign to create a Master Race. New York 2003. S.312; Hermann Ploppa: Hitlers amerikanische Lehrer – Die Eliten der USA als Geburtshelfer des Nationalsozialismus. S.152.
(4) James Buchanan, Gordon Tullock: The Calculus of Consent: The Logical Foundations of Constitutional Democracy. University of Michigan Press, 1962.
(5) Nancy MacLean: Democracy in Chains – The Deep History of The Radical Right’s Stealth Plan for America. New York 2017, S. 212: „… are to be treated as subordinate members of the species, akin to animals who are dependent.”
(6) Nancy MacLean: Democracy in Chains – The Deep History of The Radical Right’s Stealth Plan for America. New York 2017, S. 150: „Each person seeks mastery over a world of slaves.”