Der Gaskrieg
Die Sprengung der Nord-Stream-Pipelines hat Europas Energieordnung grundlegend verändert.
Nord Stream 1 und 2 sollten Deutschlands Industrie für Jahrzehnte mit planbarem, günstigem Gas versorgen. Nach den Explosionen von 2022 blieb jedoch nur Stillstand. Was folgte, war der tiefgreifendste Umbau des europäischen Energiesystems seit Jahrzehnten — technisch, wirtschaftlich und geopolitisch. Das frustrierende Ergebnis: Europa spart Emissionen teuer ein, während dieselbe Energiemenge andernorts abgefackelt wird.
Öl beherrscht die Seewege, Gas das Land. Öl wird in Dollar gehandelt, abgesichert durch Tankerflotten und US-Marinesicherung. Gas war regional, vertraglich gebunden, und durch Leitungen physisch kontrollierbar. Jede Pipeline verschob Macht. Nord Stream verband Russland und Deutschland direkt — ohne Transitländer, ohne Hafenlogistik, ohne Dritteinfluss.
Für Berlin war es ein Projekt industrieller Vernunft, für Polen und die Ukraine ein Verlust an Transitgebühren und Einfluss. Für Washington ein Risiko: Pipelinegas entzieht sich der maritimen und finanziellen Kontrolle.
Vom ökonomischen Kalkül zum geopolitischen Streit
Nord Stream 1 startete 2011. Verträge sicherten Preise von fünf bis sieben US-Dollar je MMBtu — etwa 30 Prozent günstiger als asiatisches LNG. Energieintensive Branchen wie Chemie, Glas und Stahl bauten darauf ihre Kalkulationen auf. Mit Nord Stream 2 sollte der Lieferpfad verdoppelt werden.
Die USA warnten vor „Abhängigkeit“ und setzten Sanktionen gegen am Bau beteiligte Firmen durch. Hinter der sicherheitspolitischen Sprache lag marktwirtschaftliche Logik: Flüssiggas aus den USA kostet mehr, Pipelinegas unterläuft diese Preisstruktur.
Sabotage und Symbolik
Am 26. September 2022 explodierten beide Leitungen in der Ostsee. Nur einen Tag später eröffnete Polen die Baltic Pipe, die norwegisches Gas über Dänemark nach Polen leitet — Kapazität: rund zehn Milliarden m³ pro Jahr. Finanziert mit EU-Mitteln, politisch unterstützt von Dänemark und den USA. Damit verschob sich das Zentrum der europäischen Gasversorgung: weg von Deutschland, hin nach Osteuropa.
Während Deutschland über Ursachen und Verantwortung stritt, begann der Umbau. Kanzler Scholz stoppte die Zertifizierung von Nord Stream 2. Wirtschaftsminister Habeck ließ schwimmende LNG-Terminals errichten. In Rekordzeit entstanden Standorte in Wilhelmshaven, Brunsbüttel und Lubmin.
Gerichte ließen Umweltklagen zu, stoppten sie aber nicht. Versorgungssicherheit galt als vorrangig. Preislich aber stieg die Last: Industrielles Gas verteuerte sich zeitweise um fast 200 Prozent, Strom um zwei Drittel. Der „Abwehrschirm“ über 200 Milliarden Euro deckte Liquidität, nicht Wettbewerbsfähigkeit.
Kosten und Verschiebungen
Der Wegfall billigen Pipelinegases führte zu jährlichen Mehrkosten von geschätzt 35 bis 55 Milliarden Euro für die deutsche Industrie — rund 15 Prozent der industriellen Lohnsumme.
Löhne lassen sich tarifrechtlich kaum senken, also weichen Unternehmen auf Verlagerung aus: Chemie, Metall, Glas, Papier, Lebensmittel. Polen, Ungarn und Rumänien profitieren von niedrigeren Energie- und Arbeitskosten sowie EU-Fördermitteln.
Ermittlungen ohne Ende
Schweden und Dänemark beendeten ihre Untersuchungen und übergaben Beweismaterial an Deutschland. Die Bundesanwaltschaft führt seitdem das Hauptverfahren. Verdächtige aus der Ukraine wurden in Polen und Italien festgenommen; Auslieferungen sind anhängig. Hinweise auf staatliche Beteiligung gibt es nicht.
Abfackeln statt Export
Satellitenmessungen zeigen, dass an russischen Verdichterstationen — insbesondere bei Portowaja — seit dem Stillstand der Leitungen jährlich etwa zwei bis drei Milliarden m³ Erdgas abgefackelt werden.
Das entspricht vier bis sechs Millionen Tonnen CO₂, rund einem Fünftel der jährlichen deutschen Emissionsminderung. Unvollständig verbranntes Methan verstärkt die Klimawirkung weiter. Während Deutschland Milliarden in CO₂-Reduktion investiert, entweicht andernorts ein vergleichbarer Effekt in die Atmosphäre — ein Lehrbeispiel für globale Inkonsistenz.
Asien als neuer Abnehmer
Russland leitet Gasströme nach Osten um. „Power of Siberia 1“ liefert bis 38 Milliarden m³ nach China, nahezu ausgelastet. Eine zweite Leitung über die Mongolei ist geplant, aber frühestens 2030 fertig.
China zahlt rund acht bis neun US-Dollar je MMBtu — weniger als Europa, aber mehr als alte deutsche Verträge. Indien kauft nur geringe LNG-Mengen über Zwischenhändler. Der Großteil des früheren Nord-Stream-Volumens ist schlicht entfallen.
Geopolitik, Eigentum und neue Interessen
Parallel entstehen neue Eigentumsfragen.
Der US-Investor Stephen P. Lynch hat Interesse bekundet, die Betreibergesellschaft der stillgelegten Pipeline Nord Stream 2 zu übernehmen. Diese Gazprom-Tochter wird derzeit in der Schweiz insolvenzrechtlich verwaltet.
Laut einem Bericht vom 27. Juni 2025 prüft die Bundesregierung, das Außenwirtschaftsrecht zu ändern, um einen Verkauf dieser kritischen Infrastruktur an ausländische Investoren — insbesondere an US-Beteiligte — zu verhindern.
Russland bezeichnete einen solchen Verkauf als „Diebstahl“.
Politisch zeigt sich eine neue Bruchlinie:
Das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) fordert die Wiederaufnahme direkter Gasimporte aus Russland und kritisiert die US-Dominanz in der europäischen Energiepolitik.
Zur möglichen Übernahme von Nord-Stream-Gesellschaften liegt keine spezifische Stellungnahme vor, doch die Partei positioniert sich klar gegen eine weitere Abhängigkeit Europas von US-Interessen.
Der Vorgang verdeutlicht, dass die Energiekrise längst über Fragen der Versorgung hinausgeht.
Neben dem Wettbewerb um Gasflüsse entsteht ein stiller Kampf um Eigentum und Kontrolle — eine Dynamik, in der westliche Investoren strategische Zugänge zu Infrastruktur suchen.
Politik, Umwelt, Transparenz
Die Eilgenehmigungen für LNG-Terminals schufen Fakten, aber auch Konflikte. Umweltverbände kritisieren Biozideinleitungen und Risiken für Küstenökosysteme; Gerichte wiesen Klagen ab.
Medien thematisierten enge Kontakte zwischen Kanzler Scholz und Unternehmern der Deutschen ReGas. Beweise für Vorteilsnahme existieren nicht, doch Transparenzfragen bleiben.
Makroökonomie und Klimadilemma
Zur Energiekrise kam die Inflation. Reallöhne sanken, Sozialetats wuchsen. Der Krieg in der Ukraine bindet Haushaltsmittel für Rüstung und Wiederaufbau. Das schwächt Investitionen und erhöht die Abhängigkeit von privatem Kapital. Internationale Fonds erwerben Beteiligungen an Häfen, Netzen und Energieunternehmen — stille Folgen einer kostspieligen Krisenpolitik.
Fazit
Nord Stream war mehr als eine Leitung. Es war der Versuch, Energiepolitik vom Weltmarkt zurück auf den Kontinent zu holen. Mit der Zerstörung der Pipeline und dem Übergang zu LNG kehrte Europa in die globale Preislogik zurück — abhängig von Schiffsrouten, Dollarpreisen und geopolitischen Allianzen.
Das Abfackeln ungenutzten Gases, das den Klimavorteil der deutschen Einsparprogramme teilweise neutralisiert, steht sinnbildlich für die Widersprüche dieser neuen Ordnung: Europa spart Emissionen teuer ein, während dieselbe Energiemenge andernorts verglüht.
Deutschland bleibt versorgt — aber zu einem Preis, der seine industrielle Basis verändert. Osteuropa gewinnt Standorte, die USA Märkte, China langfristige Verträge.
Was als technische Umleitung begann, ist zur strategischen Neuordnung geworden — von Energieautonomie hin zu Abhängigkeit unter neuen Vorzeichen.