Der Geist in Entwicklung

Die Bewusstseinslehre des Philosophen Jean Gebser hilft, die Entwicklungen der heutigen Zeit besser zu verstehen und sich neu auszurichten.

Manova hat sich zum Ziel gesetzt, nicht nur über das zu berichten, was nicht mehr geht, sondern verstärkt auch darüber, was geht. Kritik ist wichtig. Die Kröte muss raus. Das Unerhörte muss gesagt werden. Nicht, um den Teufel an die Wand zu malen, sondern um das Rumpelstilzchen dazu zu bringen, sich in dem Moment selbst zu vernichten, in dem sein Name genannt wird. Die Geschichten müssen erzählt werden, die Schichten abgebaut, die sich um uns gelegt haben wie eiserne Klammern. So gelangen wir dorthin, wo sich die Dinge entscheiden: in unserem Bewusstsein. Die temporik-art-Begleiterin Marina Stachowiak macht anhand der Bewusstseinstheorie von Jean Gebser deutlich, wie präsent unsere Vergangenheit heute noch ist und wie wir aus der trennenden mentalen in eine verbindende integrale Bewusstseinsstruktur gelangen können.

„Non est deus. Der Narr und das Ich“ (1) lautet der Titel des Buches von Marina Stachowiak. Der Narr hält uns den Spiegel vor. Allein auf sich gestellt, ist er die Personifikation eines Bewusstseinswandels, der die Geburt des Individuums einleitet. Als Archetyp steht der Narr für Spontaneität, Unabhängigkeit, Kreativität. Balancierend zwischen Leichtigkeit, Humor, Ironie und Ehrlichkeit lehrt er die Menschen, die Dinge mit mehr Abstand zu betrachten. Sein Humor, der entlarvt, was verborgen ist, und zu einem tieferen Verständnis beiträgt, bringt ihn dem Weisen nahe. An seiner Figur wird die Ambivalenz der Neuzeit besonders deutlich, die mit dem 15. Jahrhundert einsetzte und bis heute andauert.

Auf der einen Seite erlebte die Menschheit einen nie zuvor dagewesenen Fortschritt. Neue Perspektiven, Entdeckungen, ein Aufblühen der Kultur auf der einen Seite, und Eroberungen, Zerstörung, Verfolgung und Ausrottung auf der anderen. Inquisition, das systematische Foltern und Verbrennen von Frauen und Mädchen, Kolonialismus, Weltkriege, Atombombe — herausragendes Kennzeichen der Neuzeit ist die Konzeption des Anderen, des Gegenübers, des Fremden als Feind.

Diese Entwicklung, die sich heute ihrem Ende zuneigt, zeigt sich in einem exzessiven Dualismus, in dem es kaum noch Zwischentöne und nur noch Extreme gibt. Die daraus resultierende kämpferische Haltung zeigt sich unter anderem in der fortschreitenden Isolation, in einer Debattenkultur, die keine Gegenmeinung zulässt, in einer Wissenschaft, die keine Forschung mehr erlaubt, einer Wirtschaft, die sich gegen den Menschen richtet, und einer Politik, die der Wirtschaft dient.

Der lebendige Mensch, der zu Beginn dieses „Humanismus“ im Zentrum stand, ist dabei, die Bühne zu verlassen und der toten Technik die Hauptrolle zu überlassen.

Vom archaischen zum mentalen Bewusstsein

Der deutsch-schweizerische Philosoph Jean Gebser (1905 bis 1973) gilt als einer der ersten kulturwissenschaftlich orientierten Bewusstseinsforscher, der ein Strukturmodell der Geschichte der Menschheit entwickelt hat. Gebser definiert fünf verschiedene Strukturen: das archaische, das magische, das mythische, das mentale und das integrale Bewusstsein. Im archaischen Bewusstsein sind Mensch und Kosmos noch ungeschieden. Der archaische Mensch lebt im Einklang mit dem Ganzen.

Das magische Bewusstsein ist eindimensional und männlich dominant. Es ist gewissermaßen die 1, die die Bühne betritt, die Zahl der Einheit in Allem. In der kabbalistischen Numerologie wird der aus der Stille kommende Mensch Adam gerufen. Der magische Mensch ist nach außen orientiert. Er lebt in einem vitalen und triebhaften Bewusstsein und ist durch Blutsverwandtschaft an seine Sippe gebunden. In zeitloser Gleichzeitigkeit lebend, kennt er weder Raum noch Zeit.

Der mythische Mensch ist zweidimensional und weiblich dominant. Mit der 2 geschieht eine Trennung. Diese Zweiheit ist polarer Natur. Die Gegensätze ergänzen sich und verschmelzen zu einer Einheit. Der Bezug des mythischen Menschen ist das Innen, die Seele. Sie bildet noch eine Einheit mit der göttlichen Sphäre. Zeit wird erstmals als kreishafte Naturzeit bewusst, als ein rhythmisches Kommen und Gehen. Der mythische Mensch hat ein ausgesprochenes Gemeinschaftsbewusstsein. Er entäußert, was er in seinem Inneren hört und sieht, und nimmt das nach außen Gespiegelte wieder zurück, um sich dessen bewusstzuwerden. Mythen sind Projektionen der Seele, die ihrerseits dem mythischen Menschen wieder zum Spiegel werden, um sich der Inhalte bewusstzuwerden.

Die mentale Struktur ist männlich dominant und nach außen gerichtet. Der mentale Mensch zerlegt die Materie in ihre Einzelteile, um sie zu analysieren. Da das mentale Bewusstsein von einem Dualismus geprägt ist, bei dem sich die Gegensätze ausschließen, findet es in der Synthese nur zu einer scheinbaren Einigung. Nicht das mythische Sowohl-als-auch bestimmt die Weltsicht des mentalen Menschen, sondern ein striktes Entweder-oder.

Der mentale Mensch muss sich entscheiden: gut oder böse, richtig oder falsch, weiblich oder männlich, Gott oder Teufel. Er hat seinen Bezug zur Vergangenheit verloren und ist auf die Zukunft fixiert. Das Ich strebt erobernd in die Welt, um ihrer habhaft zu werden. Es muss sich gegenüber dem Anderen, Fremden, potenziell Feindlichen bewähren. Nicht die fühlende, empfindende Psyche, nicht die allumfassende Seele und das Miteinander in der menschlichen Gemeinschaft bestimmen das Leben, sondern das Bewusstsein der Vereinzelung, des Haben-Wollens und der Messbarkeit. Hier das Subjekt, dort das Objekt. Hier das Ich, dort das Du und die ganze übrige Welt.

Alles in einem

In der integralen Bewusstseinsstruktur ist das Ich überwunden. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind keine aufeinanderfolgenden Zeitphasen, sondern Überlagerungen.

Es wird weder die Ichhaftigkeit versteift, noch der Ichlosigkeit gefrönt. Die Ichlosigkeit wäre ein defizienter Rückfall ins Magische, bloße Ichhaftigkeit ein defizientes Verharren im Mental-Rationalen. Nur die Überwindung des Ich stellt uns in die Ichfreiheit und bringt uns zu einem reflexiven Sich.

Nach Gebser sind alle fünf Strukturen in uns begründet und beeinflussen unsere Wahrnehmung und Weltsicht. Der heranwachsende Mensch erlebt die archaische Struktur im Mutterleib und in der ersten Zeit nach der Geburt, die magische ab etwa eins bis zwei bis ins fünfte Lebensjahr, die mythische zwischen fünf und sieben bis ins neunte Lebensjahr, und anschließend die mentale Struktur.

Jede Struktur durchläuft eine Aufbauphase, in der die neu gewonnenen Qualitäten herausgebildet und integriert werden — und das jeweilige Potenzial bewusstwird. Ist eine Struktur erschöpft, setzt eine Defizienzphase ein, in welcher es allmählich zu einer Übersteigerung der gegebenen Qualitäten kommt. Es baut sich eine chaotische Phase auf, in der gleichzeitig die zersetzenden und zerstörerischen Auswirkungen der alten Struktur und die Qualitäten der neuen sichtbar werden. Diese Bewegungen führen plötzlich und sprunghaft in die Mutation.

Inhumaner Humanismus

Marina Stachowiak verdeutlicht diese Entwicklung anhand der Kunst. Der neuzeitliche Mensch entdeckt die Perspektive und später die Aperspektive, bei der die Gegenstände sowohl in der Draufsicht als auch von der Seite dargestellt werden. Mit dem Mutieren des Ich aus der mythisch-mittelalterlichen Bewusstseinsstruktur in die mental-neuzeitliche Struktur verschärften sich die Gegensätze. In dem Moment, in dem sich der Mensch nicht nur seiner Individualität bewusstwird, sondern auch des Raumes, beginnen sich die Macht- und Gewaltexzesse in der Projektion Bahn zu brechen.

Das „humane“ Zeitalter begann mit der Unterwerfung und Ausrottung indigener Völker, der Zerstörung des Weiblichen und der Ausbeutung der Natur.

Der Schritt aus einem theozentrischen in ein anthropozentrisches Weltbild bedeutet nicht nur mehr Selbstbewusstsein, sondern auch mehr Angst. Es geht um Alles oder Nichts, Erleuchtung oder Wahnsinn, Leben oder Tod. So ist das humane Zeitalter nach Gebser in Wirklichkeit das inhumanste, das unmenschlichste, das es je gegeben hat.

Die monotheistische Praxis ist nicht auf Versöhnung, Integration und das Ehren des anderen ausgerichtet, sondern auf Strafe, Ausgrenzung und Ablehnung. Während der Renaissance wurden gewaltsam alte Traditionen, Sprachen und Wissenschaften unterdrückt. Die Kirche bäumte sich noch einmal theozentrisch auf, die Geistlichen verteufelten die Sexualität und warfen in massenpsychotischem Sexualhass Frauen und Mädchen ins Feuer. Den Menschen ging das Weibliche verloren und damit die Mitte und der Bezug zur Mutter Erde.

Der extreme Dualismus hat auf der Lichtseite zu enormen künstlerischen und wissenschaftlichen Leistungen geführt, und auf der Schattenseite zu einer unglaublichen Brutalität gegen das Weibliche und das Andere. Das auf das Außen konzentrierte mental-rationale Bewusstsein hat die Dinge in eine, so Gebser, Schnipselwelt zerteilt, in der das potenziell Feindliche bekämpft wird, statt als innere Botschaft verstanden zu werden.

Integrales Bewusstsein

In diesem Bewusstsein hat sich der Mensch letztlich selbst in die Ohnmacht getrieben. Unfähig, etwas verändern zu können, produziert er immer mehr Schnipsel, anstatt sich auf das zu besinnen, was die einzelnen Teile verbindet und strukturiert. In dieser Haltung wird er so lange feststecken, bis er den geistigen Hintergrund verstanden und integriert hat.

Der Integrationsprozess ist bereits in vollem Gange.

Auch heute bekommen wir das letzte Aufbäumen einer Macht vor Augen geführt, die bereits ausgespielt hat. Wir stehen am Ende der in der Neuzeit begonnenen mentalen Bewusstseinsstruktur.

Mit der Entdeckung der Quantenphysik verlassen wir die Linearität und den Dualismus und treten erneut in eine Welt des Sowohl-als-auch. Die Perspektiven und Zeitlinien überlagern sich. Welle oder Teilchen: Wir sind nicht das Eine oder das Andere, sondern das Eine und das Andere.

Gebser hatte herausgefunden, dass das jeweils Überwundene nicht abgestorben ist, sondern dass sämtliche Bewusstseinsstrukturen nach wie vor erhalten bleiben und im Menschen wirken. Gleichzeitig tragen wir nicht nur unsere eigene Vergangenheit in uns, sondern auch die menschheitliche Vergangenheit, die nach wie vor in unseren Seelen präsent ist. Die neue Struktur löst die überkommenen Strukturen nicht einfach auf, sondern nimmt sie in sich auf, integriert sie.

Die Aufgabe des integralen Bewusstseins ist es, uns aller uns konstituierenden Bewusstseinsstrukturen bewusstzuwerden und sie in ihrer jeweiligen Qualität und ihren Auswirkungen auf unser Leben wahrzunehmen. Die integrale Struktur ermöglicht gewissermaßen ein Durchsichtig-Werden der inneren Strukturen. Mit ihr erheben wir uns aus der Materie- und Psychogebundenheit heraus und stehen vor einer neuen Aufgabe: der Befreiung aus den Konditionierungen, persönlichen Befindlichkeiten und der Identifikation des Ich.

Integration des Konkreten

Vom archaischen zum integralen Bewusstsein: Der Prozess der Bewusstwerdung vollzieht sich in drei Schritten: Projektion, Konkretion und Integration. Latente Inhalte des Bewusstseins müssen zunächst auf ein Gegenüber projiziert werden, damit sie in der Konkretion spürbar, fühlbar und sichtbar werden können.

Erst wenn etwas im Außen konkret wird, kann es verstanden und integriert werden. Dank der Projektion, die im Außen sichtbar werden lässt, was im Innen schlief, kann dem Menschen dieses Innen bewusst und damit denk- und sichtbar werden.

Nur das Konkrete, nicht das Abstrakte kann integriert werden. Wir brauchen das ganz konkrete Erleben im eigenen Leib, das Erfahren und Durchfühlen, damit sich unser Bewusstsein weiterentwickeln kann. Es tut es von sich aus. An uns ist es, die Erfahrungen nicht in dem Moment wegzustoßen, in dem sie uns begegnen, sondern den inneren Prozess geschehen zu lassen. Nur mit diesem Annehmen gelingt die Integration, die uns auch die Schrecken der Neuzeit auflösen lässt.

Das Bewusstsein darüber wird erhalten bleiben, so wie wir noch die Erinnerung an die vergangenen Bewusstseinsformen in uns tragen. Wir haben noch Zugriff auf das archaische, das magische und das mythische Bewusstsein. Wir erfahren es zum Beispiel, wenn wir in den nächtlichen Sternenhimmel schauen, wenn im Traum Raum und Zeit verschwimmen, wenn wir lieben und uns darauf einlassen, im Anderen nicht das Feindliche, sondern das Heilende und Ergänzende zu sehen.

Lassen wir uns erneut vom Narren den Spiegel vorhalten. Nehmen wir es leicht. Der Narr ist wie das Kind, das unbeschwert und voller Neugier in die Welt hinausgeht. Ein neuer Zyklus ist dabei zu beginnen. Sträuben wir uns nicht dagegen und ergreifen wir die Gelegenheit, die Dinge nicht mehr persönlich zu nehmen. Sie sind nicht gegen uns gerichtet. Lassen wir das Bewusstsein sich weiter entfalten und legen wir ihm keine Hindernisse in den Weg. Das ist alles. Aus dieser Haltung heraus können wir ins Handeln kommen und eine Welt gestalten, in der sich die Dinge erneut ergänzen.