Der Hybrid-Mann

Der Mensch alten Typs hat ausgedient und wird neuartigen, fehlerbereinigten Züchtungen Platz machen müssen — eine Satire aus der nahen Zukunft.

Die Zukunft ist eigentlich in trockenen Tüchern. Die klügsten Denker haben sie für uns längst in ansprechenden Visionen ausgemalt. Wir werden älter werden und gesünder altern. Die Technik wird uns alle Mühen des Alltags abnehmen. Verbrechen oder selbst der Gedanke daran werden nicht länger existieren. Unglück wird biochemisch abgeschafft. Eine leistungsoptimierte Menschheit wird, einem reibungslos funktionierenden Uhrwerk gleich, den Wertschöpfungsprozess zu unser aller Wohl vorantreiben. Einziges Hindernis auf dem Marsch nach Technotopia: der Mensch. Jedenfalls der Mensch alten Typs, den man im Rückblick als eine beklagenswerte Sackgasse der Evolution betrachten muss. Klar ist mittlerweile: Es braucht nicht nur Verbesserungen an der einen oder anderen Stellschraube, nötig ist vielmehr eine komplette Neuschöpfung der Spezies. Und die beginnt, wie jede Veränderung, mit der Kreation von Prototypen — Pionier-Individuen, die den Hinterherhinkenden in die Zukunft vorauseilen. Ja, es könnte eine Entwicklung eintreten, an deren Ende sich der Mensch, wie wir ihn bisher kannten, als entbehrlich erweisen wird. Bevor es so weit ist, könnte es zwischen altem und neuem Menschen jedoch noch Reibereien geben. Die Hauptfigur dieser Geschichte hat ihn schon getroffen: den Mann der Zukunft.

„Johannes?“, fragte ich erstaunt und sah vor meinem inneren Auge das Haupt des Täufers, weißhaarig und langbärtig, auf einem Silbertablett.

„Jannis!!!“, korrigierte mich Anna und schloss dabei verzückt die Augen, als würden in ihrem Innersten die Bilder unaussprechlicher Wonnen nachklingen.

So hieß also Annas neuer Lover: Jannis. Dass sie mir das brühwarm erzählt hat, ist menschlich verständlich. Wir hatten nach unserer Trennung ein gutes, fast wieder freundschaftliches Verhältnis zueinander gefunden. Aber dass sie darauf bestand, dass ich Jannis kennen lernte … das hätte nicht unbedingt sein müssen. Es gibt nur einen Grund, warum eine Frau ihrem Ex ihren Neuen vorstellen möchte: Sie will demonstrieren, dass sich eine Frau wie sie rasch und auf hohem Niveau zu trösten weiß und ihren Verflossenen durch die Konfrontation mit einem makellosen Nachfolger beschämen. Und es gibt nur einen Grund, warum sich der Neue auf so ein Spiel einlassen sollte: Er will in gönnerhaftem Tonfall klar machen, wer jetzt Herr im Haus ist.

Ich teilte Anna also vorsichtig meine Bedenken mit, doch sie meinte: „Nein, so ist es überhaupt nicht. Jannis ist gar nicht eifersüchtig.“ Natürlich konnte sie sich nicht verkneifen, hinzuzufügen: „Das muss er auch nicht“ und dabei genießerisch die Augenbrauen zu heben. „Er ist ein starker Mann, weißt du. Stark in jeder Bedeutung des Wortes. Du weißt ja, du hattest mich in dieser Hinsicht in letzter Zeit nicht gerade verwöhnt.“

Ich war auf so eine Anspielung schon vorbereitet. O.k., ich war in der Schlussphase unserer Beziehung nach der Arbeit ein bisschen abgespannt gewesen. Und dann der Rauswurf bei der Zeitung, das hatte mich echt weichgeklopft, zumal mir die Raten an das Gericht nach meiner Verurteilung wegen eines Patentrechtverstoßes wirklich über den Kopf gewachsen waren. Und dann noch der Stress mit Anna. Ich wollte nicht mehr so oft wie früher, zugegeben, und manchmal konnte ich eben auch nicht mehr. Umso weniger hatte ich Lust auf die Begegnung mit ihrem offenbar nimmermüden Macker. Musste ich in der hollywoodreifen Romanze des Traumpaars Anna und Jannis unbedingt die beste Nebenrolle des skurrilen Trottels geben?

Ich wollte schon gehen und berief mich (was der Wahrheit entsprach) auf eine hartnäckige gesundheitliche Schwäche, eine noch nicht auskurierte Grippe, die mich mit Fieber, Durchfall und Erbrechen in der letzten Woche arg gebeutelt hatte. Aber Anna hielt mir kommentarlos die Fotos unter die Nase. Widerwillig blätterte ich sie durch: Anna mit Jannis Wange an Wange auf dem Sofa, Anna mit Jannis auf der Premierenparty, Anna mit Jannis in Badekleidung am Strand.

In meinem inneren Film verschwand der Täufer mit dem langen Bart, und ein wahrer Prachtkerl nahm seinen Platz ein. Jannis wirkte, als habe man den Kopf einer jüngeren Version von Ministerpräsident Daniel Günther auf den Oberkörper von Tarzan-Darsteller Alexander Skarsgård montiert. Selbstverständlich verunzierte — im Gegensatz zu Günther — keine Brille den zugleich stählernen und jovial-treuherzigen Blick des Erwählten, und sein raubtierhaftes Siegerlächeln legte eine makellos weiße Zahnreihe frei.

„Er sieht … gut aus“, räumte ich etwas eingeschüchtert ein.

„Er sieht fantastisch aus!“, schwärmte Anna und fügte, ohne dass ich irgendeine hämische Bemerkung gemacht hätte, hinzu: Ich weiß, was man über schöne Männer sagt, dass die Natur Schönheit, Intelligenz und einen guten Charakter niemals freigiebig an ein und denselben Menschen verteilt. Aber bei Jannis ist das anders, glaub mir, Jannis ist perfekt!

„Anna“, versuchte ich zu erklären, „du weißt doch, wie das läuft. ‚Perfekt‘ — sind wir das nicht alle, am Anfang? Weißt du noch, was du mir bei unserem ersten Bodenseeurlaub ergriffen ins Ohr gehaucht hast: „Du bist nicht nur die Liebe meines Lebens, du bist die eine und einzige Liebe aller meiner Leben!

„Jaja“, versuchte Anna dem Thema peinlich berührt auszuweichen. „Irren ist menschlich und manchmal eben auch weiblich. Aber du verstehst nicht, was ich sagen will. Ich meine: Jannis ist wirklich perfekt, sozusagen perfekt mit offiziellem Perfektionszertifikat.“

Ich muss sie sehr verblüfft angestarrt haben, denn Anna ließ mich mit einem genervten „Ach, du!“ stehen, ging ins Nachbarzimmer und kam mit einem Nachrichtenmagazin in der Hand zurück, das auf einer bestimmten Seite aufgeschlagen war. Es war eine Werbeseite: nebeneinander die Fotos von zwei Auberginen, zwei Früchte wie sie unterschiedlicher nicht sein konnten: Die Aubergine auf der linken Seite deformiert, verschrumpelt und an verschiedenen Stellen von hässlichen Wurmlöchern durchstochen, ihre dunkelviolette Oberfläche von nur mattem und unregelmäßigem Glanz. Die Aubergine auf der rechten Seite dagegen von vierfachem Volumen, makellos, prall wie ein zum Bersten angeschwollener Luftballon und schwarz glänzend wie ein frisch lackierter Konzertflügel. Über den beiden Fotos der Slogan: „SchulzTech —the difference is obvious“.

Ich kannte die Anzeige, eine Art medialer Vorher-Nachher-Show, in der sich der weltbekannte Schulz-Konzern, Marktführer auf dem Gebiet der Erbgutpatente, als Schöpfer makelloser Exzellenz empfahl. Es gab dieselbe Anzeige mit Tomaten, mit Himbeeren und zum Schluss sogar mit Hunden und Milchkühen. Immer war die Aussage dieselbe: Das Gewöhnliche, Fehlerbehaftete und Erbärmliche konstrastierte mit dem Strahlenden, Fleckenreinen und Erhabenen.

Ich verstand zunächst nicht. „Und was hat das Ganze mit Jannis zu tun?“, fragte ich.

„Hast du nie von dem DNS-optimierten, neuen Menschentyp gehört? Sag mal, liest du keine Zeitung, seit du bei der Redaktion rausgeflogen bist?“

Ich brauchte noch ein paar Sekunden, bis ich begriff. Dann entlud sich meine angestaute Spannung in einem heftigen und anhaltenden Lachkrampf. „Jannis ist … er ist …“, prustete ich, „er ist … ein Schulz-Primat!

„Man sagt: ‚Schulz-Humanoid‘“, korrigierte mich Anna verärgert. „Ich möchte nicht, dass du über Jannis schlecht redest. Das ist doch nur der Neid. Wenn überhaupt, dann ist er ein genbereinigter Schulz-Humanoid der neuesten Generation. Es ist aber auch nicht falsch, ihn weiterhin als einen Menschen zu bezeichnen. Vielleicht ist Jannis sogar mehr Mensch, ich meine: in einem höheren Sinne Mensch als du und ich zusammen.“

Der Ausdruck „Schulz-Primat“ war mir einfach so rausgerutscht. Vor ungefähr fünf Jahren, als SchulzTech erstmals das Patent auf die Himbeerpflanze und ihren kompletten genetischen Code angemeldet hatte, war die neue Sprachregelung noch ungewohnt gewesen: „Schulz-Beeren“, das ging konservativen Menschen wie mir nicht leicht von der Zunge.

Später, als Schulz das Monopol auf die genetische Optimierung von immer mehr traditionellen Nutz- und Kulturpflanzen an sich riss, gewöhnte man sich an die seltsamen Wortungetüme: Es gab Schulz-Beeren, Schulz-Nachtschattengewächse (Tomaten), Schulz-Hülsenfrüchte (Bohnen) und schließlich, nachdem die Patentierung von Nutztierarten legalisiert worden war, auch Schulz-Paarhufer (Schweine) und Schulz-Carnivoren (Hunde). Das seltsame war, wie schnell sich die Bevölkerung daran gewöhnte. Kaum war ein neues Patent vergeben und eine neue Sprachregelung über die Medien bekannt geworden, konnte man nirgendwo mehr einfach von „Kühen“ sprechen, ohne von einem Besserwisser mit ernstem Gesicht und bestimmtem Tonfall korrigiert zu werden: „Sie meinen: Schulz-Wiederkäuer“.

Irgendwann kam einer meiner Freunde dann auf den grandiosen, damals aber noch absurd anmutenden Gedanken, dass Schulz wohl demnächst auch das Patent auf menschliches Erbgut anmelden würde. Wir überlegten, wie die neu gezüchtete Spezies heißen könnte, und kamen auf „Schulz-Primaten“, was wir unter ziemlich einhelligem Gelächter der Zuhörer bei verschiedenen gesellschaftlichen Veranstaltungen zum Besten gaben. „Schulz-Primaten“ — die Wortschöpfung machte die ganze Absurdität dieses Gedankens — Patent auf menschliches Leben — schlaglichtartig deutlich.

Wir amüsierten uns noch lange darüber, und „Schulz-Primat“ wurde in meinem Bekanntenkreis zu einem gern zitierten geflügelten Wort. Wir lachten solange, bis in der Zeitung über die ersten Verhandlungen zwischen SchulzTech und der Regierung über die Vergabe des Patents an genetisch optimiertem menschlichem Erbgut berichtet wurde.

Der Papst, attac und ein paar unverbesserliche gesinnungsethische Fundamentalisten protestierten zwar noch eine Weile; schon bald stellte sich jedoch heraus, dass Gegner des neuen „Schulz-Menschen“, wenn sie versuchten, sich dem alles mitreißenden Strom des Fortschritts entgegen zu stemmen, ungefähr so altbacken wirkten wie die Verteidiger der klanglichen Überlegenheit von Vinyl-Langspielplatten. Bilder der ersten Schulz-Babys gingen bald darauf durch die Presse; stramme, quietschvergnügte, vor Vitalität strotzende Kinder schienen es zu sein, kleine Schönheiten allesamt, die ihren stolzen Eltern nichts als Freude zu bereiten schienen.

„Entschuldige, Anna, aber ich wusste nicht, dass die schon so weit sind“, sagte ich verlegen. „Ich dachte, das wären alles noch kleine Windelkacker.“

„Ihre neue genetische Programmierung ermöglicht es bei Schulz-Humanoiden, den Wachstumsprozess um das zehnfache eines mit herkömmlichen Methoden reproduzierten Menschen zu beschleunigen“, dozierte Anna, die sich offenbar gut in die Materie eingearbeitet hatte. „Schulz-Menschen bleiben nur etwa fünf Wochen im Uterus und fallen nach ihrer Geburt praktisch auf ihre Füße — wie kleine Fohlen, die schon wenige Minuten nach der Geburt oft, wenn auch wackelig, selbst laufen können. Schulz-Menschen sind nach dreieinhalb Monaten trocken, schreien nur selten (und wenn, dann aus triftigem Grund) und machen ihren Müttern kaum Mühe. Selbst die wenigen Exkremente, die sie produzieren, riechen dank neuartiger genetischer Programmierung eher angenehm wie frischer Humus mit einem Hauch Lavendelduft.“

„Vor zwei Jahren wurden die ersten Babys geboren, und du willst ernsthaft behaupten, dass Jannis in diesem Zeitraum zu einem Mann herangewachsen ist!? Du musst dich beeilen, seine Vorzüge zu genießen, sonst ist er in weiteren zwei Jahren ein Greis und in drei Jahren zu einem Skelett verfallen“, spottete ich.

„Du irrst dich“, korrigierte mich Anna ruhig. „Schulz-Humanoide“ können ihre optimale Körperform, wenn sie einmal erreicht ist, über circa 120 Jahre aufrechterhalten. In diesem Zeitraum findet kaum ein sichtbarer Alterungsprozess statt. Du kennst doch die Werbung …“

Ich schaute noch einmal auf die Anzeigenseite mit den beiden Auberginen und verglich die Daten, die darunter aufgelistet waren. Linke Aubergine: Haltbarkeit bei Zimmertemperatur maximal vier Tage, rechte Aubergine: Haltbarkeit bis zu zwölf Tagen. Die Langlebigkeit der von Schulz genetisch neu codierten Feldfrüchte zählte zu ihren populärsten und offensichtlichsten Marktvorteilen. Warum sollte das bei menschlichem Genmaterial anders sein?

Ich war nun doch etwas verärgert. „Ach, und du willst damit sagen, dass ich dieser kleinen, verschrumpelten Aubergine entspreche, und Jannis der großen, prallen!?“

„Naja, weißt du“, beschwichtigte Anna wenig überzeugend, „du siehst wirklich nicht schlecht aus, auch wenn du bei der Körperpflege mal ein bisschen besser auf dich achten könntest …“

Ich schnupperte verunsichert unter meinen Achselhöhlen: In der Tat stand es um Haarschnitt, Outfit und Pflege bei mir nicht zum Besten, vor allem nach meiner Krankheit und seit meine finanzielle Misere eskaliert war.

„Aber, sei mir nicht böse, mit Jannis kannst du dich dann doch nicht vergleichen. Jannis ist
…“

„… perfekt, ich weiß. Vermutlich hat er auch keine charakterlichen Schwächen.“

„Hybrid-Männer sind mit einem Gen-Code ausgestattet, der ihnen die optimale mentale Verarbeitung negativer Umweltreize ermöglicht. Das heißt, die bei Männern sonst üblichen Neurosen und psychischen Unzulänglichkeiten sind bei ihnen quasi wegprogrammiert. So was wie Kindheitstraumata gibt es bei ihnen praktisch nicht, zumal die Eltern, die ein solches Prachtkind austragen dürfen, von Schulz vorher sorgfältig dafür ausgesucht werden. Und welchen Grund hätten Eltern, ein Kind schlecht zu behandeln oder zu traumatisieren, das schlichtweg perfekt …“

„Ja, ich weiß.“

„Hybrid-Männer gleichen dem strahlend blauen Himmel an einem wolkenlosen Tag, bei normalen Männern ziehen dagegen immer wechselnde Wolkenformationen vorbei. Verstehst du, in der Seele eines Hybrid-Mannes gibt es keine dunklen Flecken. Ich bin noch nie einem solchen Menschen begegnet wie Jannis. Er belastet mich nie mit seinen eigenen Problemen. Er reflektiert mich wie ein klarer Spiegel, weil er im Gegensatz zu gewissen anderen Männern nicht ständig wie ein Pubertierender um seinen eigenen Nabel kreist: Er ist sozusagen schwächenbereinigt, menschlichkeitsbereinigt!

Zum ersten Mal hatte ich das merkwürdige Wort bewusst aufgenommen: „Hybrid-Mann“. Ich fragte Anna, was es bedeutete.

„Das ist doch klar“, sagte sie: „Hybrid-Männer sind unfruchtbar. Wenn sie zum Orgasmus kommen, ejakulieren sie nicht. Da ist nichts, was aus ihnen herauskommen könnte. Und das, obwohl es ihnen, was die Funktionstüchtigkeit betrifft, an nichts fehlt. Ganz im Gegenteil. Ich sagte ja: schwächenbereinigt.“ Anna zwinkerte und hatte wieder diesen träumerisch-genüsslichen Blick. „Du musst zugeben, dass das enorme Vorteile mit sich bringt. Man hat nicht jedes Mal diese weißlichen Flecken auf dem Laken. Und vor allem: keinerlei Gefahr, schwanger zu werden, weshalb das Thema Verhütung komplett entfällt. Damit muss ich auch in keinerlei Weise vorsichtig sein: du weißt schon, wegen Patentrechtsverletzung.“

Ich konnte nur ahnen, was sie damit meinte: Schulz-Humanoide konnten sich nicht fortpflanzen. Das Sperma, das zu ihrer Erzeugung notwendig war, wurde in Labors gezüchtet, und wer den Wunsch nach einem „besonderen Kind“ verspürte, musste für teures Geld genoptimiertes Sperma bei SchulzTech kaufen. Wer sich Schulz-Genmaterial auf illegalen Wegen besorgte, konnte wegen Genpiraterie und schweren Verstoßes gegen geltendes Patentrecht zu Haftstrafen nicht unter fünf Jahren verurteilt werden. Aber was hatte das mit Annas Situation zu tun?

„Du verstehst immer noch nicht, hm? Du scheinst wirklich in den letzten Monaten auf einem anderen Planeten geweilt zu haben. Das neue Patentgesetz. Seit 1. Januar. Verbot der Wildzeugung von Exemplaren einer patentrechtlich geschützten Spezies.

In der Tat hatte ich auch jetzt noch nicht begriffen und musste Anna mit offenem Mund angestarrt haben.

„Also gut, noch mal von vorne für den begriffsstutzigen Mann der Prä-Schulz-Ära: Seit dem 1. Januar ist das Erbgut der gesamten menschlichen Spezies Eigentum von SchulzTech. Darauf haben sich UNO, Weltbank und Weltpatentamt im letzten Herbst geeinigt. Erinnerst du dich nicht an die Massendemonstrationen mit über 30 Teilnehmern am Münchner Odeonsplatz im November? Stoppt Schulz. Kein Patent auf menschliches Leben, und so weiter. Dämmert‘s jetzt bei dir?“

Die Massendemonstration musste mir in der Tat entgangen sein, vielleicht auch weil mir mein Provider im Herbst wegen Zahlungsunfähigkeit den DSL-Anschluss abgeschaltet hatte.

„Die Protestwelle ebbte schnell ab, es regte sich kein nennenswerter Widerstand gegen die Pläne von Schulz, und das heißt, ab 1. Januar ist die Menschheit quasi Eigentum von Schulz. Verboten ist nicht nur, sich Sperma von SchulzTech widerrechtlich anzueignen, verboten ist auch, ein Kind zu zeugen und auszutragen, das nicht bei Schulz ordnungsgemäß bestellt und bezahlt worden ist. Was meinst du, warum die Abtreibungsraten so in die Höhe schießen? Pure Angst, wegen Patentrechtsverbrechen belangt zu werden.

Poppen ist heutzutage nicht mehr so einfach. Es ist sozusagen illegaler Sperma-Download.“

Anna zitierte einen offenbar verbreiteten Werbeslogan, den sie — einschließlich des ernst-bedrohlichen Tonfalls — perfekt imitierte: „Menschliches Erbgut ist keine Freeware. Genpiraterie ist kein Kavaliersdelikt. Wer menschliches Leben wild und unter Umgehung der geltenden Rechtsnormen erzeugt, macht sich strafbar. Helfen Sie der Polizei. Bringen Sie illegale Schwangerschaften zur Anzeige.“

„Aber …“, versuchte ich bestürzt einzuwenden.

Ich konnte nicht ausreden, weil in diesem Moment der Schlüssel in Annas Wohnungstür ging. Die Tür öffnete sich mit einem entschlossenen Schwung. Vor mir stand Jannis. Er wirkte noch mächtiger, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Der anthrazitfarbene, seidige Stoff seines Maßanzugs schmiegte sich perfekt um seine Muskelberge. Von seinem Gesicht sah ich zunächst nicht viel, da Jannis, ohne mich auch nur anzusehen, sogleich begann, Anna ausgiebig zu begrüßen. „Hallo, meine Schöne, meine Zuckerschnute“, rief er mit volltönender Stimme. Dann küsste er sie nicht nur, er wühlte mit seiner Zunge in ihrer Mundhöhle, wie ein Kind eine Schüssel Pudding ausschleckt, während er meine Anwesenheit kurz aus dem Augenwinkel registrierte. Zwischen Anna und mir war sexuell schon lange der Ofen aus gewesen, aber dieser Anblick war mir denn doch etwas zu viel.

„Ah, und da ist der werte Verflossene“, wandte er sich nun an mich, während er sich mit der Rückhand noch einmal genüsslich über seine makellosen, vollen Lippen fuhr. Seine große Hand presste die meine mit kernigem Griff, zwei Augen von der Klarheit eines Bergsees fixierten mich herausfordernd, während sich seine dichten Brauen dachförmig nach oben wölbten. „Freut mich, freut mich.“ Und zu Anna hinüberzwinkernd: „Tolle Frau! Aber wem sage ich das, nicht wahr?“

Anna stellte mich vor. Dann spürte ich unvermutet einen leichten Klaps seiner Rückhand auf meinem Bauch, der mich zusammenzucken ließ. „Du hast ja mächtig zugelegt, mein Lieber. Auf den Fotos siehst du jedenfalls um einiges schlanker aus.“

Unwillkürlich fühlte ich mich unbehaglich und schielte entschuldigend zu meinem zugegebener Weise in den letzten Monaten etwas angeschwollenen Bäuchlein hinunter. „Ich hatte in der letzten Zeit etwas Stress. Kam nicht so zum Sport treiben …“, setzte ich zu einer Erklärung an.

„Nein, nein, nein!“, unterbrach mich Jannis und fixierte mich mit einem zwingenden Blick. „Keine Entschuldigung. Wie sagt Jonathan Sunday so schön: ‚Es gibt keine Entschuldigung für Entschuldigungen.‘“

Mir war der Name des amerikanischen Mentaltrainers Jonathan Sunday, Autor des Weltbestsellers „Pray for Cash“, natürlich ein Begriff.

„Wenn du eingesehen hast, dass du zu dick bist, dann fang nicht an, mir das zu erklären, sondern triff eine Entscheidung und ändere dann dein Verhalten Schritt für Schritt. Ich zum Beispiel gehe jeden Morgen erstmal eine Stunde joggen, bevor ich meinen Rote-Beete-Saft trinke. Da bin ich eisern. Keine Ausnahmen, keine Entschuldigungen. Es gibt zwei Typen von Menschen, weißt du, welche das sind?“, fragte er, und ich fühlte mich plötzlich wie ein Schüler in einer Prüfung.

Ich zuckte mit den Achseln.

„Es gibt Gewinner und Verlierer. Und weißt du, was die einen von den anderen unterscheidet? — Für einen Verlierer sind immer nur die anderen daran schuld daran, was sie aus ihrem Leben gemacht haben: Mal ist es das Milieu, mal die Eltern, der Lehrer, der Chef … Ein Gewinner dagegen …“

Jannis war mit seinem Gesicht jetzt noch nähergekommen, sodass ich sein Rasierwasser und den reinen Minzegeruch seines Atems riechen konnte.

„… Ein Gewinner trifft Entscheidungen und übernimmt die Verantwortung dafür. Was machst du übrigens beruflich?“

In Anbetracht meiner momentan eher ruhmlosen beruflichen Situation fühlte ich mich durch diese Frage etwas unter Druck gesetzt. Ich merkte, wie ich an den Handflächen und unter den Achseln zu schwitzen begann, und fühlte mich am ganzen Körper klebrig und verschlackt. Mein bisheriger beruflicher Weg erschien mir auf einmal wie eine ununterbrochene Kette von Fehlleistungen und Versagen. „Ich bin … nun ja, das lässt sich nicht so in einem Satz sagen … ich betreibe ein unabhängiges Webmagazin.“

„Wie viele Hits pro Tag? Wie viele Einnahmen durch Bannerwerbung?“, fragte Jannis in einem ungeduldigen, zackigen Tonfall.

„Nun ja, das Magazin ist eigentlich im Moment noch im Aufbau begriffen. Es ist noch ein bisschen Arbeit nötig, bis es mich finanziell trägt …“

„Er ist Hartz-IV-Empfänger“, unterbrach mich Anna. Ich quittierte ihren Verrat mit einem giftigen Blick.

Wider Erwarten schien diese Eröffnung Jannis jedoch gnädig zu stimmen. „Naja, das macht ja nichts. Es kommt nicht so sehr darauf an, ob jemand fällt. Worauf kommt es an?“ Er ließ seine geöffnete, rechte Hand ungeduldig in Brusthöhe kreisen, womit er sagen wollte, dass ich mich mit meiner Antwort zu beeilen hätte.

„Es kommt darauf an, ob jemand die Kraft hat, wieder aufzustehen“, assistierte ich ihm, weniger aus Überzeugung, als in der Hoffnung, das Gespräch durch mein Entgegenkommen vielleicht abkürzen zu können.

„Ganz genau!“ Er deutete mit seinem Zeigefinger wie mit einer Lanzenspitze auf mich. „Es kommt darauf an, ob er fähig ist, genau einmal öfter aufzustehen, als er hinfällt.“ Jannis legte seine Hand auf meiner Schulter ab, die unter dem Druck leicht nachgab, und setzte seinen unerschütterlichen Motivationsblick auf. „Kennst du die Geschichte von den beiden Brüdern? Der einer landet als Obdachloser unter der Brücke, der andere ist jetzt ein erfolgreicher Day-Trader mit eigenem Maklerbüro, Haus in der Elbchaussee und Ferienhaus an der Costa del Sol. Und weißt du, was beide unisono geantwortet haben, als ich sie fragte, was sie zu dem gemacht hat, was sie heute sind?“

Ich musste die Antwort schuldig bleiben.

„‚Kein Wunder‘, haben beide gesagt‚ ‚bei den Eltern!’ Verstehst du, was ich meine?“
Ich verstand durchaus.

„Und siehst du, deshalb möchte ich von dir nie wieder — verstehst du mich: nie wieder — hören, dass irgendjemand anderes für dein Leben die Verantwortung trägt als du selbst.“

Ich merkte, dass ich gegen Jannis‘ rhetorische Brillanz keine Chance hatte, und versuchte es mit einer Flucht nach vorn. Vielleicht war das offenherzige Eingeständnis der eigenen Erbärmlichkeit der Weg, um Gnade vor den Augen des Makellosen zu finden. „Sicher hast du Recht, Jannis. Ich wollte sowieso diese Woche wieder mit dem Schwimmen im Volksbad anfangen. Es hat erst letzten Samstag wieder geöffnet. Die Trennung von Anna hat mich nur etwas traurig gestimmt. Ich brachte morgens einfach nicht die Energie auf …“

„Nein, nein, nein!“, unterbrach mich Jannis mit einem vehementen Blitzen seiner Augen.

Ich starrte ihn eingeschüchtert an.

„Nicht Anna war es, die dich traurig gemacht hat. Du hast dich dazu entschlossen, dich traurig zu fühlen. Ebenso gut hättest du dich entschließen können, zu sagen: ‚Na gut, ich habe diese Frau jetzt verloren. Aber schon heute beginne ich damit, mein neues Leben erfolgreich und dynamisch zu gestalten. Dann bin ich auch für eine neue Frau wieder ein attraktiver Partner.‘“

„Schon heute beginne ich damit, mein Leben erfolgreich und dynamisch zu gestalten …“, wiederholte ich leiernd. Es muss wohl geklungen haben, als sagte ein Schüler eher unwillig seine Lektion auf.

„Nein, nein, nein! Das klingt immer noch so, als ob du auf einer Beerdigung wärst. Schultern nach hinten, Bauch rein, Beine schulterbreit fest auf dem Boden und erst mal drei kräftige Atemzüge. Es ist nicht nur die innere Haltung, die die äußere Haltung beeinflusst, diese Regel gilt genauso gut auch umgekehrt.“

Überwältigt von Jannis‘ Charisma gehorchte ich und atmete in soldatischer Körperhaltung hastig ein und aus. Die Übelkeit überkam mich unerwartet und jäh. Ohne Anna und Jannis etwas erklären zu können, rannte ich auf die Toilette und übergab mich in einem säuerlich riechenden Sturzbach. Als ich wieder herauskam, merkte ich, wie meine Beine schwankten und das Bild vor meinem Blick verschwamm. „Ich …“, stammelte ich, „ich habe mich dazu entschlossen, Übelkeit zu empfinden und dann habe ich mich dazu entschlossen, auf dem Klo zu erbrechen … und … ich glaube, ich habe mich auch dazu entschlossen, jetzt nach Hause zu gehen.“

„Setz dich erst mal“, sagte Anna und brachte mir ein Glas Mineralwasser. Zum ersten Mal seit unserer Trennung glaubte ich, etwas wie Wärme in ihrer Stimme zu spüren. Es war immer eine Stärke von Anna gewesen. So kühl sie im Alltag wirken konnte, wenn es mir oder jemand anderem wirklich dreckig ging, war auf Anna Verlass.

„Du musst nicht so streng mit ihm sein“, wandte sie sich an den sichtlich angewiderten Jannis, so wie eine Mutter bei einem Vater für den gemeinsamen Sohn um Schonung bittet. „Er hat halt nicht deine Gene.“

„The difference is obvious“, rezitierte Jannis ungerührt und begann wieder auf mich einzureden: „Atme tief und sprich bei jedem Atemzug im Gedanken: ‚Mir geht es gesundheitlich in jedem Augenblick immer besser und besser.‘“

Ich schwieg noch leicht benommen und war froh, dass Anna die angespannte Stille unterbrach:

„Schon wieder eine Spinne“, rief sie fast zärtlich, während ihre Augen zu einem schummrigen Winkel an der Zimmerdecke wanderten. Tatsächlich hockte dort zwischen staubigen Fäden ein recht großes Exemplar, hochbeinig, mit schlankem Körperbau.

„Anna, hatten wir nicht ausgemacht, dass das Ordnungsniveau in deiner Wohnung …“, mahnte Jannis.

„Ich weiß, Schatz, aber ich hatte in den letzten Wochen immer erst so spät Dienstschluss, musste für eine Kollegin einspringen …“

„Anna! Was hatten wir ausgemacht?“

„Ich weiß Schatz, ‚keine Entschuldigungen‘. Du hast natürlich Recht.

„Ganz genau“.

„Ich hol sie“, sagte ich und ging mit der Selbstverständlichkeit eines ehemaligen Mitbewohners in die Küche, um die Utensilien zum Spinnenfang zu holen: einen alten Plastikbecher und einen quadratischen Notizzettel von Annas Zettelblock, der immer auf dem Telefonschrank lag.

Anna mochte Spinnen. Als wir noch zusammen waren, hatten wir eine besonders dicke Kreuzspinne sogar als eine Art Haustier adoptiert. Wir nannten sie „Kankra“ und beobachteten sie oft stundenlang fasziniert beim Netzbau. Wir hatten keine Angst vor ihr. Anna bestand sogar darauf, Kankra ihren Lebensraum zu lassen, solange sie wollte, obwohl ich dafür plädiert hatte, sie vorsichtig mit der Becher-Papier-Methode nach draußen zu befördern. Manchmal, wenn die Fäden bei einem bestimmten Licht glitzerten, ergaben sie ein bezauberndes, hauchzartes Muster vor der Fensterscheibe, während Kankra trotz ihres kugelförmigen, massigen Körpers mit erstaunlicher Eleganz auf ihrem Netz hin und her balancierte. Irgendwann war das Netz dann über Nacht verschwunden. Offenbar war Kankra freiwillig gegangen, weil in unserer Wohnung nicht genügend Fliegen verkehrten.

Ich stieg also mit Becher und Papier auf einen Stuhl und näherte mich der Spinne vorsichtig. Sie musste aber etwas gewittert haben, denn immer entkam sie dem Becher um Haaresbreite. Ich stieß mit dem Becherrand auch nicht so schnell und heftig zu, wie ich es hätte tun können, denn ich hatte Angst, die zarten Beine der Spinne einzuklemmen und irreparabel zu beschädigen.

„Nun wollen wir das traurige Spiel aber mal ein wenig abkürzen.“ Ich wollte gerade meinen Stuhl in eine andere Position bringen, um die Spinne besser erreichen zu können, da hörte ich ein lautes Klatschen. Triumphierend präsentierte uns Jannis eine TV-Zeitschrift, auf der — plattgedrückt und armselig — die Leiche der Spinne klebte.

Ich suchte Annas Augen, um herauszufinden, ob sie dasselbe empfand wie ich, doch sie wich mir aus. „Ich töte Spinnen normalerweise nicht“, murrte sie, jedoch mit der gedämpften Wut einer Frau, deren Wille schon teilweise gebrochen ist.

„Sie hat ihre Chance gehabt. Wer zu langsam ist, den bestraft das Leben“, sagte Jannis ungerührt. Und er vergaß nicht, an mich gewandt hinzuzufügen: „Wie bei der Jobsuche, mein Lieber“.

Anna sagte nichts mehr, schien aber immer noch traurig zu sein.

„Was ist?“, schnauzte sie Jannis an. „Machst du mir Vorwürfe wegen dem Spinnenvieh?“

„Sie wollte vielleicht auch leben.“

„Es geht nicht darum, ob jemand leben will, Anna. Es geht darum, ob er stark genug ist, sich sein Leben auch zu verdienen. Das ist ja gerade der Irrglaube, der zu dem beklagenswerten Verfall der alten Menschheit geführt hat: Ihr wollt sie alle am Leben lassen: die Schwachen, die Trägen, die Ineffektiven …

Es rechnet sich einfach nicht, gesellschaftliche Ressourcen an die Schwachen zu verschwenden. Wenn ihr das nicht begreift, dann seid ihr eine zum Aussterben verurteilte Spezies — genetisch defekte Auslaufmodelle, deren historische Bedeutung sich darin erschöpft, für uns den Weg bereitet zu haben.“

„Jetzt übertreibst du aber, Schatz“, meinte Anna mit einer schüchternen Stimme, die ich an ihr früher nicht gekannt hatte.

„Wahrscheinlich hat er Recht“, sagte ich. „Ich hatte sowieso schon länger den Eindruck, dass das Wirtschaftsleben fast nur noch aus Menschen wie Jannis besteht. Die genetische Optimierung wäre vielleicht gar nicht notwendig gewesen.“

„Ah, der Herr Transferleistungsempfänger versucht, witzig zu sein“, sagte Jannis in einem Tonfall, der ruhig, überlegen und zugleich bedrohlich klang. „Menschen wie ich, wie du dich auszudrücken beliebst, leisten Tag für Tag einen wertvollen Beitrag für unsere Gesellschaft. Zum Beispiel, wie in meinem Fall, indem sie zur Zwangsversteigerung freigegebene Häuser billig aufkaufen und sie dann mit hohen Preisaufschlägen an zahlungskräftige Interessenten weiterverkaufen.“

„Es stimmt, von der Not anderer zu profitieren, qualifiziert ihn eindeutig als die Spezies der Zukunft“, sagte ich augenzwinkernd zu Anna. Ich fühlte mich jetzt wieder ein bisschen kräftiger und gegen meine Gewohnheit sogar kampfeslustig.

Aus Jannis‘ sonst so heiter-nichtssagendem Blick funkelte mich für einen Augenblick ein konzentrierter Hass an, der mich zusammenzucken ließ. „Ich verspreche dir, Schlaumeier, dass auf diesem Planeten in weniger als fünf Jahren alle maßgeblichen Machtpositionen von uns besetzt sein werden. Wie es um die Zukunft eurer wehleidigen und ineffizienten Spezies bestellt sein wird, darüber entscheiden dann wir. Für Loser wie dich, die sich uns in den Weg zu stellen versuchen, sehe ich dann jedenfalls schwarz — ganz, ganz schwarz.“ Jannis verzog dabei seinen Mund zu einem breiten Schwarzenegger-Grinsen, das mehr Beißlust als Heiterkeit ausdrückte.

„Vergiss nicht, dass wir in der Mehrheit sind“, erwiderte ich frech, musste dabei aber gegen eine aufkommende kalte Angst ankämpfen.

„Auch das ist wieder so ein Denkfehler, der mir beweist, wie wenig zukunfts- und wettbewerbsfähig Eure genetische Codierung ist. Kannst du dich erinnern, dass sich politische Entscheidungen in letzter Zeit jemals danach richteten, was die Mehrheit der Menschen will? Politisches Handeln befindet sich schon lange in einem fortschreitenden Prozess der Emanzipation von den Vorurteilen und überholten Denkmustern des unwissenden Volkes. Ein Politiker ist nicht dem Besitzstandsdenken des Pöbels, sondern einzig seiner überlegenen Einsicht in das Notwendige und Zukunftsfähige verpflichtet.“

Wieder traf mich sein scharfer Minzeatem aus nächster Nähe wie ein Geschoss, und ich sah in seine kalten Augen wie in einen endlosen Brunnenschacht, von dessen Grund mich statt des Leben spendenden Wassers die kalte, ungeformte Weite des Nichts anblickte. Mich fröstelte, und ich musste den Blick abwenden.

Jannis wusste jetzt, dass mein Widerstand gebrochen war, und er holte zu seinem letzten, vernichtenden Schlag aus: „Und für die Weiterexistenz von Lebensformen wie dir entfällt schon in naher Zukunft jeder Notwendigkeit — sowohl in genetischer Hinsicht als auch in punkto ökonomischer Effizienz.“

Ich schwieg eingeschüchtert.

„Für außergewöhnlich hübsche Angehörige der alten Spezies machen wir aber sicher eine Ausnahme“, sagte er dann, in wieder lockerem Tonfall und drückte Anna mit einem heftigen Griff um ihre Hüfte an sich. „Und jetzt wären Anna und ich dir sehr verbunden, wenn du uns allein lassen würdest und zurück an deine Arbeit — entschuldige, du arbeitest ja gar nicht, also: zurück an deine Arbeitslosigkeit — gehen würdest.“

Ich sah Anna an, wohl in der wahnwitzigen Hoffnung, sie würde Jannis widersprechen. Doch Anna blickte zu Boden und ließ sich wehrlos wie eine Puppe in den forschen Hüftgriff ihres Liebhabers hinein sinken. Ohne ein Abschiedswort und ohne mich noch einmal umzublicken, schloss ich die Tür hinter mir.