Der innere Waldgang
Wut in ihrer pervertierten Form bringt Hass und Gewalt hervor — als klares und selbstbestimmtes Gefühl jedoch ist sie die Grundlage für Frieden.
Wir pflegen Emotionen in „gut und schlecht“ einzuteilen. Freude, Entspannung, Dankbarkeit und Liebe sind die guten Gefühle, die wir uns wünschen und genießen. Angst, Trauer und Wut vermeiden wir. Dabei tritt die Wut noch einmal gesondert aus diesen negativen Emotionen hervor. Menschen, die ängstlich oder traurig sind, bemitleiden wir eher oder wollen ihnen helfen. Wut jedoch erfährt eine gewisse gesellschaftliche Ächtung. Wer sie offen zeigt, hat sich ganz offensichtlich nicht im Griff und verhält sich destruktiv seinem Umfeld gegenüber — so die erste intuitive Annahme. Doch wo Wut angebracht ist, wird es unangebracht, sie zu unterdrücken. Das gilt besonders im politischen Kontext. Wut muss nicht zwangsläufig Zerstörung und äußeren Schaden verursachen, sondern kann auch als Ausdruck von Klarheit und Selbstbestimmung fungieren.
Viele Menschen sind verwirrt, wenn es um Gefühle geht. Sie wissen nicht, wozu Gefühle und Emotionen eigentlich da sind. Wenn wir die Aufgabe jedes Gefühls kennen, verändert sich unser Umgang damit. Wir können dann einem Gefühl den angemessenen Platz in unserem Leben geben.
Jedes Gefühl kann verbunden sein mit einer Licht- oder einer Schattenseite. Die Schattenkraft von Wut sind Hass und Zerstörung. Kreativ gelebte Wut kann uns zu Klarheit und konstruktiver Handlungsbereitschaft führen. Mehr dazu von Vivian Dittmar in: „Wutkraft: Licht und Schatten eines herausfordernden Gefühls“ (1) und/oder: „Das Herz weiß, was Würde ist“ (2).
„Es gibt ja zwei Arten von Vertrauen, das eine ist das Vertrauen‚ das wird schon irgendwie gut gehen’. Aber es gibt ein anderes Vertrauen, dass die Dinge letztendlich gut sind, egal ob sie gut gehen.“
(Thomas Steininger)
Wenn wir nicht mehr glauben, was wir sehen
Viele Menschen sind täglich stundenlang digital in der Welt unterwegs. Echt und fingiert. Abgehärtet gegenüber allem, was ihnen der Bildschirm mitteilt. Einerseits zu recht. Denn vieles, was an Dramen und Gewalt in Filmen und Stories zu sehen ist, ist nicht die Wirklichkeit.
Für real gehalten, würde diese fiktive Fernseh- und Filmwelt zudem die Nerven überstrapazieren. Also nehmen wir sie nicht mehr wahr, aber gleichzeitig auch Bilder und Geschichten, die echt sind, nicht mehr für voll: da Auge und Ohr nicht so leicht unterscheiden können, was echt und was fiktiv ist.
Diese Gewohnheit, digital übermittelte Information nicht für voll zu nehmen, macht die Öffentlichkeit relativ unempfindlich gegenüber verstörenden Vorkommnissen. Die meisten haben sich unbewusst daran gewöhnt, dass das alles gar nicht wirklich passiert. Anstatt sich uns unsere Welt in Klarheit und mit Handlungsbedarf zeigen zu lassen, erschaffen wir uns so eine Welt, deren Zustand und Gedeihen uns gleichgültig sein kann.
Keiner kommt heil aus dem Krieg wieder raus
Den Essay von Bernd Schoepe „Keiner kommt heil aus dem Krieg wieder raus!“ (3) habe ich – obwohl an sich mit viel Zustimmung – nicht gerne gelesen.
Nicht gerne, weil ich die Welt, in der wir leben, dabei sozusagen leider höchst treffend beschrieben sehe. Ich nehme sie als von Gier, Herrsch- und Vergnügungssucht sowie von Zerstörungswut geprägt wahr. Krieg ist ein Teil dieser Welt, und wir ein Teil davon. Und dies auch in einer Schweiz, wo kein Krieg mit Waffen herrscht, wir aber davon profitieren: für unseren Überfluss, den wir Wohlstand nennen.
Grundsätzlich erkenne ich immer wieder ein ähnliches Muster: Eigentlich könnte jeder längst wissen, was in einer solchen Art scheußlich abgeht, aber es wirklich wahrhaben wollen und es anders tun, wollen nur wenige.
Schwierig bis schrecklich kann es werden, wenn in der Politik – oder wo auch immer – hochintelligent Dumme den Ton angeben und es Gleichgültige wut- und mutlos laufen lassen, wie es Ludwig F. Badenhagen mit einer Gegenüberstellung unserer Denksysteme ausführlich deutlich und klar zum Ausdruck bringt: „Nur mit Dummen sind Kriege und Pandemien möglich – und fast alle sind dumm“ (4).
Wut, Klarheit, Mut, Liebe
In seinem Essay „Wut, Mut, Liebe!“ – siehe Auszug Kapitel ‚Der lebendige Planet’ (5) – nimmt der Kulturphilosoph Charles Eisenstein die politischen Protestbewegungen der vergangenen Jahre in den Blick. Dabei beleuchtet der Vordenker der Occupy-Bewegung nicht nur zentrale Motive, sondern auch Erfolge und Niederlagen des politischen Aktivismus. Für ihn ist klar, dass ein Aufbegehren gegen „alles und jeden“ nicht ausreicht, um die Dinge zum Positiven zu verändern.
Um der Ausbeutung von Mensch und Natur endlich Einhalt zu gebieten, bedarf es einer „Revolution der Liebe“, ein ganzheitliches Fühlen und Handeln, das die Verbundenheit aller Menschen, aber auch die Verbundenheit von Mensch und Natur ins Zentrum stellt.
In seinem Essay zeigt Eisenstein praktische Wege auf, wie politischer Aktivismus durch eine Revolution der Liebe beflügelt und zum Erfolg geführt werden kann. Ein leidenschaftliches Plädoyer, politisches Engagement neu zu denken und unsere Wut in Liebe zu verwandeln.
Was kann ich als Einzelner tun?
Wie aber schafft der Einzelne Frieden? Vielleicht gar nicht durch große Bewegungen, sondern durch innere Entschiedenheit. Durch das, was Ernst Jünger den „Waldgang“ nannte – den Rückzug des Einzelnen aus der geistigen und moralischen Gefangenschaft der Masse. Frieden beginnt dort, wo der Mensch sich weigert, in der Herde mitzulaufen. Es ist der Moment, in dem einer aufhört, Schaf zu sein, und beginnt, Wolf zu werden – nicht im Sinne der Gewalt, sondern der Selbstbestimmung.
Die Tyrannei des Staates, so Jünger, schafft sich ihre eigenen Gegner. Je größer die behauptete Zustimmung, desto mehr Wölfe verbergen sich in der Herde. Die unbekannte Zahl der Waldgänger, dieser unsichtbare Widerstand, ist der eigentliche Alpdruck der Machthaber. Sie wissen: Es gibt Menschen, die sich nicht mehr einfangen lassen, die nicht auf Befehl Angst haben, nicht auf Kommando gehorchen, nicht im Takt marschieren.
Frieden retten heißt also: sich selbst retten. Blickschärfe entwickeln: um zu erkennen, wann eine Katastrophe zur angeblichen Lösung verklärt wird. Der Frieden wird nicht von Institutionen kreiert, sondern von jenen, die sich weigern, ihr Gewissen an sie zu delegieren. In Zeiten der Mobilmachung ist der Waldgang kein Rückzug, sondern der letzte Akt des Mutes: die Weigerung, mitzumachen.
Denn der Friede beginnt nicht mit Verträgen, sondern mit dem Entschluss des Einzelnen, kein Werkzeug der Zerstörung zu werden.
Selber engagiere ich mich bestmöglich für und mit Projekten, die in unserer Welt für eine andere Welt unterwegs sind.
... und dann noch dies:
Am 1. Oktober 2025 ist Jane Goodall gestorben – 91 Jahre alt, bis zuletzt weltweit im Einsatz. Sie hinterlässt bahnbrechende wissenschaftliche Erkenntnisse. Vor allem aber ein unerschütterliches Zeugnis von Mut, Sanftheit und Vertrauen in die Lebenskraft – genährt aus ihrer tiefen Verbundenheit mit der Natur. Ihre Haltung und ihr Lebenswerk haben Generationen inspiriert. Jane Goodall: „Was du tust, macht einen Unterschied. Und du musst entscheiden, welchen Unterschied du machen willst.“ (6)
Erst recht gilt dies in einer Welt, die von Gier, Herrsch- und Vergnügungssucht sowie von Zerstörungswut geprägt ist. Für eine für alle gute Welt sind in Wissenschaft, Gesellschaft und Politik sowohl im Großen wie im Kleinen fundamentale Paradigmenwechsel erforderlich. Es gibt sie. Aber für einen echten Wandel muss auf allen Ebenen umgedacht und umgelenkt werden. Und das ist komplex und dauert.