Der Macht-Wahn

Wie in Syrien geht es auch in Venezuela nicht nur um Öl, sondern um die Sucht, andere zu beherrschen.

Nicht das Erdöl, sondern die Besessenheit des Westens, andere zu beherrschen, ist laut Andre Vltchek der eigentliche Grund für die Gewalt und den Terror, den der Westen über die ganze Welt bringt. Diese Besessenheit findet in den neokolonialen Kriegen ebenso ihren Ausdruck wie in den Regime-Change-Bestrebungen in Venezuela und Syrien. Und wer sich wie Venezuela und Syrien gegen die Vereinnahmung durch den Westen wehrt, kämpft gleichzeitig für die ganze unterdrückte Welt.

Ja, neueste Forschungsergebnisse bestätigen, dass Venezuelas Rohstoffvorkommen so groß sind, dass sie alleine den Weltbedarf an Erdöl für die nächsten dreißig Jahre decken könnten. Und es hat in seinem Orinoco-Becken und anderen Gebieten noch viel mehr als Öl zu bieten.

Aber es geht nicht „nur um Öl“ — ganz und gar nicht.

Jene, die annehmen, dass es einfach „Geschäftsinteressen“ und die legendäre westliche Gier sind, die den westlichen Terror auf der ganzen Welt verbreiten, begreifen meines Erachtens das Wesentliche nicht.

Mir ist aufgefallen, dass diese Personen und Analytiker wirklich glauben, dass „der Kapitalismus an allem schuld ist“ und dass er die Kultur der Gewalt erschafft, der weder Opfer noch Täter entrinnen können.

Kapitalismus ist Folge, nicht Ursache

Nachdem ich überall auf der Welt gearbeitet habe, bin ich mehr denn je davon überzeugt, dass der Kapitalismus eine Folge der westlichen Kultur ist, die hauptsächlich auf Expansionismus, Exzeptionalismus und Aggression beruht. Zudem baut er auf einem tief verwurzelten Bedürfnis auf, zu kontrollieren und zu gebieten. Finanzielle und monetäre Habgier ist nur eine Nebenerscheinung dieser Kultur, die ihre Überlegenheit zu etwas erhoben hat, das als religiös oder gar als religiös fundamentalistisch bezeichnet werden könnte.

Oder anders ausgedrückt:

Die Hauptreligion Europas und Nordamerikas ist heute der Glaube an die eigene Überlegenheit.

Der widerspenstigen Länder Zähmung

Inwiefern sind die Szenarien in Libyen, Syrien und Venezuela vergleichbar? Warum war der Westen so sehr darauf aus, diese drei — auf den ersten Blick so unterschiedlichen — Länder so bösartig anzugreifen und schließlich zu zerstören? Die Antwort ist ganz einfach, wenngleich sie im Westen nicht geäußert wird — zumindest nicht öffentlich:

Alle drei Länder standen an der Spitze der Förderung des entschiedenen Kampfes für Konzepte wie den „Pan-Afrikanismus“, den „Pan-Arabismus“ und die „Patria Grande“ — also im Wesentlichen die lateinamerikanische Unabhängigkeit und Einheit.

Gaddafi, Al-Assad und Chavez sind bis heute regional und international als anti-imperialistische Kämpfer anerkannt, die hunderte Millionen von Menschen inspirieren und ihnen Hoffnung schenken.

Gaddafi wurde ermordet, Chavez wahrscheinlich auch getötet und Al-Assad und sein Volk kämpfen seit langen Jahren buchstäblich ums Überleben.

Der gegenwärtige venezolanische Präsident Maduro, der sich entschlossen den Idealen der bolivarischen Revolution verpflichtet hat, hat bereits mindestens einen Mordversuch überlebt und ist nun direkten, mafiösen Drohungen des Westens ausgesetzt. Sein Land könnte jederzeit angegriffen werden — direkt oder durch die lateinamerikanischen Satellitenstaaten des Westens.

Neo-Kolonialismus

Der Grund dafür ist, dass Afrika, der Nahe Osten und Lateinamerika jahrhundertelang als Kolonien betrachtet und behandelt wurden. Und jedes Mal, wenn sich Menschen gewehrt haben, sind sie sofort von der eisernen Faust des imperialistischen Westens zerschmettert worden. Und diejenigen, die glauben, von einer göttlichen Macht die Herrschaft über die Welt übertragen bekommen zu haben, möchten, dass das auf immer so bleibt.

Europa und Nordamerika sind besessen davon, andere zu beherrschen, und um herrschen zu können, meinen sie, jeden Widerstand in ihren Kolonien und Neo-Kolonien ersticken zu müssen.

Der Westen befindet sich in einem Geisteszustand, den ich in meinen früheren Essays als Sadistische Persönlichkeitsstörung (SPS) definiert habe.

Indonesien — einst unabhängig, heute Satellitenstaat

Um ein umfassendes Bild zu bekommen, muss man an Indonesien zurückdenken, das 1965 als unabhängige und progressive Nation praktisch ausgelöscht wurde. Sein internationalistischer Präsident Sukarno — Vater der Bewegung der Blockfreien Staaten und enger Verbündeter der Kommunistischen Partei Indonesiens — wurde vom verräterischen, intellektuell und moralisch gestörten und vom Westen ausgewählten General Suharto gestürzt. Damit wurde dem Turbokapitalismus und der ungezügelten Plünderei der Rohstoffe seines Landes Tür und Tor geöffnet.

Nachdem es einst richtungsweisend für den Unabhängigkeitskampf ganz Asiens gewesen war, wurde Indonesien nach dem von den USA, Großbritannien und Australien verursachten extremen Völkermord zu nichts als einem psychisch verstümmelten und vollkommen verarmten „Satellitenstaat“ des Westens reduziert.

Der Westen besitzt die unglaubliche Fähigkeit, echte Führer regionaler Unabhängigkeit zu erkennen, sie zu verunglimpfen, sie durch eine selbst initiierte und dann aufrechterhaltene sogenannte „lokale Opposition“ zu schwächen und sie — und damit auch ihre Länder und sogar ganze Regionen — dann später zu vernichten.

Manchmal greift der Westen ganze Länder an — wie es im Iran 1953, im Irak oder in Nicaragua der Fall war. Öfter jedoch geht er direkt den „großen Fischen“ an die Gurgel: Anführern der regionalen Opposition, wie in Libyen, Indonesien, Syrien und jetzt auch in Venezuela.

Viele aufmüpfige Menschen sind bereits tatsächlich ermordet worden: Gaddafi, Hussein, Lumumba und Chavez, um nur einige zu nennen.

Und natürlich versucht der Westen, egal was er tut, die größten Anführer der anti-westlichen und anti-imperialistischen Koalition zu vernichten: Russland und China.

Es geht bei Weitem nicht nur um Öl oder Profite.

Der Westen braucht die Herrschaft über andere. Er ist davon besessen, die Welt zu kontrollieren, sich überlegen und außergewöhnlich zu fühlen. Es ist ein Spiel, ein tödliches Spiel. Über Jahrhunderte hinweg hat sich der Westen als fundamentalistischer religiöser Fanatiker aufgeführt und die Menschen im Westen haben nicht einmal bemerkt, dass ihr Weltbild tatsächlich zu einem Synonym für Exzeptionalismus und kulturelle Überlegenheit wurde. Deswegen hat der Westen auch so großen Erfolg damit, extremistische religiöse Bewegungen jeder Art zu erschaffen und praktisch allen Gegenden der Welt aufzuzwingen: von Ozeanien und Asien über Afrika und Lateinamerika bis hin nach China. Westliche Anführer sind mit christlichen, muslimischen oder sogar buddhistischen Extremisten „vertraut“.

„Wir kämpfen für die gesamte unterdrückte Welt“

Syrien jedoch ist es gelungen zu überleben und bis heute allen Angriffen standzuhalten. Die Regierungstruppen nehmen die letzte Bastion der Terroristen, Idlib, einzig deswegen noch nicht ein, weil die Zivilbevölkerung enorme Opfer während eines solchen Kampfes zu erleiden hätte.

Auch Venezuela weigert sich, sich niederzuwerfen und zu ergeben. Und sollten der Westen und seine Bündnispartner es wagen anzugreifen, wird der Widerstand, werden die Millionen von Menschen ohne Zweifel für die Dörfer und das Land kämpfen und sich notfalls in den Urwald zurückziehen und einen Guerilla-Befreiungskrieg gegen die Besatzer und die verräterischen Eliten führen.

Washington, London, Paris und Madrid wenden eine ausgesprochen veraltete Strategie an — eine, die im Kampf gegen Libyen noch funktionierte, aber in Syrien total versagte.

Kürzlich erzählten mir in Syrien nahe der Frontlinie von Idlib zwei ranghohe Befehlshaber, sie kämpften „nicht nur für Syrien, sondern für die gesamte unterdrückte Welt, einschließlich Venezuelas“. Sie hatten also verstanden, dass der Westen genau die gleiche Strategie gegen Caracas anwendet, die er auch gegen Damaskus versucht hatte anzuwenden.

Nun leidet und kämpft auch Venezuela für die gesamte unterdrückte Welt.

Es hat „kein Recht, zu versagen“, so wie Syrien kein Recht zur Kapitulation hatte.

Schon die Zerstörung Libyens hatte verheerende Auswirkungen auf Afrika — und sie öffnete der erneuten und zügellosen Plünderung des Kontinents durch Frankreich wieder Tür und Tor. Großbritannien und die USA schlossen sich Frankreich schnell an.

Syrien widersetzt sich als letztes Bollwerk der totalen Kontrolle des Westens über den Nahen Osten. Syrien und Iran. Letzterer jedoch ist noch keine „Front“, wenngleich es oft so aussieht, als könnte er bald zu einer werden.

Aus denselben Gründen darf auch Venezuela nicht fallen. Es liegt an der nördlichen Spitze Südamerikas. Darunter befindet sich ein gesamter Kontinent, der über Jahrzehnte und Jahrhunderte von Europa und Nordamerika terrorisiert wurde — seine Einwohner brutal misshandelt, ausgeplündert, gefoltert. Südamerika, wo zig Millionen Menschen ausgerottet wurden wie Tiere oder gezwungen, zum Christentum überzutreten, denen man alles nahm, und denen bizarre westliche politische und ökonomische Modelle aufgezwungen wurden.

In Brasilien war die progressive sozialistische Regierung der PT (der Arbeiterpartei, Anmerkung der Übersetzerin) bereits gestürzt worden.

Wenn Venezuela fällt, könnte für Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte, alles verloren sein.

Also wird es kämpfen — gemeinsam mit den wenigen anderen standhaften Ländern, die in dieser „westlichen Hemisphäre“ noch übrig sind, und die von den Diktatoren in Washington D.C. ganz offen als ihr „Hinterhof“ beschrieben werden.

Caracas steht noch und kämpft für die riesigen Slums in Peru, für die bettelarmen Millionen Menschen in Paraguay, für brasilianische Favelas, gegen privatisierte Bewässerungssysteme und den geschundenen Regenwald in Brasilien.

So wie Syrien noch immer für Palästina kämpft, für die verarmten Minderheiten in Saudi-Arabien und in Bahrein, für den Jemen, den Irak und Afghanistan — den beiden letzten Ländern wurde von der NATO fast alles geraubt.

Russland hat bereits gezeigt, was es für seine arabischen Brüder tun kann, und demonstriert nun seine Bereitschaft, seinen anderen engen Bündnispartner, Venezuela, zu unterstützen.

Sowohl China als auch Südafrika schließen sich zusehends der Koalition anti-imperialistischer Kämpfer an.

Worum es wirklich geht

Nein — bei Venezuela geht es nicht nur um Öl.

Es geht um den Westen, der in der Lage sein möchte, den Zugang des Panama-Kanals für chinesische Schiffe zu sperren.

Es geht um die totale Beherrschung der Welt — ideologisch, politisch, ökonomisch und sozial. Es geht um die Auslöschung jeglicher Opposition in der westlichen Hemisphäre.

Sollte Venezuela fallen, könnte es der Westen wagen, zuerst Nicaragua und dann Kuba anzugreifen, das Bollwerk des Sozialismus und Internationalismus.

Deswegen darf Venezuela niemals fallen.

Der Kampf um Venezuela tobt bereits an allen Fronten, auch an der ideologischen. Wir kämpfen dort nicht nur für Caracas, Maracaibo oder Ciudad Bolivar; wir kämpfen für die gesamte unterdrückte Welt, so wie wir es in Damaskus, Aleppo, Homs und Idlib getan haben und noch immer tun — und wie wir es möglicherweise bald in vielen anderen Städten weltweit tun werden. Wir können nicht ruhen, wir müssen weiterhin wachsam sein, wir können nirgends auf der Welt einen endgültigen Sieg feiern, solange der westliche Imperialismus lebendig ist, so lange er seine Träume, den ganzen Planeten zu beherrschen und zu zerstören, nicht aufgibt.

Deshalb geht es hier um weit mehr als „nur um Öl“. Es geht um das Überleben unseres Planeten.


Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „Like Libya and Syria, Venezuela is not 'just about oil'“. Er wurde von Gabriele Herb aus dem ehrenamtlichen Rubikon-Übersetzungsteam übersetzt und vom ehrenamtlichen Rubikon-Korrektoratsteam lektoriert.