Der Mythos des Geldes

Unser Finanzsystem basiert auf eskalierender Verschuldung und auf Umverteilung zugunsten der Geldbesitzer. Exklusivauszug aus „33 Mythen des Systems“.

In verbreiteten Theorien ist Geld eine smarte Erfindung, um die Mühen des archaischen Tauschhandels zu vermeiden. Um dieses zu bewerkstelligen, musste alles vergleichbar, alles zählbar gemacht werden. Dadurch ging aber nicht nur Lebensqualität verloren und gerieten nichtmaterielle Werte ins Hintertreffen — es wurden einzigartige Werkzeuge kollektiver Beraubung geschaffen. Geld verfiel nicht mit der Zeit wie Gemüse und Obst; im Gegenteil vermehrte es sich auf wundersame Weise. In Wahrheit bereicherten sich Geldbesitzer jedoch auf Kosten derer, die sich gezwungen sahen, Geld zu leihen. Geld erleichtert das Leben nur für diejenigen, die gelernt haben, mit seiner Hilfe zu profitieren. Für alle anderen bedeutet es, von einem abstrakten, unsichtbaren Zwingherren versklavt zu werden. Darren Allen misst in seinem neuen Buch auf augenöffnende Weise gängige Narrative an der Wahrheit und kommt so einem ebenso raffinierten wie destruktiven System auf die Spur.

Geld wandelt automatisch heterogene Qualitäten — die einzigartige und nicht duplizierbare Individualität von Menschen und Dingen, eingebettet in einen Kontext — in homogene Quantitäten — Geldbeträge oder Kontostände —, die unpersönlich, abstrakt und vom Kontext losgelöst sind. Shakespeares „gemeine Hure der Menschheit“, das Geld, ist das Gegenteil von Einzigartigkeit. Es macht aus allem, was es berührt, eine Summe und aus allen, die es berühren, Summenmaximierer, die nur ein Ziel haben: das beste Geschäft zu machen. Für diejenigen, die keinen Charakter — also keine Einzigartigkeit — haben, ist das keine große Sache; Geld heilt alle Probleme, die Charakterlosigkeit mit sich bringt, mit Ausnahme des Mangels an Liebe und der Unausweichlichkeit des Todes; dafür liefert es die stimulierenden Mittel, um auch diese schlechten Träume aus dem Blickfeld zu verdrängen.

Es gibt noch etwas im Universum, wovon der Mensch nie genug bekommen kann, abgesehen vom Sex natürlich, und das ist der Gedanke, die blutleere Mutter des Geldes. Beide sind abstrakt, unerschöpflich, stehen für alles und können daher niemals das Verlangen stillen, das sie wecken.

Für Geld, wie für Gedanken, gibt es kein Ende, keinen Tod, keine Liebe, keine Verwandtschaft, keinen Charakter, keine Qualität, keinen Zusammenhang und daher auch keine Ruhe. Es kann niemals ein Ende haben, da es niemals einen Anfang haben kann. Die Bedeutung und der Ursprung des Geldes existieren nicht oder können zumindest nicht existieren. Es ist inhärent, perfekt, sauber, es ist bereits vorgewaschen und daher ein wesentlicher Bestandteil der Täuschung, der Unangemessenheit, der Lieblosigkeit, eines im Grunde inhaltslosen, sinnentleerten Lebens und des Diebstahls, des Diebstahls in gigantischem Maßstab.

War das Geld, indem es die Ungerechtigkeit seiner Schöpfung verschleiert und rechtfertigt, für die frühen Experimente zur Versklavung von Barbaren, zur Unterwerfung von Eingeborenen und zur Erschließung der Wildnis von entscheidender Bedeutung, so war es geradezu unverzichtbar für Frühkapitalisten, die, um das Projekt eines totalisierten, sich selbst regulierenden Marktsystems zu verwirklichen, Arbeit und Boden zu Waren machen und dann aus ihren Zusammenhängen reißen mussten, damit sie gekauft, kontrolliert und verkauft werden konnten. Die Vorstellung, dass Menschen und die gesamte Natur nicht zwecks Vermarktung produziert werden können, war für die frühen Kapitalisten ebenso abwegig wie für ihre heutigen Nachfahren, die damit beschäftigt sind, Wasser, Kommunikation, Kinderbetreuung, Partnersuche, Genome, Kreativität und das Bewusstsein selbst in geldwerte Waren zu wandeln.

Einige Störenfriede verfolgen ernsthaft Dinge, die keinen finanziell-materiellen Nutzen bringen. Diese Spinner überlässt man am besten sich selbst. Schlimmer noch, manche von ihnen gehen so weit, die Notwendigkeit eines Geldsystems überhaupt infrage zu stellen und zu behaupten, dass der Realität vielleicht nicht am besten gedient ist, wenn man alles in ihr auf Buchungsposten reduziert. Das hat die Wirtschaftswissenschaftler dazu gezwungen, einen zweiten Mythos zu schaffen: den Mythos vom ineffizienten Tauschhandel.

Laut Aristoteles, Adam Smith, zahllosen Lehrbüchern, akademischen Abhandlungen und Zeitungsartikeln sind das Geld und das Marktsystem, in dem es verwendet wird, aus der Ineffizienz des Tauschs von Ware gegen Ware entstanden. Offenbar lebten wir in einer Welt, in der ein Mann, der fünf Hühner zu veräußern hatte, keine Möglichkeit hatte, ein Paar Schuhe zu erwerben, weil der Schuster selbst Hühner hielt; er musste barfuß herumlaufen, bis das Geld erfunden war und er dem hühnerlosen Schmied seine Hühner verkaufen und mit dem Geld ein Paar Schuhe kaufen konnte. Das ist eine bequeme Geschichte für jene wie die Erfinder des Münzgeldes (die „zivilisierten" Alten Griechen ), die Welt zerstückeln wollten, um die Teile zu verkaufen und, was am wichtigsten war, ihre Verbrechen hinter nicht zurückverfolgbaren, kontextfreien Zahlungsmitteln zu verstecken (oder „reinzuwaschen"). Aber diese Geschichte ist nicht wahr.

Wir benutzen Geld, weil es Massendiebstahl, grenzenloses Begehren (das zu grenzenloser Gewalt führt) und Egoismus ermöglicht und aufrechterhält, nicht weil, wie es im kapitalistischen Märchen heißt, der Tauschhandel „ineffizient" war.

Bei der Verteilung von Ressourcen nutzten prähistorische und viele vormoderne Gesellschaften nicht den Tauschhandel, sondern informelle (nicht wucherische) Kredite, zentral organisierte Umverteilung und die sogenannte Schenöknomie — so wie es heute Freunde und Familien tun. Sowohl Geld als auch Tauschhandel wurden nur bei Ritualen und beim Handel mit Feinden verwendet — wofür sie auch heute noch genutzt werden. Der Unterschied besteht darin, dass heute jeder als Feind (die offizielle Bezeichnung ist KONKURRENT) oder als Werkzeug (die offizielle Bezeichnung ist Angestellter) in der krankhaften Aktivität, bezeichnet als Geschäft, in Betracht gezogen werden muss.

All das ist seit mehr als einem halben Jahrhundert bekannt und wird langsam zum Allgemeingut, aber es ist nicht verwunderlich, dass es von den kapitalistischen Journalisten und Akademikern nie erwähnt wird. Die Wirtschaftswissenschaftler beriefen sich früher ständig auf die Ursprünge des Kapitalismus in den Urgesellschaften. Aber der Moment, ab dem es unmöglich wurde, diesen Mythos aufrechtzuerhalten, war genau der Moment, in dem die Ökonomen das Studium der Urmenschen als irrelevant für das Verständnis der modernen Welt aufgaben. Kein kapitalistischer Akademiker, der sich anmaßt, ein Urteil über die menschliche Natur zu fällen, bezieht sich mehr auf vorzivilisierte, vorlandwirtschaftliche oder voreroberte Völker, sondern zieht es vor, seine Gesellschaftstheorien auf die implizite Vorstellung zu stützen, dass nur die jüngsten paar Tausend Jahre der Geschichte — abgesehen von dem unglücklichen Interregnum des Feudalismus — die menschliche Natur wirklich repräsentieren.

Doch obwohl die Idee nie explizit erwähnt wird, mit der Erfindung des Geldes sei eines der Haupthindernisse für die Verwirklichung unserer wahren Natur als rationale, wohlstandsmaximierende Automaten beseitigt worden, bleibt sie einer der grundlegenden Geldmythen, auf denen das moderne System beruht.

Diesen Mythen gehören: 1. der Glaube, dass wir Geld brauchen, um die Gesellschaft zu organisieren; 2. der Glaube, dass das meiste Geld von Münzprägeanstalten oder Zentralbanken geschaffen wird (obwohl es in Wirklichkeit Privatbanken erschaffen — der eigentliche, inflationäre, „magische Geldbaum"); 3. der Glaube, dass Geld eine Folge von Wirtschaftstätigkeit ist; der Glaube, dass die Mittel (oder Ressourcen) begrenzt sind; 4. der Glaube, dass die postkapitalistische Wirtschaft auf etwas Realem basiert (also etwas anderem als dem Finanzwesen); 5. der Glaube, dass das Geld eine Ware ist oder „die Macht des Kapitals“ repräsentiert; 6. der Glaube, dass Spekulation diesmal nicht zu katastrophaler Ungleichheit, weit verbreitetem Elend und einem weiteren schrecklichen Crash führen werden und 7. der Glaube, dass der mythische Wert des Geldes, wenn er sich selbst überlassen wird, auf magische Weise von selbst wächst.

Der letzte dieser Mythen ist einer der Gründungsmythen nicht nur des Kapitalismus, sondern der gesamten Zivilisation.

Wir sind zur Überzeugung gelangt, dass Geld, wenn wir es aufbewahren, im Gegensatz zu anderen Dingen der realen Welt nicht nur nicht zerfällt, sondern sich sogar vermehrt. Ja! Wir haben Leben geschaffen! Kapitalisten nennen die wundersamen generativen Kräfte des gehorteten Geldes Zinsen.

Nichtkapitalisten, die verstehen, dass dieses Wundergeld von jemand anderem kommt, nennen es Wucher, eine Form des legalisierten Diebstahls (wie Miete und Steuern), der in die Struktur der westlichen Zivilisation eingeschrieben ist.

Wucher ist Kreditvergabe mit der Absicht, mit Zins und Zinseszins Profit zu erzielen. Die Ausgangsschuld wird verzinst, und dann wird nicht nur die ursprüngliche Schuld, sondern die Schuld plus Zinsen verzinst. Die Schulden wachsen nicht nur, sie wuchern exponentiell. Beruht unsere Gesellschaft, ja unsere ganze Zivilisation, auf Wucherschulden, bedeutet das nicht nur, dass wir nie genug zum Zurückzahlen haben, sondern auch, dass sich das, was wir zurückzahlen müssen, wie das legendäre Reiskorn auf dem Schachbrett, vervielfacht, bis es das Universum ausfüllt. Um den Abgrund der Verkommenheit, in den dies unweigerlich führt, aufrechtzuerhalten und zu rechtfertigen — Massenarmut, Selbstausbeutung, Verwahrlosung, und dies alles, um genug zusammenzukratzen, damit die nächste Zahlung an die anschwellende Monstrosität, zu der der Kreditgeber schnell mutierte, geleistet werden konnte —, musste den Kreditnehmern eine moralische Pflicht zur Rückzahlung der Schulden auferlegt werden: die Einsicht, dass sie nicht nur diesem oder jenem Kreditgeber Tribut schulden, sondern dass das Universum selbst ein Gläubiger-Schuldner-System ist. Die Menschen werden als Schuldner geboren (auch Sünder genannt) und können ihre Rechnungen niemals begleichen. Wenn sie unweigerlich die wohltätigen Götter verraten, die sie bezahlen, ernähren, beherbergen und kleiden, werden sie als undankbar, kriminell, vom Teufel besessen oder geisteskrank bezeichnet. Dieses Verständnis wird zuweilen als „Religion" bezeichnet.

Die Machthaber verleihen den Machtlosen Geld, die dann mehr zurückzahlen müssen, als sie geliehen haben, bis sie entweder versklavt oder tot sind.

Diese sich selbst verstärkende Rückkopplung der Kreditaufnahme gegen Zinsen aus der Zukunft bläht die Macht der Eliten und damit die Blase der von ihnen kontrollierten Gesellschaft auf, bis sie platzt und alle mit sich reißt. Die umfassendste und katastrophalste Version dieses Prozesses begann in den 1970er-Jahren mit dem Ende der Vorstellung, dass Kapital kontrolliert werden sollte, dem Beginn unbegrenzter, unregulierter Geldströme und Spekulationen sowie der Schaffung, der Manipulation und dem Handel mit immer raffinierteren Formen von Schulden. Ein Prozess des Druckens von Geld (anstatt es als Steuern von den Hyperreichen zu erheben), der als Finanzierung bekannt ist und der dem Finanzsektor unvorstellbare Profite bescherte, indem er die Weltwirtschaft und alle Institutionen, die sie verwalteten, einfach ausbluten ließ und sie — und uns — in eine inflationäre, virtuelle Hyperwirtschaft transferierte. Dieser Asteroid unseres Wunschtraumes, an den wir uns klammern und der auf die erwachende Welt zurast, lässt die Blasen vor ihm wie mikrobielle Fürze und die Abstürze vor ihm wie entgleiste Spielzeugautos auf der Carrerabahn aussehen.


Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch „33 Mythen des Systems. Ein radikaler Leitfaden durch die Welt und uns selbst“ von Darren Allen erschienen im Promedia Verlag

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