Der neue Opfermythos

Medienberichte bagatellisieren die Verbrechen der Wehrmacht in Russland und konzentrieren sich auf die Leiden von Deutschen. Exklusivauszug aus „Wer hat uns 1945 befreit?“

„Befreit“ haben uns bekanntlich nur die Westmächte. Russland dagegen hat Ostdeutschland „besetzt“ — ohne triftigen Grund offenbar. So erscheint es jedenfalls in mehreren deutschen Medienberichten. Die 27 Millionen durch deutsche Soldaten getöteten Bürger der damaligen Sowjetunion fallen häufig unter den Tisch — in einem Land, das sich für seine höchst lückenhafte „Aufarbeitung“ historischer Verbrechen gern selbst belobigt. Statt dessen werden Themen wie der Verlust der deutschen Ostgebiete oder Vergewaltigungen durch russische Soldaten hervorgehoben, die zum Tonfall des Neuen Kalten Kriegs passen. In diesem Kapitel aus dem Buch von Ulrich Heyden geht es um Themen, die in den deutschen Medien in den letzten Jahren zunehmend verfälscht oder gar nicht dargestellt werden. Es geht um das Kleinmachen der von der Wehrmacht verübten Verbrechen, das Ausblenden von faschistischer Ideologie bei den deutschen Soldaten und um die ukrainischen Kollaborateure, welche der Wehrmacht bei der Vernichtung der jüdischen Bevölkerung halfen.

„Leitmedien“ als Geschichtsfälscher

Die seit der Ukrainekrise akute Kriegsgefahr in Europa hat die Erinnerungen vieler Deutscher an den Zweiten Weltkrieg wieder wachgerüttelt. Aber es gibt immer weniger Zeitzeugen, die von dem Grauen dieses Krieges berichten können. Deshalb habe ich dieses Buch mit Augenzeugenberichten gemacht. Die persönliche Erinnerung der Soldaten ist wichtig angesichts der Aufrüstung in Deutschland und den immer offeneren Bekundungen des deutschen Verteidigungsministeriums, man müsse gegenüber Russland „Stärke zeigen“.

Auf dem Weg zu einer neuen nationalen Identität gibt Deutschland eine der wichtigsten Errungenschaften der Nachkriegszeit auf: ein gutes, entspanntes Verhältnis zu Russland.

Deutschland fällt in Riesenschritten zurück in eine politische Stimmung, die es in den 1950er- und 1960er-Jahren schon mal gab, als die Verständigung mit Russland in Westdeutschland als „Weichheit“, „Verrat“ und „Verbrüderung mit dem Feind“ denunziert wurde.

Die Rede von Bundespräsident Weizsäcker ist verhallt

1985 wurde die Phase des Kalten Krieges mit einem Paukenschlag hochoffiziell beendet. Das erste Mal in der Geschichte Westdeutschlands erklärte ein Bundespräsident:

„Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung.“

Es waren die Worte von Richard von Weizsäcker während seiner Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes im Plenarsaal des Bundestages (1).

Weizsäcker sprach in seiner Rede 1985 auch über die Leiden des sowjetischen Volkes.

„Wir gedenken aller Völker, die im Krieg gelitten haben, vor allem der unsäglich vielen Bürger der Sowjetunion und der Polen, die ihr Leben verloren haben.“

Die Rede von Weizsäcker war der Versuch, die deutsche Gesellschaft auf die neuen politischen Realitäten einzustimmen. Deutsche Unternehmen suchten in Osteuropa zunehmend nach neuen Märkten.

Große Teile der Bevölkerung waren noch immer im Denken des Kalten Krieges verhaftet. Das war für die Interessen des deutschen Kapitals und auch für das Image Deutschlands in der Welt hinderlich.

Die Rede von Weizsäcker war auch ein Zugeständnis an die 1968er, die Pazifisten und Linken, die seit den 1950er-Jahren gegen die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik gekämpft hatten, und es war eine Reaktion auf den Film „Holocaust“ (2), welcher die westdeutschen Fernsehzuschauer im Jahr 1979 das erste Mal seit 1945 mit den Verbrechen gegen die Juden in Deutschland und in Osteuropa konfrontierte.

Der neue deutsche Opfermythos

Vielen Deutschen, die den Krieg erlebt hatten, gingen die Aussagen von Weizsäcker zu weit. War denn nicht Deutschland mit seinen Flüchtlingen, den „verlorenen Ostgebieten“ und den von Rotarmisten vergewaltigten Frauen selbst ein Opfer des Zweiten Weltkrieges?

Dieser Opfermythos hatte sich bei den Deutschen nach 1945 in den Köpfen verfestigt. Heute erlebt dieser Opfermythos unter dem Einfluss von „Dokumentationen“ des deutschen Fernsehens eine Renaissance.

Der rechtskonservative Flügel der CDU/CSU, der in den 1980er-Jahren ähnliche Positionen vertrat wie heute die AfD, protestierte gegen die Rede von Weizsäcker. 30 Bundestagsabgeordnete blieben der Rede im Bundestag fern.

Wortführer der Nationalkonservativen waren CDU-Rechtsaußen Alfred Dregger und der damalige bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß, der meinte, man solle die Vergangenheit „in der Versenkung“ verschwinden lassen. Denn „die ewige Vergangenheitsbewältigung als gesellschaftliche Dauerbüßeraufgabe lähmt ein Volk“.

Auch Historiker meldeten sich zu Wort. 1985 begann der sogenannte „Historikerstreit“ zwischen linksliberalen und nationalkonservativen Geschichtsexperten. Der Historiker Ernst Nolte behauptete, der Angriff Hitlers auf die Sowjetunion sei eine Antwort auf die „asiatische Tat“ mit dem Gulagsystem von Stalin gewesen. Vorläufer des „Rassenmordes der Nationalsozialisten“ sei der „Klassenmord der Bolschewisten“ gewesen.

Und wie sieht es heute aus? Die Bundesrepublik sucht nach einer neuen nationalen Identität. Deutschland will Führungsmacht des freien Westens sein. Und da darf es auch schon mal ein bisschen nationaler sein. Die Bundesregierung lechzt geradezu nach Militäreinsätzen, auch wenn sie erst mal nur um Überwachungsflüge in Syrien oder die Ausbildung von Soldaten im Irak geht.

Der Aufruf von Bundespräsident Weizsäcker, man müsse sich „an die Leiden des sowjetischen Volkes erinnern“, passt nicht mehr in die politische Tagesordnung. Seit 2014 dämonisieren die deutschen Medien Wladimir Putin als eines der schlimmsten Übel dieser Welt. Russland wird die Absicht unterstellt, dass es sich „nach der Krim und der Ostukraine“ baltische Staaten einverleiben will.

Die 27 Millionen Sowjetbürger, die im Zweiten Weltkrieg starben, tauchen in den Reden deutscher Politiker nicht mehr auf. Diese schreckliche Zahl passt nicht in eine Zeit, in der mit immer neuen Großmanövern für einen neuen Krieg gegen Russland trainiert wird.

Wichtige Rolle der alternativen Medien

Der neue Kalte Krieg gegen Russland führte aber auch zu Gegenwehr. Gegen das Lager derjenigen, die in Deutschland blind jeden Regime Change unterstützen, bildete sich das Lager derjenigen, die von ihren Gegnern herablassend als „Russlandversteher“ bezeichnet werden.

Diese Lagerbildung erinnert an den Historikerstreit von 1985, als sich Nationalkonservative und Linksliberale gegenüberstanden.

Doch diesmal ist die Lage komplizierter. Pazifistische Grüne sind ins Lager der Kalten Krieger übergelaufen, wenn sie zwar einerseits für Abrüstung eintreten, andererseits dennoch für „Härte gegen Russland“ werben. Und das Lager der „Russlandversteher“, in dem bis 2014 die Linke dominierte, bekam Zulauf aus dem Lager der Nationalkonservativen.

Etablierte deutsche Politiker wagten es im Dezember 2014 noch, gegen die Kriegshetze aufzustehen. 60 Persönlichkeiten wandten sich mit dem Aufruf „Wieder Krieg in Europa? Nicht in unserem Namen!“ an die Öffentlichkeit (3). Sie warnten vor einem Krieg mit Russland und forderten eine neue Entspannungspolitik für Europa. Unterzeichnet wurde der Appell unter anderem vom früheren Kanzlerberater Horst Teltschik (CDU), der früheren Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer (Grüne) und Altbundeskanzler Gerhard Schröder. Doch auch dieser Aufruf ist verhallt und hat die Kriegsvorbereitungen nicht stoppen können.

Ausdauernder in der Aufklärung gegen Kriegspropaganda sind die alternativen Medien, wie die NachDenkSeiten, Telepolis, junge Welt und seit 2014 neu hinzugekommene Angebote wie KenFM, Rubikon, Propagandaschau (4), „Ständige Publikumskonferenz“ und Rationalgalerie.

Die großen Medien versuchen die alternativen Medien mithilfe von Bloggern und Trollen als „Verschwörungstheoretiker“, „Antisemiten“ und „von Russland bezahlt“ zu diskreditieren, was teilweise gelingt.

Deutschland — Weltmeister im Aufarbeiten und Vertuschen

Deutschland wird international immer noch dafür geachtet, dass es seine nazistische Vergangenheit aufgearbeitet hat. Doch diese Aufarbeitung hat große Lücken, was man aber im Ausland nicht weiß. Man kennt in Deutschland die Namen jüdischer Opfer der NS-Herrschaft wie Anne Frank und Viktor Klemperer. Aber wer kennt schon den Namen der 18 Jahre alten sowjetischen Partisanin Soja Kosmodemjanskaja, die am 27. November 1941 von Soldaten der deutschen 197. Infanterie-Division gefoltert und dann gehängt wurde, oder den Namen der zwölfjährigen Tanja Sawitschewa, die in ihrem Tagebuch über den Tod ihrer Familienmitglieder während der Blockade von Leningrad schrieb:

„Mutti — am 13. März 1942 um 7.30 Uhr morgens gestorben. Alle sind gestorben. Nur Tanja ist noch am Leben.“

Die Opfer der Sowjetunion werden heute wieder kleingeredet, fast so wie in den 1950er- und 1960er-Jahren. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nannte in seiner Rede zum Gedenken an die Zerstörung Dresdens im Februar 2020 nur eine einzige zerstörte sowjetische Stadt — Leningrad —, aber zahlreiche westeuropäische Städte, die unter den Bombardements und der Okkupation durch deutsche Truppen gelitten haben.

Seit der Ukrainekrise ist in Deutschland eine neue Art von Geschichtsdarstellung entstanden. Man verschweigt die Opfer in der Sowjetunion nicht völlig. Die Sowjetunion wird aber nicht als das Hauptopfer, sondern nur als ein Opfer unter vielen Staaten dargestellt.

Diese neue „Ausgewogenheit“ ist verlogen. Sie blendet das politische Ziel und das Resultat des „Barbarossa-Feldzugs“ aus. Der nationalsozialistische Staat wollte die Rohstoffe und fruchtbaren Böden im europäischen Teil der Sowjetunion unter seine Kontrolle bringen und einen großen Teil der Bevölkerung vernichten. Eine Vernichtung der Bevölkerung in Westeuropa war nicht vorgesehen. Und auch der antislawische Rassismus als Teil der ideologischen Mobilmachung durch die Nazis ist so gut wie nie Thema.

Schock im Hamburger Rathaus

Mit der „neuen Ausgewogenheit“ wurde ich persönlich konfrontiert, als ich mir im Januar 2019 eine Ausstellung der Gedenkstätte des KZ Neuengamme im Hamburger Rathaus ansah. In der Ausstellung „Eine Stadt und ihr KZ“ (5) wurde gezeigt, wie Gefangene aus dem KZ Neuengamme außerhalb des KZ in Hamburg von der Stadtverwaltung und Privatunternehmen zur Arbeit eingesetzt wurden.

Meine Gefühle waren sehr gemischt. Natürlich fand ich es gut, dass im Hamburger Rathaus eine Ausstellung über das KZ der Stadt gezeigt wurde. Das war vor zwanzig Jahren noch nicht möglich. Aber ich war schockiert, dass die Gefangenen aus der Sowjetunion, die 1942/43 die größte Gruppe (6) im KZ Neuengamme waren, — bis auf einen einzigen (!) Ukrainer — nicht erwähnt wurden. Es wurden nur Fotos und Berichte über den Arbeitseinsatz von KZ-Häftlingen aus Polen, Frankreich, der Tschechoslowakei und anderen Staaten Europas gezeigt.

Auf der Website der Gedenkstätte des KZ Neuengamme kann man lesen, dass im KZ Neuengamme „23.000 russische und ukrainische Häftlinge — davon circa 2.000 Frauen“ — die „größte Gruppe“ waren. „Da sie als „rassisch minderwertig“ galten, wurden sie besonders schlecht behandelt und kamen in großer Zahl um. Durch den starken Bedarf an Facharbeitskräften in der Rüstungsproduktion gelangten einige von ihnen aber auch in bessere Arbeitsstellen“ (7). Das sicherte ihnen oftmals das Überleben.

Als ich Professor Detlef Garbe vom Stiftungsvorstand der KZ-Gedenkstätte Neuengamme nach den Gründen für die Nichterwähnung der sowjetischen Gefangenen fragte, erklärte er, über den Einsatz von sowjetischen Gefangenen in der Stadt Hamburg gäbe es keine Dokumente und Fotos.

Doch es ist eine Tatsache, dass sowjetische Kriegsgefangene in verschiedenen Betrieben in Hamburg-Bergedorf arbeiteten, wie der Glasfabrik Hein & Dietrichs (8).

Warum hat man diese Männer nicht in der Rathaus-Ausstellung erwähnt? Sind sie kein wichtiger Bestandteil des Gesamtbildes?

Auch im Museum der Gedenkstätte des KZ Neuengamme, das in einem der roten Klinkergebäude auf dem Gelände des ehemaligen KZs untergebracht ist, hatte ich den Eindruck, dass man die große Zahl der Menschen aus der Sowjetunion mit Absicht klein gemacht hat.

Im ersten Stock des Museums gibt es eine Abteilung für die Opfergruppen — Sintis, Homosexuelle, Wehrkraftzersetzer, Asoziale, Franzosen, Tschechen und andere. Unter den Mappen mit den Biografien von Häftlingen findet man ein paar Biografien von Russen und Ukrainern. Dass der Großteil der Häftlinge im KZ Neuengamme aus der Sowjetunion kam, erschließt sich dem Besucher aus dieser Art der Darstellung nicht.

Ausflüchte gegen ein Denkmal zum deutschen Vernichtungskrieg

Beängstigend ist, wie hartnäckig sich deutsche Politiker und Medien gegen das Gedenken der sowjetischen Opfer und jede positive Erwähnung des von der Sowjetunion maßgeblich miterrungenen Sieges über Hitlerdeutschland sperren. Zur Forderung der KZ-Überlebenden Esther Bejarano, den 8. Mai zum Feiertag zu machen, hieß es, man könne so einen Feiertag „nicht verordnen“ (9).

Die vom Linken-Politiker Jan Korte 2019 angestoßene Initiative für ein Denkmal in Berlin für die Opfer des deutschen Vernichtungskrieges im Osten wurde von den Abgeordneten des Deutschen Bundestages mit Ausflüchten abgebügelt (10). Ein Abgeordneter der Grünen erklärte, man könne, angesichts aktueller Konflikte nicht „verschiedenen Opfergruppen“ wie Polen, Balten, Ukrainern und Russen „gemeinsam gedenken“ (11).

Erst 2005 begann sich der Bundestag auf Initiative der Parteien Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen mit der Frage der Entschädigungszahlungen für sowjetische Kriegsgefangene zu beschäftigen. Als es dann nach langen Debatten zur Auszahlung kam, war der Großteil der sowjetischen Kriegsgefangenen nicht mehr am Leben.

Bis zum 20. März 2019 gingen beim zuständigen Bundesamt für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen 2.092 Anträge ein. Davon wurden 1.197 bewilligt. Bis zum Stichtag wurde an 1.185 Antragsteller die Anerkennungsleistung ausgezahlt (12). Das heißt, von drei Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen, welche die deutschen Lager überlebten, wurden wenig mehr als 1.000 für ihre Qualen entschädigt.

Immer mehr Geschichtslügen

Nach jahrzehntelangem Schweigen und Verdrängen gehört das Andenken an den Holocaust heute in Deutschland zum staatlichen Interesse.

Wer den Holocaust bestreitet, riskiert strafrechtliche Verfolgung. Wer aber 27 Millionen Tote der Sowjetunion verschweigt, relativiert oder leugnet, braucht keine Angst vor einem Sturm der Entrüstung oder Strafverfolgung zu haben.

Das öffentlich-rechtliche deutsche Fernsehen und große deutsche Zeitungen spielen bei der Neuschreibung der Geschichte des Zweiten Weltkrieges eine Schlüsselrolle. Man hat fast den Eindruck, als wollten sie einen Zustand herstellen, in dem irgendwann — wie in Estland, Polen und der Ukraine — auch in Deutschland Ehrendenkmäler sowjetischer Soldaten des Zweiten Weltkrieges gestürzt werden.

Der „Bronzene Soldat” in Tallin

Am 27. April 2007 ließ die Regierung Estlands in einer nächtlichen Aktion den „Bronzenen Soldaten“, ein Denkmal zur Befreiung Estlands durch sowjetische Truppen, aus dem Stadtzentrum von Tallin entfernen. Das führte zu heftigen Protesten der russischsprachigen Minderheit (13). Zwei Tage lang lieferten sich russischsprachige Jugendliche Straßenschlachten mit der Polizei. Einer der Demonstranten starb. 300 Personen wurden festgenommen.

Die Süddeutsche Zeitung behauptete damals — natürlich ohne Belege —, die Straßenproteste seien „von der russischen Botschaft organisiert“ worden. Für die Entfernung des Denkmals hatte das linksliberale Blatt vollstes Verständnis. Denn der Blick des „Bronzenen Soldaten“ habe „etwas Feindliches, Herrisches, Strafendes“ (14).

Ich war über die einseitige Berichterstattung der deutschen Medien zum „Bronzenen Soldaten“ erschüttert und beschloss, selbst nach Tallin zu fahren. Dort sprach ich mit dem estnischen Verteidigungsminister, einfachen Bürgern und Demonstranten. Ich war gerührt über die vielen Blumen (15), welche Bewohner von Tallin an einen Bauzaun geklemmt hatten, hinter dem das Denkmal einmal stand. Ich war berührt, wie viele Menschen am 8. Mai 2007 mit Blumen zu dem Kriegsgefallenenfriedhof in der Filtri-Straße gekommen waren, wohin man den „Bronzenen Soldaten” versetzt hatte.

Der ZDF-Film „Unsere Mütter, unsere Väter“

In dem 2013 vom ZDF ausgestrahlten Film „Unsere Mütter, unsere Väter“ werden deutsche Soldaten, die an die Ostfront zogen, als unbedarfte Jungs dargestellt, die angeblich frei waren von Rassenwahn und der nazistischen Ideologie des „slawischen Untermenschen“ (16). Es waren angeblich junge Leute, die vor ihrem Abtransport an die Front sogar noch mit einem jüdischen Freund eine Party feierten.

„Der Russe“ wird in diesem Film als böse und unberechenbar dargestellt, die deutschen Soldaten als unschuldige Jungs, die zufällig in einen Krieg geraten sind.

Wenn es um die Verschönerung der deutschen Geschichte geht, spielt Geld keine Rolle. Die Produktion kostete 14 Millionen Euro. 10 Millionen zahlte das ZDF. Außerdem an der Finanzierung beteiligt waren die Film- und Medienstiftung Nordrhein-Westfalen, FilmFernsehFonds Bayern, Mitteldeutsche Medienförderung, Medienboard Berlin-Brandenburg, nordmedia Fond und Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein.

Arseni Jazenjuk in den ARD-Tagesthemen

Am 7. Januar 2015 konnte der damalige Ministerpräsident der Ukraine, Arseni Jazenjuk, in den ARD-Tagesthemen unwidersprochen seine pro-faschistische Sichtweise über den Zweiten Weltkrieg darlegen. Er sagte:

„Die russische Aggression in der Ukraine, das ist der Angriff auf die Weltordnung und auf die Ordnung in Europa. Wir können uns noch alle sehr gut an den sowjetischen Anmarsch in die Ukraine und auf Deutschland erinnern. Das muss man vermeiden. Und keiner hat das Recht, die Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges neu zu schreiben“ (17).

Nach Meinung von Jazenjuk wurde die Ukraine und das damals faschistische Deutschland nicht von der Roten Armee befreit, sondern besetzt.

Nun ja, wenn eine ehemalige Sowjetrepublik sich endlich aus dem Einflussbereich Moskaus löst, dann muss man auch mal ein Auge zudrücken. So hat man wahrscheinlich in der Redaktion der Tagesthemen gedacht.

Der Spiegel: „Auschwitz wurde von US-Truppen befreit“

Auschwitz wurde am 27. Januar 1945 von der Roten Armee befreit. Doch diese historische Tatsache versuchen westliche Politiker und Medien seit der Ukrainekrise zu verfälschen.

Der Spiegel meldete am 26. Januar 2020 in einer Twitter-Meldung, das KZ Auschwitz sei von „der amerikanischen Armee“ befreit worden (18). Nach Protesten wurde die Meldung als „peinlicher Fehler“ zurückgezogen.

Bereits am 12. Dezember 2013, in der Hochphase des Maidan, behauptete Marieluise Beck — damals Sprecherin für Osteuropapolitik der Bundestagsfraktion der Grünen — auf Facebook, Auschwitz sei von Ukrainern befreit worden. Hier das komplette Zitat:

„Timothy Snyder schrieb in einem Essay: ‚Auschwitz wurde 1945 von der Roten Armee befreit, darauf sind die Russen heute stolz. Doch der Teil der Roten Armee, der Auschwitz befreite, gehörte zur ‚I. Ukrainischen Front‘. Für diese Bezeichnung gab es einen guten Grund: Sie kämpfte in der Ukraine, wo die Rote Armee aufgrund schwerer Verluste viele Einheimische rekrutierte. Die Soldaten stammten daher überproportional von dort. Niemand weist jemals darauf hin, dass Auschwitz von ukrainischen Soldaten befreit wurde. Bei meinem Gespräch mit russischen Historikern und Menschenrechtlern bei Memorial in Moskau erfahre ich gestern noch mehr Einzelheiten: Der Kommandeur des Bataillons, das Auschwitz befreite, war der ukrainische Jude Anatolij Schapiro. niemand weist jemals darauf hin, dass Auschwitz von ukrainischen Soldaten befreit wurde‘“ (19).

Die Bezeichnung „1. Ukrainische Front“ ist eine Bezeichnung für einen Territorialabschnitt und keine Bezeichnung für die nationale Zusammensetzung eines Armeeteils. Doch die studierte Geschichtslehrerin Beck lügt sich ihre Auschwitz-Wahrheit so zurecht, wie sie es politisch gerade braucht.

Von RT Deutsch veröffentlichte Archivdokumente belegen, dass der Großteil der Kämpfer der „1. Ukrainischen Front“ 42.398 russische Soldaten waren, gefolgt von 38.041 ukrainischen Soldaten. Außerdem kämpften in der „1. Ukrainischen Front“ noch Angehörige zahlreicher anderer Nationalitäten.

Siegesfeiern in Moskau angeblich „von oben organisiert“

Immer wieder tun die deutschen Medien so, als ob es heute einen Stolz auf den Sieg der Roten Armee nur in der russischen Führung, nicht aber im einfachen Volk gibt. Wenn in russischen Städten seit mehreren Jahren Hunderttausende am 9. Mai im Rahmen der Aktion „Unsterbliches Regiment“ auf die Straße gehen und dabei Porträts ihrer Angehörigen tragen, die im Zweiten Weltkrieg gekämpft haben, wird das als „Militarismus“ und „von oben angeordnet“ denunziert.

Es ist nicht zu übersehen, dass es in Deutschland einen Argumentationsfaden gibt, der von der NS-Zeit bis in die Gegenwart reicht.

Damals wie heute wird so getan, als ob das russische Volk von einer eigensüchtigen Herrscherkaste geknechtet und nur durch westlich orientierte Russen und mit westlicher Hilfe befreit werden kann.

Dass es einfache, russischsprachige Ukrainer waren, die sich in den Gebieten Donezk und Lugansk im Frühjahr 2014 zunächst nur mit nackten Händen ukrainischen Panzern entgegenstellten, wurde in den deutschen Medien verschwiegen. Die „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk sind nach Meinung deutscher Medien nicht das Resultat eines regionalen Aufstandes, sondern Resultat „russischer Okkupation“.

Ist der 8. Mai für die Deutschen ein trauriger Tag? Ich meine Nein. Die Deutschen haben allen Grund erleichtert aufzuatmen und Russland aus tiefstem Herzen dankbar zu sein.

Denn ohne den Sieg bei Stalingrad, ohne die Befreiung Osteuropas durch sowjetische Truppen, hätte Hitlerdeutschland nicht kapitulieren müssen und wir würden vielleicht noch heute unter der NS-Herrschaft leben.

Erleichtert aufatmen könnten auch diejenigen, denen das politische System in Russland nicht gefällt. Wir sollten uns da einfach nicht einmischen! Lassen wir doch die Russen selbst über ihr Schicksal entscheiden! Solange die Leistungen sowjetischer Soldaten bei der Befreiung Europas verschwiegen oder kleingeredet werden, solange sind Belehrungen von deutscher Seite über Demokratie und Pressefreiheit an die russische Adresse unglaubwürdig.



Quellen und Anmerkungen:

(1) Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 im Bundestag, http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Richard-von-Weizsaecker/Reden/1985/05/19850508_Rede.html
(2) Jubiläum: 40 Jahre Fernsehserie „Holocaust“, Bayrischer Rundfunk, 14. Juli 2019, https://www.br.de/nachrichten/kultur/fernsehserie-holocaust-erste-ausstrahlung-nach-40-jahren,RW23kHh
(3) „Wieder Krieg in Europa? Nicht in unserem Namen!“, https://www.zeit.de/politik/2014-12/aufruf-russland-dialog
(4) Internetportal Propagandaschau, https://propagandaschau.wordpress.com/
(5) Eine Stadt und ihr KZ. Rathausausstellung 2019, http://offenes-archiv.de/de/WeitereAusstellungen/rathausausstellung_2019_stadt_startseite.xml
(6) KZ-Gedenkstätte Neuengamme, Die Häftlinge, https://www.kz-gedenkstaette-neuengamme.de/geschichte/konzentrationslager/die-haeftlinge/
(7) KZ-Gedenkstätte Neuengamme, Häftlinge aus der Sowjetunion, Kultur- & Geschichtskontor, http://neuengamme-ausstellungen.info/media/ngmedia/browse/1/2#scene_28
(8) Das sowjetische Kriegsgräberfeld. Das Schicksal der Kriegsgefangenen in Bergedorf, https://www.volksbund.de/fileadmin/redaktion/Landesverbaende/Hamburg/030_KGS_in_HH/Bergedorf/Flyer_Bergedorf_Friedhof_web.pdf
(9) „Auschwitz-Überlebende wünscht sich 8. Mai als Feiertag“, Die Zeit Online, 27. Januar 2020, https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-01/esther-bejarano-feiertag-nierderschlagung-ns-regime-auschwitz-komitee
(10) Endlich ein Gedenkort für Opfer des Nazi-Vernichtungskriegs?, Neues Deutschland, 8. Mai 2019, https://www.neues-deutschland.de/artikel/1118266.ns-verbrechen-endlich-ein-gedenkort-fuer-opfer-des-nazi-vernichtungskriegs.html
(11) Ein Mahnmal, das kaum einer will, Die Tageszeitung, 31. Januar 2019, https://taz.de/Gedenken-an-NS-Opfer-im-Osten-Europas/!5567024/
(12) Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfragen von Abgeordneten der Fraktion „Die Linke“ vom 3. April 2019.
(13) „Der Bronzene Soldat musste gehen“, Ulrich Heyden, Aargauer Zeitung, 28. April 2007, https://ulrich-heyden.de/article/der-bronzene-soldat-musste-gehen
(14) Fotoreportage aus Tallin https://ulrich-heyden.de/article/wiederauferstehung-des-bronzenen-soldaten
(15) „Vom Sockel gestoßen“, Süddeutsche Zeitung, 14. Dezember 2008, https://www.sueddeutsche.de/kultur/denkmalstreit-in-tallinn-vom-sockel-gestossen-1.805830
(16) Trailer „Unsere Mütter, unsere Väter“, https://www.youtube.com/watch?v=aNNUZgFNz8k
(17) Arseni Jazenjuk in den ARD-Tagesthemen, 7. Januar 2015, http://www.tagesschau.de/multimedia/video/video-52871.html
(18) Twitter-Meldung von Der Spiegel zur Befreiung von Auschwitz durch die „amerikanische Armee“, https://twitter.com/rubenmcloop/status/1221231153518084103/photo/1
(19) Marieluise Beck auf ihrem Facebook-Account, 12. Dezember 2014, https://www.facebook.com/marieluise.beck/posts/772745956111864