Der Preis des Fortschritts
In Kongo schuften und sterben Arbeiter unter Tage für das Technikspielzeug unserer Wohlstandsgesellschaft.
„Im düstern Auge keine Thräne“ — Heinrich Heine begann so sein Gedicht über die Ausbeutung und das Elend der schlesischen Weber. Ihre Nachfolger malochen fernab des Blickfelds europäischer Konsumenten. Es ist, als ob sie nicht existieren würden: die Menschen, denen wir unseren Wohlstand verdanken und die dafür oft nur einen Hungerlohn und einen frühen Tod zu erwarten haben. Soeben wurde gemeldet, dass es ein Grubenunglück in Kongo gegeben habe. 500 Tote werden „befürchtet“. Derartige Vorfälle gibt es immer wieder auf der Schattenseite der Industriegesellschaft, wo „Arbeitsteilung“ bedeutet: Irgendwo im Süden kriechen Menschen in lichtlosen Höhlen und schlucken Staub, damit wir im Norden nach Herzenslust scrollen und simsen können. Häufiger Grund für Grubenunglücke: seltene Erden — die materielle Basis für Batterien, Handys und E-Autos. Unseren Medien ist der elende Tod der Garanten unser „grünen Energie“ oft nicht einmal eine Randnotiz wert.
Es gibt Nachrichten, die rufen. Und es gibt Nachrichten, die flüstern — so leise, dass man sie getrost ignorieren kann. Die Meldung, dass im Osten der Demokratischen Republik Kongo rund 500 Menschen in einer illegalen Mine verschüttet wurden, war genau das: ein Flüstern zwischen Börsenticker und Wetterbericht.
Eine Notiz, die in ihrer Belanglosigkeit fast schon beleidigt:
„Grubenunglück im Kongo. 500 Tote befürchtet. Ursache: Einsturz in nicht genehmigter Coltan-Mine.“
Punkt. Absatz. Weiter mit „Trennung von Bastian Schweinsteiger“ und „7 Geräte besser als das iPhone — das sind die Samsung-Handys, die Sie wirklich brauchen!“
Kein Brennpunkt. Kein Livebericht. Kein Betroffenheits-Hashtag. Denn hier starben keine Weißen. Hier starb nur der Überrest einer moralischen Weltordnung, die wir längst begraben haben — unter Lithium, Wohlstand und Ladezyklen.
Der Klang der Tiefe
Manchmal, ganz selten, klingt Fortschritt wie das Klicken eines Ladegeräts. Ein beruhigendes, modernes Geräusch. Ganz sanft — als würde der Strom leise flüstern: Ich bin grün, ich bin sauber, ich bin die Zukunft.
Manchmal klingt Fortschritt aber auch wie berstendes Gestein, wie einstürzende Stollen und wie das letzte, erstickte Husten eines Mannes, der in 40 Metern Tiefe seine Lunge mit Staub füllt, während oben ein Algorithmus weiteroptimiert.
Am 22. Juli 2025 stürzte in der ostkongolesischen Provinz Süd-Kivu eine provisorische Grube ein. 500 Menschen wurden verschüttet. Es war keine offizielle Mine. Kein Konzern hatte diesen Ort kartiert. Keine Sicherheitsvorkehrung schützte die Männer, Frauen und Kinder. Kein Arbeiter trug Helm — aber viele trugen Hoffnung. Hoffnung, irgendwo in der feuchten Erde einen Klumpen Coltan, Cobalt, Wolfram oder Tantal zu finden — seltene Erden, auf denen unsere glänzenden Geräte gebaut sind. Die Mine gehörte niemandem. Die Toten auch nicht.
Ich-AG im Todesstollen
Sie waren keine Angestellten. Sie waren keine Unternehmer. Sie waren keine Kriminellen. Sie waren die letzte Stufe im Nahrungskreislauf des globalen Kapitalismus: Die „Ich-AG“ des Elends. 500 Menschen, die mit Schaufeln, Fingern und Hunger in einem Loch standen — auf der Suche nach Wohlstand, der ihnen nie gehören sollte. Die einen nennen es illegalen Bergbau. Die anderen: überleben.
Im Kongo, einem Land, das mehr natürliche Ressourcen beherbergt als der gesamte globale Norden zusammen, leben schätzungsweise zwei Millionen Menschen vom sogenannten „artisanalen Bergbau“. Das ist der Euphemismus der Entwicklungsökonomen für: im Staub kriechen, mit bloßen Händen schürfen, täglich dem Tod begegnen.
Allein in den Cobaltminen sterben jedes Jahr bis zu 2.000 Menschen, doch verlässliche Zahlen sind so selten wie ein faires Handelsabkommen. Verletzte? Bis zu 10.000 Schwerverletzte jährlich. Verkrüppelte Kinder, gebrochene Rücken, Lungenkrankheiten. Keine Krankenversicherung, kein Schmerzgeld, keine Statistik, die sie zählt.
Wie viele Kinder braucht ein Akku?
Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) schätzt: Mehr als 40.000 Kinder schuften im Kongo in Minen. Viele von ihnen unter zehn Jahren. Sie kriechen in 30 Meter tiefe Löcher, ohne Absicherung, ohne Licht, ohne Eltern. Und manchmal auch ohne Wiederkehr. Ein iPhone braucht 0,8 Gramm Tantal. Eine Tesla-Batterie bis zu 10 Kilogramm Kobalt. Und ein Kinderschicksal bleibt bei jeder Lieferung gratis dabei. Ein Kind mit aufgerissenen Knien trägt täglich 10 bis 15 Kilogramm Gestein zur Sortierstelle. Was bleibt, ist Staub auf der Haut — und eine Lebenserwartung, die in Jahrzehnten kaum über die Schulzeit hinausgeht. Die moralische Frage drängt sich auf: Wie viele Kinder braucht ein Akku? Wie viele Lungen braucht ein Lieferkettengesetz?
Europa hat sie eingeführt, diese Regelwerke. Lieferkettengesetze. Nachhaltigkeitszertifikate. Prüfstandards. Doch wie viel Kontrolle passt zwischen eine Schaufel im Dschungel und einen Konferenzraum in Brüssel? Der Weg der Metalle beginnt in einem Erdloch im Urwald, führt durch Zwischenhändler, Milizen, Rohstoffhändler, chinesische Weiterverarbeiter über indische Raffinerien bis hin zu europäischen Großkunden. An jedem Zwischenstopp verliert sich ein Stück Wahrheit. Am Ende bleibt ein Prüfprotokoll mit sauberer Bilanz — und eine Grube voller Leichen. Der Tod ist nicht zertifizierbar. Aber billig.
Unsere E-Autos? Fahren mit grünem Gewissen. Unsere Handys? Kommunizieren ohne Kabel, dafür mit Kinderhänden. Unsere Tablets? Flach und glänzend — wie das Mitgefühl für die Menschen, die sie möglich machten.
Die Metalle, die aus dem Kongo kommen, landen in unseren Wohnzimmern. In jedem USB-Kabel, in jedem Solarspeicher, in jeder Smartwatch. Der Tod dieser 500 Menschen ist kein Betriebsunfall. Er ist die logische Konsequenz eines Systems, das Externalitäten outsourct wie Kaffeetassen in Coworking-Spaces. Wir reden von Nachhaltigkeit, doch meinen: nicht in meinem Garten. Nicht auf meinem Konto. Und bitte nicht auf meinem Display.
Der Pakt zwischen Markt und Moral
Warum ist es so schwer, diese Menschen zu schützen? Weil man auf ihrem Rücken viel verdienen kann — und bei ihrem Tod niemand haftet. Die Minen liegen in Regionen, die von bewaffneten Gruppen kontrolliert werden. „Rebellen“, „Milizen“, „lokale Behörden“ — Begriffe, die so austauschbar sind wie die Logos auf den Geräten. Was zählt, ist die Ware. Apple, Tesla, Samsung, Volkswagen, Huawei — sie alle beziehen Metalle, deren Herkunft sich nie ganz klären lässt. Das ist kein Zufall. Das ist Teil des Modells. Unwissen ist das bequemste Geschäftsmodell der Welt.
Wir reden nicht darüber. Wir twittern darüber. Wir liken, wir teilen, wir vergessen. In deutschen Nachrichten war das Grubenunglück eine Randnotiz. Keine Sondersendung. Kein Brennpunkt. Kein Gipfel der Betroffenheit. Die Toten waren zu arm, zu schwarz, zu weit weg. Und der Akku noch bei 17 Prozent. Vielleicht liegt das größte Verbrechen nicht im Handel. Sondern in unserer Gleichgültigkeit.
Was wäre, wenn die 500 Verschütteten ein Dorf in Bayern gewesen wären? Wenn sie europäische Pässe, weiße Gesichter, Gymnasialkinder gewesen wären? Dann hätten wir Liveticker, Helikopterbilder, Politiker mit Helmen, die in Kameras starren. Dann hätten wir Schweigeminuten. Dann hätten wir das Gefühl, dass etwas falsch läuft. Aber in Süd-Kivu gibt es keine Sirenen. Nur das dumpfe Grollen einstürzender Hoffnung. Und die stillen Gebete derer, die wissen, dass morgen wieder geschürft wird.
Ein schwarzes Loch im System
Der Kapitalismus ist ein System, das mit Lücken lebt und von ihnen. Er liebt Unsichtbarkeit. Je weniger man sieht, desto besser funktioniert er.
Was man nicht sieht:
• Die Lungenerkrankung eines 9-Jährigen.
• Die amputierte Hand eines 21-Jährigen, der versuchte, Dynamit zu zünden.
• Die Ehefrau eines verschütteten Mannes, die fünf Kinder allein ernähren muss.
Was man sieht:
• Ein neues iPhone.
• Ein neues E-Auto.
• Ein sauberes Image.
Was man nie sehen wird: Gerechtigkeit.
Und so schreibt sich die Geschichte weiter. Von grünem Wandel. Von technologischem Fortschritt. Von sauberer Mobilität. Aber auf jeder Seite klebt der Staub der Gruben. Auf jedem Absatz liegt das Gewicht eines toten Körpers. Und zwischen den Zeilen schreit eine Wahrheit, die niemand hören will: Es gibt keine saubere Technologie auf schmutzigem Boden.
Sie hatten keinen Vertrag. Keine Stimme. Keine Lobby. Aber sie hatten Namen. Sie hatten Träume. Sie hatten Kinder. 500 von ihnen starben in einem Loch, das niemand zählen will. Weil ihr Leben nichts wert war. Aber ihre Beute alles.
Und wir?
Wir könnten fragen: Woher kommt das Metall in meinem Gerät? Wir könnten fordern: faire Lieferketten, echte Kontrollen, verbindliche Menschenrechte. Wir könnten verzichten, recyceln, reparieren. Aber wir könnten auch einfach weitermachen. Weil Bequemlichkeit der größte Rohstoff ist, den wir besitzen.
Elegie an die Tiefe
Ein Akku blinkt — das Leben weicht,
Ein Kind im Schacht, das leise schreit.
Die Zukunft fährt auf grünem Gleis,
Der Tod bleibt unter Tage leis‘.
Der Fortschritt lacht mit bleichem Licht,
Und sieht die Opfer selber nicht.
Doch wenn der letzte Stein zerbricht,
Fragt keiner mehr nach Schuld — nur Pflicht.
Ich frage mich ganz persönlich: Warum berichtete niemand ausführlich über die 500 Toten? Weil es uns nicht betrifft. Weil kein Europäer verschüttet wurde. Weil ihre Namen unaussprechlich, ihre Gesichter unbekannt und ihre Träume nicht marktfähig sind.
Vielleicht war das Grubenunglück gar kein Unfall. Vielleicht war es die logische Folge eines Systems, das auf Kosten anderer funktioniert. Eines Systems, das sagt: „Für saubere Energie brauchen wir schmutzige Hände.“ Was wir Fortschritt nennen, ist oft nur eine andere Form von Kolonialismus —nicht mit Gewehren, sondern mit Marktpreisen.Und wer trägt die Schuld? Wir alle. Denn wir fragen nicht. Wir fordern nicht. Wir ignorieren still. Wir glauben an Zertifikate wie an moderne Heiligenbilder. Und denken: Wenn’s von Apple ist, kann es ja nicht so schlimm sein. Doch jedes Gerät, das wir kaufen, könnte eine Grabbeigabe sein — für jemanden, der lebendig verschüttet wurde, damit wir kabellos telefonieren können.
Der Kongo blutet seit Jahrzehnten. Sein Boden ist so fruchtbar wie sein Volk vergessen. Im Westen feiert man die grüne Wende — doch ihre Farbe ist nicht chlorophyllgrün. Sie ist blutrot.
Ein Akku hält zwei Jahre. Ein Toter schweigt für immer. Und wir? Wir laden, scrollen und konsumieren weiter. Bitte bleiben Sie gesund, denn das ist ein hohes Gut das wir pflegen sollten!