Der Ringkampf

Poetik-Ecke VXII: Die politische Aufarbeitung ist — auch — ein inneres Geschehen.

Im Sinne eines Emblems entwirft Philine Conrad eine kurze Szene für den inneren Kampf der Gegenwart. Manuel Rabbe malt das (Bühnen-)Bild dazu. Ein mehrdeutiger Gedankenanstoß im Manova-Literatur-Salon.

Eine Turnhalle. Auf jeder Seite stehen vierzehn Ringer. Kräftiger Statur. Warum Ringer? Weil sie Zugkraft haben. Warum keine Ringerinnen? Weil Männer kräftiger sind und den Akt besser darstellen, die Kraft besser in die Fantasie übersetzen können. In der Mitte der Halle liegt ein Seil. Ein dickes Seil. Ein Tau. Ein Mann in einem schwarz-weiß gestreiften Trikot und mit Trillerpfeife steht an der Seite und zählt runter von 5. 4. 3. 2. 1. Die erste Runde beginnt.

Die achtundzwanzig Ringer packen das Tau. Es geht los. Sie sind alle aus derselben Gewichtsklasse, ringen in derselben Profi-Liga. Sie ziehen und zerren, hin und her. Aber es will niemand gewinnen. Beide Teams haben Namen: Links zieht Team „Vergebung”, rechts Team „Verachtung“. Politiker sprechen jetzt von Fehlern, von Fehlversagen, von Wir-haben-es-nicht-gewusst, von Beim-nächsten-Mal-besser-Machen.

Team links bäumt sich auf — die Ringer schreien: „Aber wir. Wir haben es gewusst. Wie konnten wir es dann wissen, wenn man es nicht wissen konnte?“ — und versucht das andere Team auf seine Seite zu ziehen. Aber Team „Verachtung“ ist stark und schweigt. Es hält dagegen. Beide Mannschaften waren monatelang in Trainingscamps, Team links trainierte die Güte, die Demut, die Zurücknahme. Team rechts trainierte das Positionieren, das Standing, die Selbstverteidigung — an dieser Stelle gilt nur das räumliche Links-Rechts, nicht das politische. Denn Richtungen haben im gespaltenen Proletariat kein Gewicht. Es besitzt nichts. Aber die Proletarier sind unglücklich. Anders als man es ihnen prophezeit hat. Denn sie haben sich spalten lassen.

Aber wie geht es weiter? Es ist der längste Kampf, der in dieser Halle bisher gekämpft wurde. 1986 wurde sie errichtet und eröffnet. Als das Land noch blühte. Es ist das bisher längste Tauziehen der Geschichte. Welches Team wird gewinnen? Es spielt sich im Innern ab, fernab der Öffentlichkeit: Herz, Kopf, Bauch, Kopf, Herz. Links, rechts, links, rechts, links. „Vergebung“, „Verachtung“, „Vergebung“, „Verachtung“.

Team links hat Kraft, zieht stärker. Team rechts schreit: „Ok, gut. Ja, wir geben es zu: Wir tragen einen Tarnnamen. Wir verachten nicht. Wir sind die ‚Vergessenen‘. Wir wurden vergessen. Aber die Verachtung hat mehr Kraft. Mit ihr ist es leichter. Sie ist die Motivation, der Antrieb, der Motor.“ „Also, dann kommt zu uns”, rufen ihnen die Ringer von Team links zu. „Niemals”, schreit Team rechts, „so weit ist es lange noch nicht.“ Und ein Ruck geht durch das Seil …


BILD

Illustration:  © Manuel Rabbe | rabbe.work, Text: © Philine Conrad | www.philineconrad.com