Der Riss im Osten

Die Balkan-Länder sind eine entscheidende Schnittstelle zwischen Russland und Europa, doch der Westen verlangt eine Entscheidung und setzt diese im Zweifelsfall auch selbst durch.

Analysiert man einmal unvoreingenommen die geopolitischen Interessen des Balkans, kommt man schnell zu dem Schluss, dass die Region im Osten Europas zwischen den Fronten steht. Sowohl zu Russland als auch zur EU bestehen wirtschaftliche Abhängigkeiten, und eine gute Beziehung zu beiden Partnern wäre das Optimum. Doch diese Orientierung in beide Richtungen ist nicht von allen gewünscht. Der Westen sieht Beziehungen zu Russland als grundsätzlich suspekt und am Ende des Tages als Illoyalität an. Im Zweifelsfall schreckt er auch nicht davor zurück, nachzuhelfen, wenn es um die internationale Positionierung der Balkan-Länder geht. Unglücklicherweise deutet einiges darauf hin, dass sich die Geschichte in manchem wiederholt.

Beim Einsturz des Vordachs des Hauptbahnhofs der serbischen Stadt Novi Sad, der im Juni 2024 nach dreijährigen Umbaumaßnahmen wieder in Betrieb genommen worden war, kamen am 1. November 2024 sechzehn Personen ums Leben. Wikipedia beschreibt, was dann folgte:

„In Serbien laufen seit November 2024 anhaltende Proteste, die sich gegen Machtmissbrauch der Regierung und gegen den autoritären Regierungsstil von Präsident Aleksandar Vučić richten. (…) Die Demonstranten adressieren die Korruption im Land, die für den Dacheinsturz verantwortlich gemacht wird, Wahlbetrug, Einschränkung unabhängiger Medien und fordern die Durchsetzung von Rechtsstaatlichkeit. Am 15. März versammelten sich in der Hauptstadt Belgrad schätzungsweise 275.000 bis 325.000 Menschen. (…) Zuvor stellte ein Protest im Dezember 2024, bei dem zeitgleich über 100.000 Menschen in Belgrad demonstrierten, den bis dahin größten Protest in Serbien seit dem Sturz des ehemaligen Präsidenten Slobodan Milošević im Jahr 2000 dar.“

Der Sturz von Präsident Slobodan Milošević

Hier erinnert Wikipedia — natürlich ohne es weiter auszuführen und die Hintergründe anzusprechen — an den Sturz des damaligen demokratisch gewählten Präsidenten der Bundesrepublik Jugoslawien, Slobodan Milošević.

CIA und Pentagon hatten eine Methode erdacht, um eine in ihren Augen „unkooperative“ Regierung mit Hilfe und Finanzierung von NGOs zu stürzen — eine Blaupause für alle späteren sogenannten Farbrevolutionen, wie wir sie heute beispielsweise wieder in Serbien erleben.

Was spontan wirken sollte—der „Deutschlandfunk“ sprach noch am 5. Oktober 2020, 20 Jahre nach den Ereignissen, von einem „Volksaufstand“ — war in Wirklichkeit schon lange vorher mit Unterstützung einer studentischen serbischen Bewegung namens „Otpor“ ( „Widerstand“, mit dem Symbol einer geballten Faust) aus den USA geplant und vorbereitet worden.

Dass der Mensch in jungen Jahren am formbarsten ist und Jugendliche aus Mangel an Lebenserfahrung oft einseitig emotional reagieren und sich leicht einreden lassen, für eine bessere Welt zu kämpfen, haben sich autoritäre Strukturen stets zunutze gemacht. „Otpor“ hatte sich über die Jahre zu einer gut ausgebildeten und von den USA mit Millionen Dollar finanzierten Bewegung entwickelt, denn solche Initiativen entstehen natürlich nicht kurzfristig. Sie können auch nicht tagelang, wochenlang oder monatelang ohne Führung, Vorbereitung, Training, Ressourcen, Koordination, Rechtsbeistand und vor allem auch ohne die verstärkende Unterstützung der Medien demonstrieren.

Ausgangspunkt von „Otpor“ war das Konzept des amerikanischen Politikwissenschaftlers Gene Sharp (1928-2018) und seiner 1983 gegründeten „Albert Einstein Institution“ (AEI), deren Ziel es war „die Erforschung und Anwendung strategischer gewaltfreier Aktionen in Konflikten zu fördern.“ Sein Buch „Von der Diktatur zur Demokratie“ ist der weltweit befolgte Leitfaden „für den Sturz von Diktaturen“, so der Verlag. Die Vorwürfe der Akteure an die herrschende Regierung sind immer dieselben: Korruption, Machtmissbrauch, Angriff auf die Rechtstaatlichkeit und auf die Pressefreiheit, Wahlfälschung sowie Forderung nach Neuwahlen.

Der Journalist Michael Dobbs beschrieb in der „Washington Post“ vom 11. Dezember 2000, was sich ein Jahr vor den Unruhen in Belgrad ereignete, „um Europas letzten Regierungsführer der kommunistischen Ära zu stürzen“, damit die USA ihre Macht in der Region weiter ausdehnen konnte. Präsident Milosevic, der 78 Tage illegaler NATO-Luftangriffe der „Operation Noble Anvil“ (Operation Edler Amboss) und ein Jahrzehnt internationaler Sanktionen überlebt hatte, sollte gegen die von den USA neu erdachten Taktiken, „ein unbequemes Regierungsoberhaupt zu stürzen — nicht mehr durch verdeckte CIA-Operationen, wie einst im Iran und in Guatemala, sondern durch moderne Wahlkampftechniken“ — keine Chance haben.

Michael Dobbs berichtet weiter, die Operation sei von den Büroräumen des US-Botschafters Richard Miles aus geleitet und mit US-Steuergeldern unter anderem für tausende Farbsprühdosen und 2,5 Millionen Aufkleber mit der allgegenwärtigen Parole „Er ist erledigt“ finanziert worden.

Um zu erfahren, ob es sich um eine Farbrevolution handelt, muss man sich die Geldgeber und diejenigen ansehen, die Armeen von Agitatoren zum sogenannten gewaltlosen Widerstand anleiten. Für die Finanzierung der Protestaktionen, die zum Sturz des Präsidenten führten, kamen gleich mehrere neue, von Washington unterstützte NGOs zum Einsatz — darunter das „National Endowment of Democracy“ (NED) und zwei seiner Ableger, das „International Republican Institute“ (IRI) und das „National Democratic Institute“ (NDI). Die „U.S. Agency for International Development“ (USAID), eine Tarnorganisation der CIA, hatte die Hilfsgelder über die NGOs NED, IRI und NDI ins Land geschleust.

Ein weiterer Artikel des Journalisten Robert Cohen in der „New York Times“ vom 26. November 2000 mit dem Titel „Wer hat Milošević wirklich gestürzt?“ berichtet ebenfalls über die beteiligten US-Organisationen, deren Tätigkeit man naturgemäß möglichst geheim halten wollte: „Die amerikanische Unterstützung für „Otpor“ und die 18 Parteien, die Milošević schließlich stürzten, ist noch immer ein hochsensibles Thema. Doch Paul B. McCarthy, ein Mitarbeiter der Washingtoner Stiftung „National Endowment for Democracy“, ist bereit, einige Details preiszugeben. McCarthy sitzt im zentral gelegenen Hotel Moskwa und genießt die Genugtuung, in einem Land zu sein, das ihm unter Milošević lange Zeit verwehrt blieb.“

Nachdem Milošević entmachtet und Jugoslawien zerschlagen war, stand dem Pentagon nichts mehr im Wege, im Kosovo „Camp Bondsteel“, seine zweitgrößte Militärbasis in Europa, zu errichten. Der von 1999 bis 2006 amtierende Menschenrechtskommissar des Europarates Álvaro Gil-Robles sprach nach einer 2002 erfolgten Inspektion des dortigen Lagers von einer Black Site mit „schockierenden Zuständen“ wie in Guantánamo.

Kleine Fußnote: Dass der Kosovo-Krieg kein UN-Mandat hatte, soll heute auch nicht mehr gelten. In der Bundespressekonferenz vom 10. März 2025 fragte der Journalist Florian Warweg, ob die Bundesregierung dabei bleibe, dass die Beteiligung deutscher Soldaten am Angriff auf Jugoslawien nicht völkerrechtwidrig gewesen sei. Antwort des Vertreters des Auswärtigen Amtes:

„Das ist die Haltung der Bundesregierung: dass der damalige Einsatz nicht völkerrechtswidrig war, sondern dem Schutz des Kosovo diente.“

„Das Wohlergehen des Volkes war schon immer ein Alibi für Tyrannen.“ (Albert Camus)

Auf der Webseite des IRI wird Folgendes propagiert:

„Weltweit arbeiten Diktatoren gemeinsam gegen amerikanische Interessen. Sie sind am Scheitern Amerikas interessiert, aber sie werden sich nicht durchsetzen. Seit 40 Jahren trägt das „International Republican Institute“ dazu bei, Amerika sicherer, stärker und wohlhabender zu machen, indem es seinen Partnern die Werkzeuge an die Hand gibt, die sie für den Aufbau erfolgreicher demokratischer Gesellschaften benötigen.“

Wie auf der Webseite außerdem zu erfahren ist, war man bereits in über 100 Ländern „für die Förderung von Demokratie und Freiheit“ tätig — in Wirklichkeit jedoch, um gewählte Regierungen souveräner Staaten zu stürzen und eigene Interessenvertreter einzusetzen. Mainstream-Medien tun alles dafür, um die Seite zu verschweigen, die das Bild vervollständigen könnte — ein eindeutiges Zeichen für Meinungsmanipulation und Propaganda.

Ein für Europas Bevölkerungen inzwischen höchst folgenreiches Beispiel war der Maidan-Putsch — ein mit Unterstützung der USA und der Europäischen Union ausgeführter Staatsstreich, bei dem über 100 Menschen ums Leben kamen und der zum Sturz des demokratisch gewählten Präsidenten Wiktor Janukowytsch führte. Auslöser war die Erklärung der ukrainischen Regierung im November 2013, das geplante Assoziierungsabkommen mit der EU vorerst nicht unterzeichnen zu wollen. Sogar die Mitglieder der künftigen Regierung hatten die USA bereits ausgewählt — wie das berühmt gewordene Telefongespräch zwischen Victoria Nuland, der damaligen stellvertretenden Außenministerin für Europa, und Geoffrey Pyatt, dem (https://multipolar-magazin.de/artikel/katchanovski-maidan-scharfschutzen)amerikanischen Botschafter in Kiew beweist. Noch düstere Szenarien beschreibt [Ivan Katchanovski], Professor für Politikwissenschaft an der Universität Ottawa, in seinem nach zehn Jahren Recherche erschienenen Buch „Das Massaker auf dem Maidan“.

Serbien heute

Wir können es schon lange beobachten: Regierungen, die im Interesse ihres Landes Beziehungen zu Russland und Europa pflegen wollen, müssen weg. Serbien ist seit 2012 offizieller EU-Beitrittskandidat. Doch die engen Beziehungen des Landes zur Russischen Föderation sorgen immer wieder für Irritationen in Brüssel. Wirtschaftlich hängt das Land von der EU ab, ist aber andererseits auf russisches Gas angewiesen. Die Unruhen in Serbien dauern nun schon seit Monaten an und werden mit der Zeit immer brutaler und zerstörerischer. Und wenn Aktivisten beginnen, Brände zu legen und Einrichtungen zu zerstören, hat die Polizei naturgemäß die Pflicht einzugreifen.

Basierend auf Narrativen und Anschuldigungen von Medien wird Präsident Aleksandar Vučić durchgehend in ein schlechtes Licht gerückt. Ein Beispiel: Am 6. September 2025 veröffentlichte „ZDFheute“ ein Interview mit dem Balkan-Experten Vedran Dzihic, Senior Researcher beim „Österreichischen Institut für Internationale Politik“ (oiip). Zu seinen Forschungsgebieten gehören: „Demokratietheorie und Demokratisierungsprozesse, Europäische Integration, Konfliktforschung, Zivilgesellschaft und Protestbewegungen, Außenpolitik und Nationalismus. Sein regionaler Fokus liegt auf Ost- und Südosteuropa mit besonderem Schwerpunkt auf dem Balkan und auf den USA.“ — Passt doch!

Sein Blick auf die serbische Regierung ist dementsprechend ausschließlich negativ. In dem 15-minütigen Gespräch bezeichnet er die Republik Serbien 15-mal als „Regime“ (ich habe es nachgezählt, weil es so auffällig war).

Den Amtsantritt von Präsident Vučić nach der am 17. Dezember 2023 gewonnenen Parlamentswahl nennt er „Machtübernahme“ und wirft ihm vor, „an seiner Macht festzuhalten“. Er kritisiert, dass Vučić „auf mehreren Stühlen“ sitze und Kontakte zur EU, zu China und Russland pflege.

Die „Deutschen Wirtschaftsnachrichten“ blasen wie fast alle Mainstream-Medien in dasselbe Horn, indem sie Serbien „ein Spiel mit dem Feuer“ vorwerfen und schreiben: „Serbien steht an einem geopolitischen Scheideweg — und spielt ein gefährliches Spiel mit zwei Mächten. Während es von der EU wirtschaftlich profitiert, scheut es klare Kante gegenüber Moskau.“

Folge dem Geld

1983 wurde das „National Endowment for Democracy” (NED) vom US-Kongress in Washington gegründet und erhält für seine Arbeit eine jährliche Finanzierung aus dem US-Haushalt. Auf seiner Webseite gibt die Stiftung bekannt, dass sie jährlich über 2.000 Projekte nichtstaatlicher Organisationen im Ausland mit Fördermitteln unterstützt, die sich eigenen Angaben zufolge in über 100 Ländern weltweit für Freiheit und Demokratie einsetzen. Das NED war seit seiner Gründung an allen Regimewechseln und Farbrevolutionen beteiligt und fördert jede Bewegung, die die Interessen der USA in souveränen Staaten vertritt. Die Historikerin Anne Applebaum (Ehefrau des polnischen Außenministers Radosław Sikorski) ist Mitglied des Vorstands des NED. 2024 wurde sie mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet und verglich in ihrer Dankesrede „Putins Russland mit der Sowjetunion und dem Nationalsozialismus“.

Ruft man auf der NED-Webseite die 46 Seiten lange Liste der geförderten Länder auf, findet man dort auch Serbien. Das NED ist inzwischen vorsichtiger mit der Veröffentlichung von Namen von Organisationen geworden, in die seine Fördergelder fließen. Der Geopolitik-Analyst und YouTuber Brian Berletic zeigt uns in einem Video ab Minute 15:20, wie man die Webseiten finden kann, die für die Finanzierung des jeweiligen Landes relevant sind. Man kann davon ausgehen, dass eine von den Förderorganisationen, die EU-Kommission, nicht ruhen wird, bis sie einen Regimewechsel in Serbien erreicht hat.

Erneut Georgien?

Das nächste Land, das der Westen im Visier hat, könnte erneut Georgien sein. Dort finden am 4. Oktober Kommunalwahlen statt, und in den Umfragen führt die Regierungspartei „Georgischer Traum“. Nun mehren sich die Hinweise, dass vom Westen unterstützte Kräfte wieder versuchen könnten, einen Umsturz zu orchestrieren. Georgien war durch ein Gesetz in Ungnade gefallen, das NGOs mit ausländischer Finanzierung verpflichtet, sich zwecks Transparenz registrieren zu lassen. Die EU-Kommission, die zahlreiche NGOs verdeckt finanziert, um Einfluss auf die öffentliche Meinung anderer Länder auszuüben, legte daraufhin die Beitrittsgespräche mit Georgien auf Eis.

Während der Massenproteste gegen die Gesetzgebung reiste der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Michael Roth, nach Tbilisi, um den proeuropäischen Demonstranten Hoffnung zu machen: (…) „dass die Tür nach Europa weiter offensteht, wenn die georgische Regierung ihre Schaukelpolitik zwischen der EU und Russland beendet.“

Als bei den Ende Oktober stattgefundenen Wahlen die Regierungspartei deutlich siegte, wurden vom Westen Vorwürfe wegen Wahlfälschung erhoben, woraufhin es erneut zu wochenlangen Protesten kam, bis sich die Situation im Dezember schließlich wieder beruhigte.

Wie fatal sich die Einseitigkeit der westlichen Berichterstattung zu Beginn auswirkt, zeigt sich, wenn die Bevölkerung schließlich mit der Wirklichkeit konfrontiert ist. Ein Beispiel ist der folgende Leserbrief:

„Grüße aus Slowenien. Auch wir sind zunehmend entsetzt über unseren Beitritt zur EU und zur NATO. Beide wurden als Ideal und einzig mögliche Option dargestellt, doch jetzt sehen wir, wie korrupt und voller Lügen beide Institutionen sind. Es ist schwer zu akzeptieren, dass aus Indien und Russland mehr Wahrheit kommt als aus unserer eigenen Presse.“