Der virale Selbstverlust

Ben Stenz spiegelt die neu entstandene Corona-Ordnung in einem vielschichtigen Roman.

Die tiefgreifenden Einschränkungen mitsamt der Aussetzung demokratischer Grundrechte zur angeblichen Bekämpfung der Pandemie haben Unmut und Argwohn ausgelöst. Es wird gar befürchtet, dass die Regierungsmaßnahmen darauf abzielen, die Demokratie dauerhaft zu demontieren und die Diktatur einer hauchdünnen Elite zu errichten. Beschleunigter Wandel, digitale Transformation sowie geopolitische Umschichtungen lassen ohnedies die Zukunft als unsicher oder gar bedrohlich erscheinen. Ben Stenz verarbeitet diese neue Realität in seinem Roman „Quarantäne“. Die wirklichkeitsnah gezeichneten Figuren unterschiedlicher Herkunft und Überzeugungen tun sich schwer, mit den einschneidenden Veränderungen zurande zu kommen. Ihre Äußerungen widerspiegeln Misstrauen gegenüber den Spitzen der Politik, die sich für die Anliegen des gemeinen Volks wenig interessieren würden. Außerdem mutmaßen sie, dass die politischen und wirtschaftlichen Eliten gemeinsame Sache machen mit dem Ziel, Demokratie und Grundrechte weiter auszuhöhlen. Nicht zuletzt werde das Coronavirus instrumentalisiert, um den totalitären, vom digital-finanziellen Komplex gemanagten Staat zu begründen. Die Rubikon-Literaturredaktion stellt den Roman mit zwei Ausschnitten vor. Der erste Ausschnitt entspricht dem Beginn des Romans. Als Leserinnen und Leser werden wir in die Welt von K., einem Reisenden, dessen Abkürzung nicht ganz zufällig an einen gewissen K. aus Franz Kafkas „Prozess“ erinnert, eingeführt. Neben K. taucht auch die wortkarge Figur Flo auf, der sich K. im Laufe lockdownbedingter morgendlicher Spaziergänge langsam annähert.

von Ben Stenz

Quarantäne – Der virale Selbstverlust

Nichts ist, wie es scheint ...

Nach zwei Wochen des andauernden Hustens und Niesens entschied er sich für die vorzeitige Heimreise. In den vorangegangenen Tagen hatte er mehrmals nach Flügen gegoogelt. Dann den Plan doch wieder verworfen, den Aufenthalt wegen so einer simplen Sommergrippe abzukürzen. Aber war es denn nur eine Bagatelle: Husten, leichtes Fieber, Mattigkeit? Schließlich buchte er am Morgen den Rückflug, und er reiste noch an demselben Abend ab.

Er hatte sich fünf Wochen im Süden Vietnams aufgehalten — größtenteils in Ho Chi Minh City. Mit Ausnahme des Abstechers auf die Insel Phu Quoc, wo er eine Woche lang Sonne, Meer und Sandstrand genoss, war aus dem Herumreisen nichts geworden. Eigentlich hatte er sich vorgenommen, wie beim ersten Besuch Vietnams auch nordwärts zu reisen. Doch man riet ihm davon ab. Es sei zu gefährlich wegen der Lungenseuche. Das in Zentralvietnam gelegene Nha Trang sei längst von den Touristen verlassen, und ein Abstecher in den Norden sei noch viel weniger zu empfehlen. Eine Kommune mit zehntausend Menschen, unweit von Hanoi, stehe seit Kurzem unter Quarantäne.

K. hatte bis dahin noch nie Tagebuch geführt. Selbst das Geschehen rund um den geschichtsträchtigen 11. September, das ihn noch lange Zeit aufgewühlt und ratlos zurückgelassen hatte, konnte ihn nicht zu regelmäßigem Aufzeichnen seiner Empfindungen, Überlegungen und Befürchtungen hinsichtlich der nachteiligen Auswirkungen auf eine gerechte, freie Welt mit selbstbestimmten Menschen bewegen.

Tägliches schriftliches Festhalten von gewichtigen Beobachtungen war nach der Jahrtausendwende nichts weiter als ein halbherziger Vorsatz geblieben. Wenn es auch K. geholfen hätte, mit dem Niederschreiben der durch die Hirnwindungen peitschenden Gedanken den Druck düsterer Vorahnungen abzubauen, zum Beispiel nachdem sich George W. Bush mit Vizepräsident Dick Cheney und seinen übrigen Cronies im Weißen Haus installiert hatte, fortan das Militärbudget in die Höhe schoss und, wie zu erwarten war, die einzig verbliebene Supermacht gegen die nicht vorhandenen irakischen Massenvernichtungswaffen zu Felde zog.

K. hatte damals Tag und Nacht vor der Glotze ausgeharrt und sich auf CNN die im Stil von Pentagon-Propaganda aufgemachte, heroisierte Kriegsberichterstattung der Embedded Journalists reingezogen.

In der Nacht vom 24. Februar 2020, auf dem Rückflug, machte sich K. schließlich daran, seine Eindrücke, die vergangenen Wochen im Süden Vietnams betreffend, auf dem Notebook festzuhalten. Damit war zwar nicht der Grundstein gelegt zu einem eigentlichen Tagebuch, wenn auch in den nachfolgenden Wochen und Monaten weitere Einträge dazukommen sollten.

Spätestens als es infolge Ausbreitens von Covid-19 über die Kontinente hinweg zum weltweiten Shutdown kam, also das öffentliche Leben eingefroren und zudem die Wirtschaft heruntergefahren war, fühlte K., dass die Lungenseuche ein harter Schnitt — der Eintritt in eine neue, ungewisse Zeit — bedeuten und somit den Abschied erzwingen würde von vielem, was bisher für normal und selbstverständlich gehalten wurde.

K., die Hauptperson dieser Aufzeichnungen, hatte schon vor geraumer Zeit den von seinen Eltern bei Geburt für ihn ausgesuchten Rufnamen abgelegt, den er für antiquiert hielt und zugleich für unstimmig im Hinblick auf sein Lebensmotto. Stattdessen entschied er sich für Kafka, zu Ehren des genialen deutschsprachigen Schriftstellers aus Prag.

Mit Stirnrunzeln wurde ihm bedeutet, dass Kafka als Vorname ungehörig, ja geradezu anmaßend sei. Derart Einwand hatte K. oder nunmehr Kafka nicht im Geringsten beeindruckt, war er doch entschlossen, mit der kühnen Umbenennung auch noch einiges an Gepäck abzuwerfen, was ihm im Lauf des Heranwachsens aufgeladen worden war.

K. wies nach seiner Rückkehr auch weiterhin dieselben Symptome auf — also Husten, Schwindel und dazu Mattigkeit, die ihn zum Abbruch der Vietnam-Reise bewogen hatte. Der Anruf bei der Coronavirus-Hotline bestärkte ihn, sich vorerst in Selbst-Quarantäne zu begeben und von einem Arztbesuch abzusehen, da er nicht unter hohem Fieber litt. So verließ er während einer Woche seine kleine Dachwohnung nicht — ausgenommen zu unvermeidlichen Besorgungen.

Er vertrieb die Zeit, indem er im Netz betreffend Covid-19 recherchierte und sich auf allen möglichen englisch- und deutschsprachigen Fernsehkanälen über das voranschreitende Ausbreiten des Virus informierte. Das war in der letzten Februarwoche 2020 — also noch vor dem länderübergreifenden Shutdown in Europa. Zu einer Zeit, als sich die verheerenden Folgen der Pandemie noch in keiner Weise erahnen ließen.

Kafka lebte erst kurze Zeit in der beschaulichen Seegemeinde mit halbstündiger S-Bahn-Verbindung zur pulsierenden Wirtschaftsmetropole. Der reine Zufall hatte ihn hierhin geführt. Er war von einem Spezi mit einer Mail auf das Inserat im lokalen Anzeiger aufmerksam gemacht worden, womit die Wohnung zur Miete ausgeschrieben war. K. war in der Nachbargemeinde groß geworden, wo ihm nur noch ganz wenige Kontakte aus der Schulzeit blieben.

Früh schon hatte es ihn in die Ferne gezogen — England, USA, Mittlerer Osten, Südostasien, Afrika und doch wieder zurück in den deutschsprachigen Raum. Nachdem er für sich in Berlin keine Möglichkeiten mehr gesehen hatte und er überhaupt des ungestümen, unersättlichen, furchtbar anziehenden Molochs überdrüssig geworden war, hatten ihn nostalgische Anwandlungen wieder in die längst verblichene, unwiederbringliche kleine Welt zurückgeführt, deren dick aufgetragener Rechtschaffenheit und unbeugsamem Traditionsbewusstsein er, kaum zwanzig, bei erstbester Gelegenheit zu entwischen suchte.

Wieder zurück in der neuen alten Umgebung, hatte es jedoch nicht lange gedauert, bis er begriffen hatte, dass er — wie damals — ein Fremdkörper, ja geradezu eine Provokation für die nunmehr auf Eleganz und gehobenen Lifestyle bedachte Bevölkerung, bleiben würde.

Immerhin verstand er, den frühmorgendlichen Spaziergängen am See Zuversicht und Lebenskraft für den neuen Tag abzugewinnen. Überdies steigerte während der warmen Jahreszeit der nach Westen ausgerichtete, mit kunterbuntem Gewächs bepflanzte Balkon die Behaglichkeit seines sonst eher nüchtern bestückten Ein-Raum-Appartements.

Sollte es Kafka wieder einmal zu eng werden in der ländlichen Idylle, packte er seine abgeschossene Reisetasche und entfloh für kurze oder auch längere Zeit in die Weite der Großstadt. Nach dem Shutdown ab Mitte März 2020 befürchtete er, nunmehr bis auf Weiteres in der drollig ordentlichen, zugleich erstickenden Gemächlichkeit der Seegemeinde festzustecken.

K. hatte sich kurzfristig für einen weiteren Besuch Vietnams entschlossen, als in China bereits die Zentralregierung über Wuhan den Shutdown verhängt hatte. Er wurde auch nicht abgeschreckt von der Tatsache, dass gerade in den ersten Monaten des Jahres viele Chinesen Vietnams touristische Zentren bevölkerten und somit die Möglichkeit gegeben sein würde, dass er mit dem Virus in Kontakt kommen könnte.

Flo hatte ihn noch bestärkt, das Reisevorhaben keineswegs aufzuschieben. Sein lakonischer Kommentar war: „Lass dich nur nicht abhalten von diesen übertriebenen Schreckensgeschichten. Wenn jetzt nicht fliegst, wer weiß, wie lange es dauern wird, bis sich die nächste Gelegenheit ergibt!“

Florian, oder Flo, war Kafkas einziger Umgang am neuen Wohnort geblieben. Er hatte den hochgewachsenen, aufgrund des energischen Blicks irgendwie befremdlich anmutenden Typ immer wieder beim morgendlichen Marsch am Seeufer entlang angetroffen.

Nach anfänglichem Austausch belangloser Worte bei den Zufallsbegegnungen war man schließlich übereingekommen, dass man sich auch mal abends zu einer länger anhaltenden Plauderei treffen könnte. Es sollte aber noch eine Weile dauern, bis sich zwischen den beiden ein freundschaftlicher Kontakt in vertrauensvollem Einvernehmen entwickelte.

Selbst nach wiederholten gemeinsamen, mit mehr als nur oberflächlichem Ratschen verbrachten Abenden blieb der geheimnisvolle Flo für Kafka ein ungreifbarer, dennoch wohlgelittener Kumpel, dessen felsenfeste Überzeugungen bisweilen als eigensinnig erscheinen mochten — sein umfassendes Wissen und wacher Geist Kafka jedoch immer wieder von neuem beeindruckten.

K. war schon früh zum Schluss gekommen, dass es keinen Zweck hatte, Flo mit direkten Fragen zu durchlöchern wie: „Wo kommst du eigentlich her? Welche Schulen, welche Ausbildung hast denn absolviert? Bist schon weit herumgereist?“

Darauf wäre Flo schlicht nicht eingegangen, indem er Kafkas Neugierde mit Schweigen quittiert oder mit einer Anmerkung aufgewartet hätte ohne jeden Bezug auf das Gefragte.

Somit beschränkte K. sich darauf, Flos spärliche, seine Person betreffende Angaben im Verlauf der langen Gespräche — wie ein vielteiliges Puzzle — allmählich zu einem stimmigen Persönlichkeitsprofil zusammenzusetzen.

In dieser Hinsicht hatte Kafka beruflich ausreichend Erfahrungen gesammelt, als er in freier Mitarbeit für einzelne Printmedien über Persönlichkeiten von sogenannt öffentlichem Interesse aus Politik, Kultur und gelegentlich aus der Wirtschaft Homestorys verfasste. In den vergangenen Jahren waren allerdings die Aufträge spärlicher geworden und schließlich ganz ausgeblieben. Infolge beträchtlichen Rückgangs des Inserateaufkommens beschäftigten die Presseerzeugnisse bedeutend weniger freie Autoren. Zudem war das Honorar für derart Aufträge um die Hälfte geschrumpft.

Kafka hatte sich immer wieder gefragt, womit eigentlich Flo sein Geld verdiente. Es war offensichtlich, allein schon aufgrund seiner etwas aus der Mode geratenen, gleichwohl ordentlichen Klamotten, dass er nicht gerade im Überfluss leben mochte. In seinem Tagesrucksack hatte er stets einen Snack sowie eine kleine Thermosflasche mit Flüssigem dabei.

Es sollte noch eine ganze Weile dauern, bis Kafka von Flo erstmals nach Hause mitgenommen wurde. Er bewohnte ein einfaches Zimmer unter dem Dach mit Dusche und WC auf dem Gang. Eigentlich war es viel eher eine Abstellkammer — behelfsmäßig eingerichtet mit abgenutztem Mobiliar vom Flohmarkt: verzogene Bettstatt, im Vergleich beinahe elegant anmutender Spiegelschrank, außerdem klappriger Tisch mit zwei Stühlen. Zur Einrichtung gehörte auch ein dicht befrachtetes Büchergestell mit Klassikern der deutschen Literatur: Lessing, Hölderlin, Goethe, Schiller, Büchner et cetera — aber auch Weltliteratur wie Dostojewskis „Idiot“, Tolstois „Krieg und Frieden“ — ferner „Hamlet“, „Othello“ und „Macbeth“ von Shakespeare in englischer Sprache.

Aufheiternd in der düsteren Bleibe wirkten allein die vielfarbigen, die vergilbte Tapete kaschierenden Poster — Paris mit dem Eiffelturm, die Tower Bridge in London, das Kolosseum in Rom, die Meerjungfrau von Kopenhagen, dazu Nachtleben im Backpacker Bezirk von Ho Chi Minh City.

Die behelfsmäßige Küche bestand aus dem Wasserbecken, dem vorsintflutlichen Kühlschrank, darauf ein Kochplatten-Rechaud mit Kochtopf und Bratpfanne. Die zum Küchenspind hergerichtete Holzkiste enthielt in chaotischer Ordnung Teller, Tassen, Trinkgläser, Besteck sowie Dosen mit Gewürzen und Zutaten, was man halt so zum Kochen benötigt.

Es war noch vor Covid-19 und Shutdown gewesen, als Kafka von Flo in seine Dachkammer zu Spaghetti an Tomatensoße eingeladen wurde.

Kafka erfuhr an jenem Abend, dass Flo mietfrei wohnte — und er als Gegenleistung dem betagten, gehbehinderten Besitzer des renovationsbedürftigen Fachwerkhauses Besorgungen abnahm und sonst noch bei allerlei Verrichtungen zur Hand ging.

Flo hatte bis vor wenigen Monaten im Baumarkt gearbeitet, Job und Wohnung gekündigt und eigentlich einen Tapetenwechsel vorgehabt — es sich dann doch anders überlegt, als er am Anschlagbrett des Baumarkts eine Notiz entdeckte, womit eine unentgeltliche Wohngelegenheit im Hause eines bejahrten Herrn angeboten wurde.

Während Flo ansonsten wenig von sich preisgab, geizte Kafka keineswegs mit Angaben über Privates und Persönliches. So erfuhr Flo unter anderem, dass K. in der Nachbargemeinde aufwuchs, seine Eltern allerdings aus der Großstadt zugezogen waren. K. erwähnte überdies, dass er sich als Jugendlicher nicht am dörflichen Leben beteiligt, keinem Verein angehört habe. Es sei ihm wie die Befreiung aus dem Arrest vorgekommen, als er endlich in die Stadt aufs Gymnasium wechselte, wo er nach dem Abitur auch das Studium aufnahm.

Zunächst habe er an der Uni ziellos geschnuppert, die unterschiedlichsten Vorlesungen besucht: Soziologie, Psychologie, Philosophie, Kunstgeschichte, Theater- und Literaturwissenschaften. Schließlich sei er bei der Germanistik und Publizistik hängengeblieben.

Schon bald habe er Beiträge für den Stadtanzeiger verfasst, zudem Praktika erst beim Lokalradio — sodann beim Fernsehen absolviert. Nach einem weiteren Volontariat beim nationalen Boulevardblatt habe er schließlich eine Festanstellung erhalten.

Er sei vorerst nicht fest einer bestimmten Redaktion zugeteilt worden. Dank seiner ausgeprägten Spürnase, gepaart mit schmissiger Formulierungsgabe, habe man ihn mit besonderen Reportagen betraut. Zumeist habe es sich dabei um das Nachspüren irgendwelcher Promis aus Politik, Wirtschaft und Showbiz gehandelt, die gerade in einen Skandal verstrickt und deshalb wieder einmal in den Fokus des öffentlichen Interesses gerückt waren.

Nach ein paar Jahren habe ihm selbst das reichliche, regelmäßige Geld den Job nicht mehr versüßen können. Um sich Freiraum für Neues zu verschaffen, habe er nach langem Abwägen seine feste Anstellung geschmissen und sich in den Status des festen freien Mitarbeiters zurückversetzen lassen.

Nachdem er sich aufgrund der Interviews mit Promis einigen Einblick habe verschaffen können in deren Obsessionen und bühnenreife Anwandlungen, sei die Zeit reif gewesen für einen Abstecher in die Theaterwelt. Erst habe er sich den großen staatlichen Häusern als Produktions-, Dramaturgie- und Regieassistent angedient. Zugleich habe er Kontakte geknüpft mit der freien Theaterszene, um sodann an zahlreichen Produktionen mitzuwirken — zumeist als Autor und Dramaturg.

Daneben habe er weiterhin mit Reportagen und Berichten über Großstadtgeschehen, Veranstaltungen und Trends seinen bescheidenen Lebensunterhalt verdient. Nach Jahren des Experimentierens sei er bei der ernüchternden Erkenntnis angelangt, dass er in der kreativen Sackgasse feststeckte.

Folglich habe sich eine umgehende Richtungsänderung aufgedrängt. Ihm sei nichts Gescheiteres eingefallen, als zwecks Neuanfangs wieder in die Gegend zurückzukehren, von wo er einst zur Erkundung der aufregenden, großstädtischen Welt aufgebrochen war.

Kafka erinnerte sich immer wieder an jenen langen Abend, als er mit Flo bei Kräutertee in dessen enger Behausung zusammengesessen hatte. Lange war es ihm gar nicht bewusst, wie er mit seiner Lebensbeichte die Unterhaltung quasi allein bestritt und dass sich sein wortkarges Gegenüber — abgesehen von gelegentlichem Nachfragen sowie von knappen Anmerkungen — darauf beschränkte, ihn mit durchdringendem Blick festzuhalten und seine Darlegungen peinlichst auf den Erkenntnisgehalt hin zu prüfen.

Im Nachhinein erschien Kafka die ausgesprochen einseitige Gestaltung der Unterhaltung beinahe wie ein Bewerbungsgespräch, bei dem der Patron den Redeschwall des Kandidaten nicht unterbricht, um möglichst lebhafter Mitteilungsbereitschaft freien Lauf zu lassen.

Einzig als Kafka sich mit einer Anmerkung auf die Gemeinde bezog, in der sie sich beide — wenn auch aus unterschiedlichen Beweggründen — niedergelassen hatten, setzte Flo zu umfassender Anmerkung an. Und K. war erstaunt darüber, dass sich Flos Beobachtungen betreffend die herausgeputzte Ortschaft am See weitgehend deckten mit seinen eigenen.

Zu Beginn habe er Güllen als künstlich, ja ziemlich kitschig empfunden — wie den für einen schwülstigen Heimatfilm aufbereiteten Schauplatz. In Anlehnung an Dürrenmatts „Besuch der alten Dame“ pflegte Flo fortan von Güllen zu sprechen, wann immer er sich auf die beschauliche Gemeinde bezog, der er eigentlich längst hatte den Rücken kehren wollen und dennoch nicht von ihr loskam.

Die Güllener, allesamt wie aus dem Ei gepellt, seien ihm vorgekommen, spöttelte Flo, als ob sie peinlichst die Regieanweisungen einer Vorabend-Soap wie etwa „Dahoam is Dahoam“ befolgten. Übrigens scheine er, der aus der Reihe tanzende „Zuagroaste“, für die Darsteller der illustren dörflichen Idylle nicht viel mehr zu sein als Luft — einer, der puren Wahrnehmung unwert.

So pflege er — unbeobachtet wie unter einer Tarnkappe — die Plaudereien der Güllener zu belauschen. Auch diese würden sich anhören wie gedankenlos dahergeredete, nach Skript vorgegebene Dialoge einer x-beliebigen überzeichneten Fernsehreklame, die dem Publikum Lifestyle und trendiges Verhalten einzuimpfen trachtet. Zudem die Begehrlichkeit für all die Dinge weckt, die das schale Leben erst lebenswert machen.

Wenngleich er sich bewusst sei, dass Güllen in puncto Bevölkerungsstruktur keinesfalls zu vergleichen sei mit Duisburg-Marxloh, könne er sich dennoch nicht erklären, wie auf derart enger Fläche eine so große Anzahl Boutiquen, Bijouterien, Immobilienmakler und weiteres auf die fette Geldbörse zugeschnittenes Gewerbe ausreichenden Verdienst fänden. Es müsse sich auf diesem besonderen Fleckchen Erde ganz offensichtlich eine erstaunliche Kaufkraft versammeln, hatte Flo noch mit deutlich verächtlichem Unterton gemeint.

Während der infolge Coronavirus verhängten Ausgangsbeschränkung, die Kafka und Flo mit gemeinsamen frühmorgendlichen Märschen erträglicher machten, vertiefte sich der Kontakt zwischen den beiden zusehends. Wenn auch Flo weiterhin nur spärlichen Einblick in seine rein privaten Angelegenheiten gewährte, glaubte K. aufgrund Flos regionaler Sprachfärbung schließen zu können, dass dieser im Osten Deutschlands aufgewachsen war und möglicherweise in Berlin studiert hatte.

Infolge wiederholter Hinweise auf diverse Aktivitäten von Die Linke, Friedrichshain-Kreuzberg, nahm K. zudem an, dass Flo diesem Ortsverband angehört hatte — oder zumindest ein Sympathisant der Linken war.

Im Verlauf späterer Gespräche über die in Bewegung geratene Parteienlandschaft, den Bedeutungsverlust der ehedem großen Volksparteien und über zunehmende Protestwähler oder gar Wahlabstinenz erfuhr K. schließlich, dass Flo früher einmal ein Amt beim Berliner Landesverband der Linken innehatte. Allerdings hatte er dieses nach wenigen Jahren wieder aufgegeben, da sich, wie er mit wegwerfender Handbewegung meinte, zwischen der versteinerten Parteidoktrin und seinen Überzeugungen zunehmend ein unüberwindbarer Graben aufgetan habe.

Mit Ausnahme vereinzelter Personenstimmen zugunsten von aufgeklärten Genossen, die ein für alle Mal von der SED-Vergangenheit mitsamt den totalitaristischen Altlasten endgültig und glaubwürdig Abstand genommen hatten, würde er jedenfalls die Partei nicht mehr wählen.

(…)

Ausschnitt 2 springt in das letzte Viertel des Romans. Der in der DDR aufgewachsene Bauschreiner Flo, der infolge des coronabedingten Lockdowns nicht — wie beabsichtigt — die Weltreise antreten konnte, und der im Westen groß gewordene Kafka, aus dessen beruflicher Neuorientierung in Berlin vorerst nichts geworden ist, leben nunmehr mit der pensionierten Flugbegleiterin Ria in einem renovierungsbedürftigen „Knusperhäuschen“ zusammen. Während des schon mehrere Monate dauernden Zusammenwohnens der drei Persönlichkeiten unterschiedlicher Herkunft und Lebensgeschichte versuchen diese in langen Gesprächen zu ergründen, wie die Welt wohl nach Corona und digitalisierter Transformation, dem Great Reset, aussehen wird. Während Ria trotz der Ungewissheiten zuversichtlich in die Zukunft schaut, sehen Kafka und Flo die Welt von morgen in düsteren Farben. Flo befürchtet mit der digitalen Transformation gar Aldous Huxley‘s „Schöne neue Welt“ in Reichweite. Bei einer Thematik allerdings vertreten die beiden Kumpels Flo und Kafka entgegengesetzte Ansichten, was bisweilen gar zu Missstimmungen führt: fluchtbedingte Migration/Integration.

Aufbruch in die schreckliche „neue Normalität"

Kafka brütete vor sich hin, schließlich murmelte er: „Ich weiß nicht … ich befürchte nur, dass die sogenannte neue Normalität ganz anders aussehen wird als das, was wir uns zurzeit noch zu erhoffen wagen! Selbst wenn einmal der Großteil der Bevölkerung geimpft ist — welche Garantie werden wir schon haben, dass dann die Pandemie mitsamt all den zermürbenden Einschränkungen ein Ende nimmt?“

„Das Durchimpfen wird dauern. Ganz zu schweigen von den Widerständen gegen das neuartige Vakzin. Nicht zuletzt vonseiten des medizinischen Fachpersonals. Bin mir unsicher, ob ich mich je impfen lassen werde. Was wissen wir schon über die Langzeitfolgen? Entsprechende Untersuchungen existieren doch noch gar nicht. Und da wird bereits mit dem Zaunpfahl gedroht: Wenn ihr euch nicht impfen lässt, dann dürft ihr nicht mehr ins Fußballstadion, zum Fitness, ins Restaurant, ins Kino, auch keine Reisen mehr mit Bus und Bahn — und schon gar nicht an Bord eines Flugzeugs. Ist doch ein abgekartetes Spiel!“

„Was willst damit sagen?“, fragte Kafka beinahe vorwurfsvoll. „Glaubst etwa auch, dass mit der Impfung zugleich einen Mikrochip verpasst kriegst — und damit zum ferngesteuerten Cyborg mutierst?“

„Ferngesteuert sind wir doch schon lange — auch ohne Mikrochip-Implantat. Übrigens bin ich überzeugt davon, dass es nicht mehr lange dauert, bis wir uns völlig freiwillig einen Bionic Chip oder ähnliche Technologie implantieren lassen. Daran wird gar kein Weg mehr vorbeiführen, wenn wir nicht zu von Staat und Gesellschaft Ausgestoßenen werden wollen.

Das Chip-Implantat wird uns den Zugang zu alltäglichen Notwendigkeiten und Annehmlichkeiten erst ermöglichen. So sind die Tage des physischen Geldes wie Münzen und Banknoten gezählt. Uns wird eingehämmert, dass der greifbare Zaster abgeschafft gehört — sozusagen zur Bekämpfung der Geldwäsche. Stattdessen werden wir unser jederzeit vom Steueramt einsehbares, digitales Geld auf dem implantierten Chip gespeichert herumtragen. Einkaufen werden wir nur noch mit digitalem Geld können — oder uns Zugang verschaffen zu Transportmitteln, Kino, Kultur- und Sportveranstaltungen.

Auf dem Chip unter der Haut außerdem abgespeichert werden die lebensnotwendigen Datensätze — zivilrechtliche und gesundheitliche Informationen sowie unser lückenlos nachgezeichnetes Bewegungsprofil. Ohne elektronische Verfügbarkeit dieser Daten wird uns jede Existenzberechtigung abgesprochen werden. Und es versteht sich von selbst, dass uns sehr bald das Sozialkreditsystem nach chinesischem Vorbild zum vorbildlichen staatsbürgerlichen Verhalten anspornen wird.

Selbstverständlich werden wir aufgeklärte, mündige Bürgerinnen und Bürger derart hochtechnologische zivilisatorische Errungenschaft enthusiastisch gutheißen. Wie wir bereits davor die Tracking Tools der US-amerikanischen IT-Monopolisten widerstandslos akzeptiert haben.“

„Du glaubst also, dass das als Jahrhundertbedrohung hochgestufte Coronavirus mitsamt den medienvermittelten Schreckensszenarien perfekten Steigbügelhalter darstellt für den absolutistischen Quantensprung!“

„Aber das ist lange noch nicht alles!“, triumphierte Flo geradezu. „Es werden immer wieder neue, für die Menschheit bedrohliche Viren auftauchen. Folglich werden die Shutdowns von den fürsorglichen Regierungen in immer kürzeren Abständen verhängt, bis wir und unsere Zivilgesellschaft eines Tages vollumfänglich stillgelegt sein werden durch einen einzigen, ewig andauernden Lockdown. Bis dahin werden wir uns längst abgefunden haben mit der über uns unumschränkt herrschenden Führungselite. Die einst gekannten, freiheitlichen Grundrechte werden nur noch eine Fußnote der Geschichte sein.

Du wirst sehen: Wir Lemminge werden die über uns verhängte Dauerquarantäne widerspruchslos schlucken — ja das Wegsperren uns aller in unbefristete Schutzhaft als umsichtige Fürsorge geradezu beklatschen. Das autokratische Regime des nach Konzernstruktur organisierten, illiberalen Staatswesens wird somit zu verhindern wissen, dass sich unverbesserliche Elemente in der Öffentlichkeit zusammenrotten und dem noch nicht vollends ausgemerzten Demokratievirus erneut zum Durchbruch verhelfen.“

„Das ist aber nicht dein Ernst?“, fuhr Kafka aufgebracht dazwischen. „Jetzt galoppiert aber endgültig die Fantasie mit dir durch.“

„Das glaubst du“, fuhr Flo in spöttischem Ton fort. „Du sprichst doch ständig davon, dass sich die gewählten Volksvertreter bisweilen an ureigenen Interessen und Bedürfnissen orientieren. Überdies nehmen allmächtige globale Konzerne demokratische Staaten beziehungsweise deren Regierungen regelrecht in Geiselhaft.

Ganz besonders gewisse Magier der Finanzwirtschaft verstehen sich vorzüglich auf faule Drehs. Wie lief das schon wieder beim EU-Beitritt Griechenlands? Da hatte doch Goldman Sachs die Staatsverschuldung des Beitrittskandidaten geschönt, um damit die Aufnahmekriterien zu erfüllen.“

In diesem Zusammenhang musste Kafka unweigerlich an die diversen Hilfspakete denken, die von der Troika — bestehend aus der Europäischen Zentralbank, dem Internationalen Währungsfonds und der Europäischen Union — aufgegleist worden waren, um dem hoffnungslos überschuldeten Griechenland den Staatsbankrott zu ersparen.

Es ging allerdings nicht zuletzt darum, internationale Finanzinstitute vor gigantischen Abschreibern zu bewahren, die dem nunmehr zur Europäischen Gemeinschaft gehörenden griechischen Staat äußerst freimütig Kredite eingeräumt hatten. Dies ohne seriöse Prüfung, ob damit nicht etwa die Tragfähigkeit des Schuldners überstrapaziert würde.

Die im Februar 2013 gegründete Alternative für Deutschland (AfD) war auf die Kritik an der damaligen Europolitik zurückzuführen, das heißt, auf den Rettungsschirm, an dem sich Deutschland mit mehreren Milliarden beteiligte.

Mit der beträchtlichen Fluchtwanderung von 2015 in die EU — während Monaten waren die Grenzen der BRD für Asylsuchende schrankenlos geöffnet – verlagerte sich jedoch der Fokus der jungen, rechtsnationalen Partei erheblich. Fortan setzte sich die AfD schwerpunktmäßig ein für kontrollierte und beschränkte Zuwanderung.

Wenn Kafka auch die Auseinandersetzung mit Flo keineswegs scheute über Ansichten, die sie nicht vollumfänglich teilten, ging er — so gut es eben ging — Debatten aus dem Weg, die sich um Asylpolitik und die Herausforderungen der Integration drehten.

Kafka war sich der Tücken hinsichtlich der Eingliederung von Zugewanderten aus erheblich unterschiedlichen Kulturkreisen durchaus bewusst. Dies aufgrund seiner beim Sprachunterricht für Flüchtlinge gesammelten Erfahrungen. Außerdem war auch er der Ansicht, dass eine Staatsgemeinschaft beziehungsweise eine Aufnahmegesellschaft nicht eine unbegrenzte Anzahl von Migranten willkommen heißen und zugleich ausreichende Unterstützung bei der Integration garantieren kann.

Kafka grenzte sich allerdings deutlich von der Auffassung jener ab, die sich mit Vorurteilen gegen Flüchtlinge insgesamt oder gegen eine bestimmte Ethnie wandten und mit deftiger Sprache Unwahrheiten verbreiteten, ohne sich an gesicherte Fakten zu halten.

Demgegenüber stellte er sich ebenso gegen haltlose Einschätzungen jener, die mit Beschönigungen der Problematik nicht im Mindesten gerecht wurden und somit verkannten, welch mühevoller und langwieriger Prozess bisweilen die erfolgreiche berufliche und gesellschaftliche Eingliederung von Menschen mit stark unterschiedlichem kulturellem Code bedeutete.

Flo redete sich jedes Mal geradezu ins Feuer, wenn er auf einen der Fernsehtalks zum Thema der Flüchtlingsproblematik zu sprechen kam. Dazu würden ausschließlich eine liberale Asylpolitik befürwortende Teilnehmende eingeladen, die mit ihren Verlautbarungen keineswegs den Ansichten und Befindlichkeiten der schweigenden Bevölkerungsmehrheit gerecht würden.

Überdies würde durchweg der durchwachsene Erfolg des Integrationsprozesses geschönt. Die Rassismuskeule sei jenen gewiss, die es wagten, Schwierigkeiten bei der gesellschaftlichen Eingliederung zu benennen oder hinzuweisen auf ethnische Konflikte und disziplinarische Verstöße in Aufnahmezentren sowie auf strafrechtliche Vergehen — oder gar auf mitunter gescheiterte Integration mit resultierenden Parallelgesellschaften.

Der freidenkerische Flo stand bedingungslos für den säkularen Staat ein und hielt Religionszugehörigkeit für Privatsache, die in staatlichen Einrichtungen keinerlei Ausdruck finden dürfe. Ebenso seien an öffentlichen Schulen Privilegien und Ausnahmebestimmungen für eine bestimmte Religionszugehörigkeit strikt abzulehnen. Flo glaubte, wachsende Bedrohung auszumachen im zunehmenden Einfluss des politischen Islam, der sich gegen Gleichberechtigung und westliches Geschlechterverständnis richte, den pluralistischen, liberalen Staat ablehne und die Scharia über das Grundgesetz stelle.



Redaktionelle Anmerkung: Die genauen Angaben zum Roman sind hier zu finden, zu bestellen beispielsweise hier oder hier oder (weniger zu empfehlen) hier.