Der Wahnsinn der Normalität
Unter Mitwirkung der Wissenschaft greifen faschistoide Denkmuster und Strukturen Raum, die von den meisten nicht als solche erkannt werden.
Wir leben in einem Ausnahmezustand, der nicht nur zur Regel erklärt, sondern auch immer weiter verschärft wird. Jedenfalls ist das der Eindruck, der sich immer mehr Menschen aufdrängt. Diesen Zustand kennzeichnen einerseits in rascher Folge ausgerufene Gefahren — die Erderwärmung, die „Pandemie“, ein als Feind gemaltes Russland —, andererseits Verhaltenszumutungen, materielle wie auch seelische Verluste, die angesichts solcher Gefahren als Opfer im Namen der Solidarität eingefordert werden. Oft ist in solchen Zusammenhängen von einer „neuen Normalität“ die Rede — was heißt, man habe sich daran zu gewöhnen. Widerspruch, Widerstand gar versetzen einen dagegen ins Lager des inneren Feindes, der angeblich als Agent des äußeren Feindes den diesen solidarisch Bekämpfenden in den Rücken fällt. Dass ein solcher Zustand etwas macht mit dem mentalen Metabolismus einer Gesellschaft, ist kaum zu übersehen. Doch was genau, ist schwer zu fassen.
Während an Versuchen dazu kein Mangel besteht, steht eine begriffliche Klärung aus. Hinzu kommt, dass das eindimensionale Koordinatensystem, das allzu lange dafür beanspruchte, Orientierung zu vermitteln, zunehmend versagt. Dies nicht allein, weil heute vieles als „links“ und „progressiv“ firmiert, was mit linken Positionen nur noch wenig gemein hat, sondern auch, weil manches, was als „rechts“ beziehungsweise „konservativ“ galt, als Teil einer realistischen Weltsicht, ja als Ressource von Widerständigkeit gegen Zumutungen der Zeit zu rehabilitieren ist.
Wie lässt sich die gegenwärtige Stimmung charakterisieren? Wie die Weise des politischen Verkehrs, der Ton in den Medien, die die Politik eher treiben, als sie berichtend und kommentierend zu begleiten? In einigen Ansätzen ist von Totalitarismus die Rede, womit ein Begriff eingeführt wird, der Gemeinsamkeiten disparater politischer und gesellschaftlicher Systeme kennzeichnen soll. Beachtung fand Matthias Desmet mit einem Buch, das schon im Titel die Diagnose Totalitarismus stellt, während Aufsätze Tove Soilands, die das taten (1), weniger beachtet blieben. Soiland spricht von „postideologischem“ Totalitarismus, um hervorzuheben, was dessen aktuelle Variante von denen der Vergangenheit abhebe. Jene sei nicht wie diese beherrscht von charismatischen Führerfiguren, sondern von nüchternen Expertokraten, die „(…) sich auf Fakten (beziehen)“ und „(…) nur eine Überzeugung (haben), und das ist die Lösungsorientiertheit“ (2). Genauer:
„Ideologien sind ihnen, vermeintlich, fremd. Stattdessen konzentrieren sie sich auf Messdaten: Kurven und Kennziffern, die einer Eigenlogik gehorchen, in die nur Fachpersonen Einblick haben und die scheinbar von sich aus zu Handlungsempfehlungen führen. Diesen, egal wie einschneidend sie sind, zu widersprechen wäre irrational. Sie gar als autoritär zu bezeichnen käme einer ‚Delegitimierung‘ des Guten gleich. Das auf Dauer gestellte Notfallregime lässt uns das Autoritäre nicht mehr als solches benennen. Und trotzdem leben wir in einer Welt, in der sich die Schlinge um unseren Hals immer enger zuzuziehen droht.“
Eine gewisse Reserviertheit klingt im „vermeintlich“ an, das der Expertokraten Ferne von Ideologien anzweifeln soll, und im „scheinbar“, das infrage stellen könnte, wie zwingend die Handlungsempfehlungen seien. Doch bleibt unklar, ob Soiland an die Lösungsorientiertheit der Experten, die Eigenlogik von Messdaten, Kurven und Kennziffern, daran glaubt, dass diese zu Handlungsempfehlungen führten. So oder so, die Schlinge um unseren Hals zieht sich nicht trotzdem zu, sondern deshalb, nämlich in der Folge dieser angeblichen Sachlogik. Was jene Formulierung verfehlt, ist die Quelle des artikulierten Zwangs: die Symbiose von institutionalisierter Wissenschaft, Industrie, Medien und Politik, die beiseiteschiebt, was im normativen Verständnis die Aufgabe von Wissenschaft wie auch von Medien sein sollte und beide, wie auch die Politik, der Notwendigkeit einer Berührung mit der Realität zu entheben scheint.
Wissenschaft führt viele Leben. Schon die Idee einer vorurteilslosen Suche nach Wahrheit lässt offen, um welche Fragen es dabei gehen soll — eine Lücke, in die sich die Agenda machtvoller Akteure drängt, und dies umso mehr, sobald sich weitere Fragen stellen wie die, woher die Mittel für die Forschung kommen sollen, wovon Forscher leben, wie sie vorankommen können. Doch schon vor jeder Rücksicht auf solche Faktoren prägen Weltbilder und Problemwahrnehmungen nicht nur das Bild der Gesellschaft von der Wissenschaft, sondern auch das der Forscher von ihren Zielen und Methoden, lenken deren Bemühungen. In Wissenschaft kann man ein Ideal sehen, doch ist sie institutionalisierte gesellschaftliche Praxis und, nicht zuletzt, prägt ein medial konstruiertes Bild von ihr das gesellschaftliche Bewusstsein — auch das der Wissenschaftler.
Wissenschaft gerät unter den Druck der Erwartungen von Politik auf legitimierende Handreichungen und den Einfluss der Verlockungen, die von den damit verbundenen Gratifikationen ausgehen.
Die Protokolle des Krisenstabs des Robert Koch-Instituts (RKI) dokumentieren die Kapitulation der Wissenschaft vor einer Politik, die ihr Ansehen, ihre Autorität stiehlt, um sie zu ihren Zwecken zu gebrauchen. Doch wo war die aufklärende Wissenschaft, ohne die gesellschaftlicher Rückschritt droht? Wo die Wissenschaft, die erklärt hätte, dass keine Impfung ein respiratorisches Virus mit einer so hohen Evolutionsrate wie das SARS-CoV-2 besiegen kann, dass die Verbreitung von neuen, meist infektiöseren, doch zugleich auch harmloseren Varianten, die Impfungen unwirksam machen, kein Zufall, sondern eine Naturnotwendigkeit ist?
Dass die durch die Medien verbreiteten Zahlen einer wissenschaftlichen Grundlage entbehrten? Dass jenes Virus kein Killer ist, sondern für mehr als 99 Prozent der Bevölkerung keine Bedrohung darstellt? Dass der beste Schutz dagegen in einer angemessenen Lebensweise und ein wenig Nahrungsergänzung besteht? Vor den Forderungen einer aufklärenden Wissenschaft versagte die institutionalisierte, die unfähig war, die Erkrankung weiter Teile des politischen und medialen Personals am „Münchhausen by Proxy“-Syndrom zu diagnostizieren und anzuzeigen (3). Deren Aufgabe erfüllt haben nur Außenseiter.
Macht das schon deutlich, wie Wissenschaft mit dem Status einer weisungsabhängigen Behörde in einen Konflikt geraten kann, der stillschweigend zugunsten der staatlichen Autorität entschieden wird, so wird aus dem Verhalten von Wissenschaftlern, die keinem Zwang unterlagen, deutlich, dass dem Drang nach Gratifikationen – wie der, als Berater in der Öffentlichkeit zu stehen – kaum zu widerstehen ist. Mehr als Materielles scheint der Drang zu narzisstischer Bestätigung zu motivieren. Doch wie kann es geschehen, dass „unabhängige“ Wissenschaftler, die eine medizinisch sinnlose und möglicherweise schädliche Impfung empfehlen, sich in einer „Druckblase“ wähnen, weil sie annehmen:
„Hätten wir aber die Empfehlung für Über-Fünfjährige nicht abgegeben, dann hätten wir eine Diskussion führen müssen, mit der wir uns selbst ins gesellschaftliche Abseits gestellt hätten?“ (4)
Das ist die Wissenschaft, die eine Tradition der Aufklärung und den Mut ihrer Heroen in Anspruch nimmt, doch ihr Ansehen demoliert. Das mag man für normal halten, doch deutet vieles darauf hin, dass dies einen Grad erreicht hat, an dem die Grenze zur Zerstörung der menschlichen Physis und Psyche, der Gefährdung des Lebens wie auch des Überlebens einer Gesellschaft überschritten ist.
Das deutete sich schon länger an, in den Angriffen auf die deutsche Sprache und der auf die Erzeugung von Panik ausgerichteten Behandlung der Erderwärmung, manifestierte sich jedoch mit dem Regime der Biosicherheit in der Sache COVID-19 und einer selbstzerstörerischen Politik im Konflikt um die Ukraine in nicht mehr zu übersehender Weise. Mit all dem ging die Durchsetzung von Ritualen einher, deren Beachtung Folgsamkeit signalisiert, während ihre Verweigerung Devianz anzeigt.
Die Prägung „postideologischer Totalitarismus“ scheint von der Bemühung motiviert zu sein, den Begriff des Faschismus zu vermeiden.
Man glaubt zu wissen, was Faschismus heißt: aufmarschierende Massen, die ein charismatischer Führer durch exaltierte Reden in Begeisterungstaumel versetzt, Polizeiaktionen gegen Ausgegrenzte und Oppositionelle, Lagerhaft oder Schlimmeres für diese. Das ist der grelle Faschismus, historisch bekannt und ikonisch fixiert. Doch gibt es auch einen dumpfen, der bisher kaum erkannt oder gar bebildert ist?
Zu den Rollen des Führers gehört die des Souveräns. Die hängt, Carl Schmitt zufolge, an der Macht, über den Ausnahmezustand zu entscheiden (5). Für Kopfzerbrechen sorgt Schmitts Bemerkung, dass „alle Tendenzen der modernen rechtsstaatlichen Entwicklung (…) dahin (gehen), den Souverän in diesem Sinne zu beseitigen“ (6). Wenn in einem Staat, der sich als moderner Rechtsstaat versteht, der Ausnahmezustand verhängt wurde, stellt sich die Frage, wer das vermochte, umso dringlicher. Dass das, unter Absenz jeglicher Anzeichen der in Anspruch genommenen Notlage oder gar einer wissenschaftlichen Bewertung der Lage, im März 2020 beim stellvertretenden Leiter des RKI oder bei einer Gruppe von Staatssekretären gelegen hätte, muss ein Witz sein. Den Ausnahmezustand im Zeichen des Krieges gegen ein Virus befahl ein verborgener Souverän.
Eine funktionale Bestimmung des Faschismus sieht darin das Vorhaben, eine Gesellschaft zu formieren, das heißt, alle Bestrebungen gleichsinnig zu bündeln und Opposition auszuschalten. Kaum etwas ist dem günstiger als — reale oder fiktive — Bedrohung von außen, zum Beispiel durch ein Virus oder durch feindliche Autokraten. Wer sich querstellt, wird zum inneren Feind, zum Virenversteher, Autokratenverharmloser oder noch Schlimmerem. Voraus geht dem die Störung der Wahrnehmung durch die Trübung von Sinn und Verstand, die Verwirrung von Sprache und Logik. Das macht aus der Welt, aus dem Menschen formbares Material.
Die Ideologie dazu gibt sich progressiv: „Gesellschaften haben kein Ziel, sie lösen Probleme“, behauptet ein als „neues Standardwerk der Kritischen Theorie“ angepriesenes Buch (7). Das klingt harmlos, und ja, Gesellschaften haben kein Ziel. Individuen, organisierte Gruppen und Institutionen haben Ziele, und allein wenn sie solche haben, können sich auch Probleme einstellen, indem eine Inkongruenz von Zielen und Realität erkennbar wird. Problemlösung ohne Ziel ist eine sinnlose Formel. Wer Fortschritt „von der substanziellen Bestimmung des Inhalts des guten Lebens ablösen“ (8) will und glaubt, dass „(…) sich damit die Frage nach dem Kriterium für den Fortschritt zu der Frage, ob diese Bewegung in ihrer Dynamik progressiv oder eben regressiv ist, verschoben (hat)“ (9), hält die Realität für irrelevant, glaubt auf ihre Wahrnehmung, die Bestimmung des eigenen Ortes verzichten und Widerständiges als „regressiv“ abtun zu können. „Du bist nichts, die Bewegung ist alles“, lautet die verdeckte Devise.
Hier wird Kritische Theorie als Philosophie des Maßnahmenstaates erkennbar, dessen Physiognomie sich in der „Pandemie“ abzeichnete und in der Kriegspolitik noch deutlicher wird. Nicht dass es keine vagen Wünsche gäbe — „das Virus besiegen“, „Russland ruinieren“ —; was fehlt, sind vertretbare und operationalisierbare Ziele, deren Erreichung an der Realität messbar wäre, ebenso wie die Prüfung der Schritte auf ihre Wirkungen. Man vermeidet, den Stand der Dinge zu bestimmen. Die Studie, die es erlaubt hätte, die Verbreitung des Virus, dessen Pathogenität und Letalität, die Wirksamkeit der Maßnahmen zu ermitteln, wurde nie in Angriff genommen, so wie keine Bewertung des Zustands des Landes und seiner Position in der Welt stattfindet.
So wie man glaubte, alles zu tun, um das Virus zu besiegen, doch nie wissen wollte, wie verbreitet, wie gefährlich dieses tatsächlich ist und wie wirksam die Maßnahmen sind, möchte man heute „so lange wie notwendig“ die Ukraine unterstützen, ohne sich um die Lage an der Front und im eigenen Land, die Kosten des eingeschlagenen Weges und um Alternativen zu kümmern.
Der Glaube, „progressiv“ — wir werden von der „Fortschrittskoalition“ regiert —, auf jeden Fall auf dem richtigen Kurs zu sein, ist so dominant, dass man es für überflüssig hält, die eigene Position zu überprüfen, sie mit klaren Zielen zu vergleichen. So, ohne Kenntnis der wahren Position und des effektiven Kurses, fuhr die Titanic in den Untergang (10).
Eine Politik, die nur Wünsche kennt, doch weder klare, vertretbare Ziele noch die Messung des Erreichten an solchen, folgt der Devise „Alles scheint möglich“. In dieser Halluzination erkannte Thomas Mann die Signatur des Faschismus (11). Man hätte gern das Virus vernichtet, man möchte gerne „Russland ruinieren“, man tut, was einem in den Sinn kommt, ohne dessen Wirkungen zu bedenken oder gar zu überprüfen, glaubt, dass das irgendwie weiterhelfe.
Von gleichem Ungeist zeugt die Fülle der Sprachregelungen inklusive des magischen Rituals, das Gendergerechtigkeit erzwingen soll, doch Konformität signalisiert. Mit der Sprache zerstören sie die Wohnung und Werkstatt des Intellekts, damit die Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung und zur Auseinandersetzung mit der Welt.
Der angesagte Mindset zeichnet sich durch das Nebeneinander ungehemmter Fantasien und des schmalspurigsten Szientismus aus. Man hält eine Vielzahl von Geschlechtern für ebenso real wie das Faktoid einer Bedrohung der Menschheit durch ein Virus. Beide gehören in eine Welt aus disparaten Versatzstücken (12). Die Doktrin des tödlichen Virus, der zwingend gebotenen Maßnahmen ebenso wie die Genderideologie nehmen einen gespenstischen Charakter an, wenn man sich klarmacht, dass sie perfekte Parallelen zum Lysenkismus der stalinistischen Sowjetunion, zur „deutschen Physik“ und zum Rassenbild des Nationalsozialismus darstellen, zu ihrer Durchsetzung jedoch weder einer Einheitspartei noch eines Führers bedurften. Hier wie dort zeigt sich die „die bemerkenswerte Verachtung für Tatsachen überhaupt“ (13), „diese Attitüde der Flucht aus der Wirklichkeit in die Einbildung“ (14), die Hannah Arendt als Kennzeichen totalitärer Propaganda ansah.
Man schwimmt auf dieser Welle:
„Wir haben gesagt, wir müssen ein Modell finden, um Folgebereitschaft herzustellen, das so ein bisschen wissenschaftsähnlich ist.“ (15)
Dies und anderes zeugt weniger von einer „dauerhaften Erosion des Politischen“ (16), sondern mehr von dessen Maskierung als Wissenschaft.
Auch die Unfähigkeit, solche Maskerade zu durchschauen, genauer: Wissenschaft von ihrer Simulation zu unterscheiden, ist Symptom einer intellektuellen Krise.
Einzusehen ist, dass Wissenschaft selten unisono spricht, höchsten Hypothesen darüber aufstellen kann, was der Fall sei beziehungsweise was unter bestimmten Bedingungen der Fall sein könnte, doch grundsätzlich nicht sagen kann, was zu tun sei.
Das Ego, das sich in Fiktionen spiegelt, doch weder seine Leiblichkeit anzunehmen noch seine Lage wahrzunehmen vermag, wurde von einem szientistischen Faktoid, wird heute von Klimapanik und von Feindbildern überwältigt. Es ertrinkt in Angst — Angst, die fügsam macht, doch überspielt wird, solange die Fiktionen bestehen bleiben, nicht zuletzt die, zur moralischen Mehrheit, zu den Progressiven zu gehören.
Eine Linke und eine Ökobewegung, von denen nichts blieb außer dem „Kampf gegen rechts“, der Ablehnung von „Autoritarismus“, dem Streben, die moralisch höchste, progressivste Position einzunehmen, werden zu treuesten, im Gehorsam vorauseilenden Verbündeten einer Herrschaft, die Verzicht auf Vernunft, Freiheit und Menschlichkeit im Namen von „Solidarität“, doch letztlich mittels Angst durchsetzt, nachdem die Reduktion auf das „nackte biologische Dasein“ (17) ihre Subjekte überwältigt hat.
Sie macht nicht nur mit, sondern setzt sich an die Spitze, in der illusionären Erwartung, damit wäre die Bewegung zum Sozialismus, zur ökologische Wende in Gang gesetzt, die Not jetzt unausweichlich machte. Doch näher liegt der Verdacht, die so errichtete Herrschaft verdiene eher den Namen „dumpfer Faschismus“. Nahe legt dies auch das Auftauchen psychischer Dispositionen, die schon den grellen Faschismus auszeichneten, nicht zuletzt der Verliebtheit in den Opferstatus.
Das hatte sich darin angedeutet, dass Letzterer zum Instrument im Wettbewerb um Aufmerksamkeit geworden war, und steigerte sich in der Zuschreibung des Opferstatus an das westliche Kollektiv: „Wir“ waren Opfer eines bösartigen Virus, der „Coronaleugner“ und der „Ungeimpften“, von Putin, seiner Verführung mittels Erdgas, schließlich seines Angriffs geworden — und nirgendwo sah man eine Spur eigenen Handelns. Gudrun Brockhaus erkannte in diesem Muster ein Merkmal des Nationalsozialismus:
„Rein und schuldlos sind immer die Opfer. So ist das Selbstverständnis als Opfer eine NS-Konstante über die Zeit der Mobilisierung, die Zeit der Herrschaft und die Nachkriegszeit hinweg.“ (18)
Die „geradezu süchtige Suche nach dem Hass der anderen, der die eigene Gemeinschaft gebiert“ (19), ebenfalls Signum des grellen Faschismus, lebt auf.
Kein Zufall ist die zum Kunstgewerbe avancierte Beschwörung von „Hass und Hetze“, die zur Rechtfertigung von Repression gerät. Der imaginierte Hass bestätigt die eigene Wertigkeit: „Wir werden Anfeindungen erleben, (…) weil wir für all das stehen, was Putin und seine deutschen Trolle hassen. (…) Aber wir werden durch diesen Hass nicht schwächer werden, wir werden stärker werden, wir werden an ihr (sic!) wachsen“, so Robert Habeck (20). Er folgt dem Führer, der von den Seinen verlangte, dass „sie (…) die Feindschaft der Gegner mithin nicht zu fürchten, sondern als Voraussetzung zur eigenen Daseinsberechtigung zu empfinden (haben). Sie haben den Hass der Feinde unseres Volkstums und unsrer Weltanschauung und seine Äußerungen nicht zu scheuen, sondern zu ersehnen“ (21).
Doch bleibt die Sucht nach adelndem Hass nicht der einzige Zug, an dem sich eine Kontinuität abzeichnet, die deutlicher wird, wenn man wahrnimmt, dass der grelle Faschismus keinesfalls so rückwärtsgewandt war, wie er heute gemalt wird. Lag die Emphase auf Progressivität im italienischen Faschismus neben der Technik in der Kunst, wo der deutsche antikisierte, so setzte Letzterer in der Biopolitik Akzente. Dort gab es eine Elite, in deren Handeln sich „eine logische Fortsetzung modernster Wissenschaft darstellte, wenn nicht gar deren Kulminationspunkt“ (22).
Teile der Ärzteschaft, die wie keine andere Gruppe in der NSDAP und deren Eliteorganisation SS vertreten war, fungierten als Avantgarde des „hypermodernen Hygienismus“, von dem Soiland redet (23). Die deutsche Rassenhygiene war nicht nur Ausprägung eines Programms, das an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert formuliert worden war und insbesondere durch die Rockefeller Foundation vorangetrieben wurde, sondern galt weltweit als dessen Spitze (24). Erbhygienische Intervention gehörte dazu. Zu seiner Fortsetzung unter nationalsozialistischer Herrschaft mussten Ärzteschaft und medizinische Wissenschaft nicht genötigt werden. Vielmehr sahen sie die Zeit zu seiner Ausweitung und zur staatlichen Umsetzung der erbhygienischen Konzepte gekommen (25).
Ziel war die biopolitische Kontrolle der Gesellschaft. Fritz Lenz, einer der Autoren des 1921 erstmals erschienen, auch ins Englische übersetzten und international als maßgeblich geltenden Werkes zum Thema, stellte schon damals fest, dass „(…) eine fortlaufende medizinalstatistische Registrierung der gesamten Bevölkerung ein dringendes Erfordernis (ist)“ (26). Es ging um den Zugriff auf jedes Individuum. Keine Frage auch, dass „(…) zu fordern (ist), daß die gesamte hygienische Fürsorge unter rassenhygienischem Gesichtspunkte betrieben werde“ (27) und in die Hände von Experten zu legen sei:
„Eine weitsichtige Volksgesundheitspflege ist also ohne angemessene Berücksichtigung der Interessen des ärztlichen Standes gar nicht möglich.“ (28)
Lenz, doch auch seine Koautoren Erwin Baur und Eugen Fischer — Fischer war Gründungsdirektor des 1927 eingerichteten Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik — teilten weder die populären Vorstellungen von „Rassenreinheit“, noch vermochten sie der Ikonografie des blonden, blauäugigen Germanen viel abzugewinnen. Sie hatten differenziertere Vorstellungen von rassischer Wertigkeit und waren — wie ihre Kollegen und große Teile der westlichen Öffentlichkeit — von der Befürchtung getrieben, dass die „weißen“ Nationen ohne eugenische Intervention dem Untergang geweiht seien. Hintergrund war die — den wissenschaftlichen Mainstream bildende — Überzeugung, dass die wesentlichen menschlichen Eigenschaften exklusiv genetisch bestimmt seien.
„Volk“ oder gar „Rasse“ stehen heute, sofern man den Deklarationen folgt, nicht hoch im Kurs. Irritierend sind jedoch die Anzeichen für Versuche, Identitätspolitik biologisch zu fixieren. Beispielhaft dafür die von der israelischen Regierung und ihren Hilfstruppen betriebene Rückentwicklung des Judentums von einer universalistischen Religion zu einem Stammesmythos einschließlich des Anspruchs auf das imaginierte Stammesland, die Konstruktion einer ethnischen Nation unter Ausschluss aller Unpassenden in der Ukraine, die Imagination eines Wertekörpers unter Ausschluss von nur europäisch Aussehenden durch Florence Gaub (29), von tief rechts unten Lokalisierten, einem entbehrlichen und operativ zu entfernenden Blinddarm Zugehörigen durch Sarah Bosetti (30).
Das Bedürfnis nach Höherwertigkeit, das den Narzissmus des Wertewestens umtreibt, verlangt Erfüllung in biophysischer Bildlichkeit. Was bisher nur im „Ersatznationalismus“ blau-gelbe Fahnen schwenkender, „Slawa Ukrajini“ brüllender Zeitgenossen Ausdruck fand (31), wird weitere Bezugspunkte und Ausdrucksformen finden.
Was Fritz Lenz formulierte, war ein Konzept biopolitischer Kontrolle, das den Beifall seiner Standesgenossen fand und immer noch aktuell ist, wenn auch die damaligen Vorstellungen von den relevanten Parametern und den verfügbaren Instrumenten im Vergleich zur Gegenwart gröber waren. Genetik spiele heute in der Diskussion, wie viele meinen, keine Rolle mehr, doch treffender wäre eher zu sagen: noch keine Rolle. Molekularbiologisch fortgeschritten und informatisch aufgerüstet ist sie dabei, die Medizin von Neuem in Besitz zu nehmen (32). Das im Zeichen von COVID-19 geschaffene Regime der Biosicherheit, dessen Ziele darin bestanden, einerseits Wahrnehmung wie Widerständigkeit des leiblichen Selbst zu zerstören, Freiheit und Nähe zu delegitimieren und zu rationieren, andererseits die Abhängigkeit von und die Folgsamkeit gegenüber den Administrationen des Medizinsystems durchzusetzen, ist diesbezüglich anschlussfähig.
Die Einteilung der Klientel in Klassen mit unterschiedlichen Rechten, der Zwang zur Akzeptanz von Verordnungen, die Besetzung der Körper und die Strukturierung des Raums durch administrative Signale wurden bereits eingeübt. An der Revitalisierung des Regimes durch Ausrufung neuer viraler Bedrohungen wird gearbeitet.
Die vom Gründer des Weltwirtschaftsforums (WEF), Klaus Schwab, propagierte Utopie eines aseptischen, biotechnologisch kreierten und biokybernetisch gesteuerten Lebens darf man als Blaupause für eine drohende Zukunft ansehen (33). Zur Kenntnis zu nehmen ist, dass vieles, was zuvor stattgefunden hat, als Vorübung zum Regime der Biosicherheit erscheint: ein System der Sprachkontrolle, das Zäune errichtet, die eine Zone der Sprach- und Gedankenverbrechen ausgrenzen, nimmt die willkürliche Ausdehnung von Begriffen wie Infektion und Erkrankung vorweg, die Signalisierung von Konformität durch gestanzte Formeln die durch Maske und Rituale der Distanzierung und Desinfektion, das Konzept der „Safe Spaces“ das des von „Gefährdern“, das heißt Infektiösen, gereinigten Raumes (34).
Kennzeichnend für den Zustand der Gesellschaft ist die Proliferation von Transsexualität. Diese etabliert nicht nur eine Pseudorealität, die infrage zu stellen bereits als Hassverbrechen gilt, sondern auch eine Klientel in Dauerabhängigkeit vom Medizinsystem, in dem manche von dessen Vertretern das Schema der Zukunft sehen. Unbeantwortet bleibt dabei die Frage, weshalb es chirurgischer und pharmazeutischer Interventionen bedürfte, wenn das Geschlecht eine rein soziale Konstruktion wäre.
Wer, dem Wunsch, das Geschlecht zu ändern, folgend, sich auf eine Behandlung einlässt, wird zum Artefakt und Dauerklienten einer Industrie, die eine Simulation von Wunscherfüllung als Dienstleistung bietet, indem sie eine gegebene Konstitution beschneidet und unterdrückt, während sie höchstens Surrogate dessen zu liefern vermag, was sie verspricht. Das ist profitabel, verletzt jedoch das erste Gebot ärztlichen Handelns, nämlich das, dem Patienten keinen Schaden zuzufügen. Der Transsexuelle wird, wie die Titanic, zur Ikone der Politik: systematische Verleugnung der Realität, begleitet von ebenso verzweifelten wie teuren Versuchen, eine Pseudorealität an ihre Stelle zu setzen.
Da diese Vorgehensweise nur bedingt erfolgreich ist, widrige Umstände und Reaktionen sie infrage stellen, sieht man sich beständig als Opfer und fühlt sich ebenso beständig von Hass verfolgt, aus dem man die Bestätigung der eigenen Vortrefflichkeit bezieht. Das ist das Modell, dem schon der Umgang mit COVID-19 folgte und das die aktuelle Politik im Konflikt um die Ukraine, wie in all den anderen internationalen Konflikten, im Verhalten gegenüber den drängenden Problemen im Inneren wiederholt. Es ist zwar nicht so grell schreiend wie sein historischer Vorläufer, birgt jedoch in einer Welt mit Atomwaffen und fortgeschrittener Biotechnik keine geringeren Gefahren.
Wer sich umschaut, sieht Gefahr genug. Doch während die Signale deutlicher, Warnrufe häufiger werden, stellt man die Musik lauter. In den gehobenen Klassen tanzt man umso ausgelassener dazu.