Der wankende Riese

Die Heraufsetzung des Rentenalters in Russland hat Wladimir Putin viel an Popularität gekostet.

Das, was westliche Medien ihrem Lieblingsfeind Putin gern unterstellen, trifft zum großen Teil nicht zu. Er ist weder so autoritär noch so illiberal, wie vielfach behauptet wird. Die Menschen im Land werfen ihm etwas ganz anderes vor: das Schleifen sozialstaatlicher Standards. Vor allem erwarten die Russen von ihrem Präsidenten Stabilität in ihrem unmittelbaren Lebensumfeld; mit seiner Außenpolitik sind die meisten zufrieden. War es Putins größter Fehler, ökonomisch auf einen neoliberalen Weg zu setzen?

Nach der Erhöhung des Renteneintrittsalters in Russland ist die Popularität von Präsident Putin um 20 Prozent gesunken. Das ergab eine Meinungsumfrage des Lewada-Instituts im November letzten Jahres. Meine Gespräche mit Moskauern bestätigen diesen Trend.

Selbst wenn sich dieser Einbruch irgendwann wieder einrenken sollte, gibt er doch zu denken. Denn er zeigt, dass die russische Gesellschaft von Putin vor allem die Sicherung sozialer Standards erwartet. Auch dass parallel zum Popularitätseinbruch für den russischen Präsidenten die Zahl derjenigen, welche die Auflösung der Sowjetunion bedauern, von 58 auf 66 Prozent gestiegen ist, macht deutlich, wie wichtig den Russen die soziale Frage ist. Denn die Sowjetunion steht für die Russen heute vor allem für sozialen Schutz und Stabilität. Das wird im Westen völlig ignoriert. Dort wird behauptet, Sowjet-Nostalgie hänge vor allem mit imperialen Gefühlen zusammen.

Aus Gesprächen mit Russen weiß ich auch, dass es eine große Unzufriedenheit gibt, weil Russland es unter Putin noch immer nicht geschafft hat, eine breitgefächerte eigene Industrie aufzubauen. Immer noch ist Russland vom Öl- und Gasexport abhängig. Das geringe Wachstum von etwa einem Prozent hat nach Meinung von linken Wirtschaftswissenschaftlern vor allem damit zu tun, dass der Staat die Entwicklung der Industrie nicht genug fördert. Wenn also Beobachter im Westen meinen, Russland leide unter den Sanktionen, ist das nur zum Teil richtig. Die Sanktionen hatten auch ihr Gutes: Sie küssten die russische Landwirtschaft und Nahrungsmittelindustrie wach. Endlich gibt es in Russland ein gutes Käseangebot aus eigener Produktion und beachtliche Wachstumsraten in der Landwirtschaft!

Aber zurück zu Putin. Ja, er ist ein kompetenter Gesprächspartner, jemand der vier Stunden lang Fragen von Journalisten beantworten kann, jemand für den sich die Russen nicht schämen müssen, wie damals für den alkoholabhängigen Jelzin. Doch ist Putin unfehlbar? Gibt es zu seinem derzeitigen Kurs keine Alternative?

Dass Putin persönlich für die Heraufsetzung des Renteneintrittsalters geworben hat, hat viele Russen schockiert, denn solch einen Schritt hatte man nicht von ihm erwartet. Noch 2015 war der Präsident ausdrücklich gegen eine Anhebung des Rentenalters. Was sind die Folgen der Rentenreform? Der Staat muss weniger Geld für Renten ausgeben.

Der Arbeitsmarkt bekommt zusätzliche Arbeitskräfte. Die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt und der Druck auf die Löhne erhöht sich. Für junge Leute wird es nun noch schwieriger, einen guten Arbeitsplatz zu bekommen. In den russischen Familien werden die Großeltern fehlen, die traditionsgemäß auf die Enkelkinder aufpassen, wenn die Eltern nicht zuhause sein können. In Krisenzeiten hat die russische Familie als funktionierender Verband eine wichtige Rolle gespielt. In den 1990er Jahren war die Rente der Großeltern oft die einzige Geldquelle einer Familie. Dieses Sicherheitspolster fällt jetzt weg.

Immer wieder treffe ich in Russland Menschen, die sagen: „Mit der Außenpolitik von Putin bin ich sehr einverstanden, mit der Innenpolitik aber überhaupt nicht.“ Wenn ich dann nachfrage, höre ich meist, dass sie mit den Reformen der Regierung nicht einverstanden sind und sich mehr soziale Gerechtigkeit wünschen. Dass jetzt wegen der westlichen Sanktionen die Mehrwertsteuer erhöht wird und Unternehmen vom Staat Ausgleichszahlungen bekommen, entspricht nicht dem Gerechtigkeitsgefühl der Russen.

Im Westen wird behauptet, Putin sei ein autoritärer Herrscher. Er habe alle Liberalen aus der Regierung geworfen. So eine Behauptung passt gut ins Feindbild, doch es entspricht nicht den Tatsachen. Bis auf die Minister für Äußeres, Inneres und Verteidigung besteht die russische Regierung vorwiegend aus Liberalen. Liberale sitzen auch in anderen hohen staatlichen Positionen.

Anatoli Tschubais, der Anfang der 1990er Jahre die russischen Staatsbetriebe privatisierte, leitet heute den Staatskonzern Rosnano. Aleksej Kudrin, der wie Tschubais in den 1990er Jahren zu den jungen liberalen Reformern gehörte, war von 2000 bis 2011 — also unter Putin — russischer Finanzminister und ist jetzt Chef des Rechnungshofes. Und immer wieder bekommt er in Talk-Shows Redezeit, wo er dann weitere neoliberale Reformen fordert.

Seit über zehn Jahren setzt die russische Regierung neoliberale Reformen um. Hauptziel ist der effektive Einsatz staatlicher Finanzmittel. Und was sind die Folgen dieser „Reformen“? Ich habe mich umgesehen. Im Dorf Ermakowo, nordöstlich von Moskau, wurde die Ambulanz geschlossen. Schwangere müssen zur Geburt in die Gebietshauptstadt Rybinsk fahren.

Viel Geld wird in Spitzenforschung gesteckt. Doch die Professoren in Universitäten und Forschungseinrichtungen klagen, dass die Schüler aus den Abgangsklassen immer schlechtere Leistungen bringen und noch nicht mal die Rechtschreibung beherrschen.

Die breit angelegte Bildung an den Schulen, die es seit Sowjetzeiten gab, wurde ausgedünnt. Die Abschlussprüfung wird nach amerikanischem Vorbild mit dem Multiple-Choice-Fragebogen durchgeführt. Dass die Qualität der Ausbildung an den Schulen sinkt, ist schon allgemein bekannt. An Schulen wurden kostenlose Spielkreise gestrichen, die Schulküchen geschlossen. Das Mittagessen kommt jetzt vom Zulieferer.

Die Warteschlangen beim Arzt werden online organisiert. Die Qualität der ärztlichen Versorgung steigt nicht, denn die Ärzte verdienen immer noch wenig. Für Operationen erwarten sie vom Patienten ein Geschenk, zum Beispiel einen Briefumschlag mit Geld. Die Moskauer Innenstadt ist voller teurer Privatkliniken, die sich einfache Bürger nicht leisten können.

Die Russen schätzten an Putin, dass er das Land stabilisiert und die Wirtschaft wieder in Gang gebracht hat. Wegen der Wirtschaftsstabilisierung und des hohen Ölpreises konnten sich die Menschen in den 2000er Jahren Urlaubsreisen ins Ausland leisten, ein gutes Auto anschaffen und sogar eine Wohnung kaufen. Doch nach wirtschaftlichen Einbrüchen 2009 und 2015 liegt das Wachstum nun bei nur einem Prozent und überall werden Stellen gekürzt und Zulagen gestrichen.

Hoffnung auf eine baldige Besserung gibt es nicht. Die Rentenreform, die Erhöhung der Mehrwertsteuer und die Einführung einer neuen Steuer für Freiberufler erweckt bei vielen Russen den Eindruck, dass nur die kleinen Leute und nicht die Oligarchen und Großunternehmer zur Kasse gebeten werden.

Nein, ich werde mich nicht an der Verteufelung von Putin beteiligen, wie sie von den westlichen Medien betrieben wird. Ich freue mich, dass Russland die Menschen in der Ostukraine finanziell unterstützt. Ich freue mich, dass mit Russlands Hilfe der IS fast besiegt wurde und ich verurteile den Truppenaufmarsch der NATO vor Russlands Grenze und die geplante Stationierung neuer amerikanischer Raketen in Europa.

Aber ich meine, es reicht nicht aus, Russland gegen die ständigen Übertreibungen und die kriegstreiberische Hetze zu verteidigen. Eine gute Partnerschaft muss auch Kritik vertragen können. Blinde Freundschaft hilft niemandem. Und keine Politik ist alternativlos, kein Politiker unersetzbar.


Quellen und Anmerkungen:

Weitere Texte des Autors zur Sozial- und Bildungspolitik in Russland finden Sie hier: https://ulrich-heyden.de/rubric/soziales