Der Willkürakt

Ecuador hat einen schwedischen Bekannten Julian Assanges aus fadenscheinigen Gründen verhaftet.

Vor nunmehr drei Wochen wurde der schwedische Internetaktivist und Software-Experte Ola Bini in Ecuador verhaftet — angeblich wegen Spionage. Seine Verteidiger und Menschenrechtsorganisationen reden von politischer Verfolgung. Klar ist: Die Umstände seiner Verhaftung sind mehr als dubios, seine Haftbedingungen katastrophal. Völlig unklar ist dagegen, was wird ihm vorgeworfen und wann kommt er wieder frei?

von Romano Paganini

Vor gut zwei Wochen hatte Ola Bini Japan im Kopf: Japan und Bujinkan, eine Organisation, die sich aus neun Kampfkunstschulen zusammensetzt und deren Geheimnis unter anderem darin besteht, die Grundlagen des inneren Friedens kennenzulernen. Seit Wochen schon hatte der in Ecuador wohnhafte Schwede die Reise nach Asien geplant, ja sie sogar auf Twitter angekündigt. Doch daraus sollte nichts werden. Ola Bini trug den schwedischen Pass und seine Boardingkarte bereits in der Hand, als er kurz vor Besteigen des Flugzeugs am Flughafen Mariscal Sucre in Quito von der Polizei festgenommen wurde — nur wenige Stunden nach der Verhaftung von Wikileaks-Gründer Julian Assange in London. Warum, weiss er bis heute nicht.

Jetzt sitzt der 36-Jährige auf dem kalten Boden des Gefängnisses El Inca im Norden der Hauptstadt, einer der berüchtigsten Anstalten des Landes, lehnt sich an die Tür und liest im Buch „Die Liebe in den Zeiten der Cholera“ von Gabriel Garcia Marquez. Auch existenzielle Fragen tauchen auf. „Was ist das Wichtigste im Leben“, schreibt er etwa in einem Brief, der am Freitag von Freunden über Twitter veröffentlicht wurde. „Tust du das? Und wenn nicht, warum nicht?“ Die Glühbirnen an der Decke wurden rausgeschraubt, und der einzige Ort mit Licht ist der Eingangsbereich seiner Zelle. Nur dort sieht Ola Bini, was er liest und schreibt. „Vielleicht werde ich als Märtyrer, der von der Regierung Ecuadors entführt wurde, dazu dienen, Diskussionen anzuregen, Aufmerksamkeit zu erregen und neue Formen des Kampfes zu eröffnen. Vielleicht dient meine Haft dazu, einige Menschen aufzuwecken.“

Besorgt um Assanges Gesundheit

Ola Bini, Anfang der 1980er Jahre in Göteborg geboren, lebt seit 2013 in Ecuador. Der Software-Entwickler und Internetaktivist hatte jahrelang für die US-Technologie-Firma Thoughtworks gearbeitet, bevor er vor einem Jahr die Non-Profit-Organisation Centro de Autonomia Digital (Zentrum für digitale Autonomie) in Quito mitgründete. „Wir glauben, dass die Privatsphäre ein Menschenrecht ist, das respektiert werden muss“, heisst es auf deren Homepage. „Daher arbeiten wir daran, dass dieses Menschenrecht in der digitalen Welt durchgesetzt werden kann.“

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Ola Bini nun genau diese Prinzipien verletzt haben soll. Das ecuadorianische Innenministerium bringt den Schweden nämlich mit Wikileaks in Verbindung und verdächtigt ihn der Spionage. Tatsächlich ist Ola Bini ein Freund von Wikileaks-Gründer Julian Assange und hat diesen mehrmals in der ecuadorianischen Botschaft in London besucht. Doch sowohl sein Anwalt als auch die Eltern Binis versichern, dass er nichts mit Wikileaks zu tun habe. „Er war zuletzt besorgt über die Gesundheit Assanges“, sagt Vater Dag Gustafsson im Gespräch.

Kontaktschuld

Doch offenbar reicht eine Freundschaft zu Wikileaks-VertreterInnen, um ins Visier der Geheimdienste zu geraten. Das Problem bestehe darin, sagt Binis Anwalt José Charry Dávalos, Julian Assange ausschliesslich mit Wikileaks in Verbindung zu bringen. „Als ob der Mann in seinem Leben nichts anders getan hätte und als Mensch nichts anderes bedeutet, als Wikileaks gegründet zu haben.“

Da darf die Öffentlichkeit durchaus mit abenteuerlichen Geschichten bedient werden. Im Falle von Bini ist von der „Destabilisierung des ecuadorianischen Staates“ die Rede, die in Absprache mit der Vorgängerregierung geschehen sein soll. Es geht unter anderem um Ricardo Patiño, ehemaliger Minister unter Präsident Rafael Correa (2007-2017) und hartnäckiger Kritiker der aktuellen Regierung Lenin Morenos. Patiño, der Assange mehrmals in London besucht hatte, und Bini hätten sich mehrmals auf den gleichen Flügen befunden, heisst es vom Innenministerium. Zufall? Bini sagt, er kenne Patiño nicht. Patiño sagt, er könne sich nicht erinnern, Bini je kennengelernt zu haben.

Dazu muss erwähnt werden, dass sich Präsident Lenin Moreno und sein Amtsvorgänger Rafael Correa schon vor Monaten zerstritten haben, obwohl sie politische Weggefährten waren. Gegen Ex-Präsident Correa war im Juli 2018 gar ein Haftbefehl wegen versuchter Entführung erlassen worden; auch deshalb lebt er derzeit in Belgien, der Heimat seiner Frau. Als vor zehn Tagen wegen „Aufhetzung“ auch ein Haftbefehl gegen Ex-Minister Ricardo Patiño ausgestellt wurde, hat sich dieser über Peru nach Mexiko abgesetzt.

Fotos aus dem Familienarchiv

Die Hintergründe zu Binis Verhaftung sind also alles andere als klar — auch weil bisher keine handfesten Beweise vorgebracht wurden. Klar ist hingegen, dass der ecuadorianische Staat sowohl die Rechte des Schweden als auch jene von Julian Assange missachtet hat.

Im Falle des Wikileaks-Gründers, dem vor anderthalb Jahren die ecuadorianische Staatsbürgerschaft zugesprochen wurde, geht es um das Recht auf Nationalität, Asyl, dem Grundsatz der Nichtzurückweisung und die Garantie für ein ordnungsgemässes Verfahren.

Inwiefern dessen Auslieferung an die britischen Behörden mit den Aktivitäten von Wikileaks zusammenhängt, bleibt vorläufig Spekulation. Die Plattform hatte nur wenige Wochen zuvor die Familie Moreno unter die Lupe genommen und unter anderem publik gemacht, dass der Bruder des aktuellen Präsidenten 2012 im Steuerparadies Belize eine Offshore-Firma gegründet hatte. Ausserdem veröffentlichte Wikileaks Fotos, die Moreno beim Frühstück im Bett eines Luxushotels zeigten — Fotos, die offenbar aus dem Privatarchiv der Familie stammen.

Dubioses Vorgehen der Polizei

Auch im Fall von Ola Bini haben die Behörden rechtswidrig gehandelt, wie seine Anwälte José Charry Dávalos und Carlos Soria berichten. Noch am Flughafen in Quito wurde der Programmierer stundenlang festgehalten, offenbar in den Büros von Interpol. Dann ging's mitten in der Nacht zu seiner Wohnung, wo die Polizei ohne richterlichen Beschluss mehrere Computer, Festplatten, SIM-Karten, USB-Sticks und Bücher beschlagnahmte. Bini, der inzwischen mit Handschellen gefesselt war, musste unten im Auto warten. Und noch bevor seine Verhaftung der schwedischen Botschaft in Bogotá gemeldet wurde oder er mit einem Rechtsvertreter hätte sprechen können — so wie es das Gesetz vorsähe — wurde er in den Morgenstunden an einen Ort gebracht, von dem auch seine Anwälte bis heute nicht sagen können, wo es war.

„Klar ist jedenfalls, dass es keinen Grund gegeben hat, Bini nicht direkt auf den Polizeiposten zu bringen.“ Stattdessen musste er weitere Stunden ausharren: alleine, ohne Essen und Trinken. Dafür sah er nun im Fernsehen sein Gesicht und las das Wort hackeo. Bini, der nur wenig Spanisch spricht und dem seine Rechte bis zu diesem Zeitpunkt weder in Englisch noch auf Schwedisch vorgelesen wurden, hatte nun einen ersten Anhaltspunkt, warum er nicht ins Flugzeug nach Japan gelassen wurde. Erst 32 Stunden nach seiner Festnahme am Flughafen wurde er dem Haftrichter vorgeführt.

In den Tagen danach liess Bini ausrichten, dass auf Grund der Bücher, die er lese, und Technologien, die er nutze, eine Anklage konstruiert worden sei. „Die Mächtigen dieser Welt führen einen Kampf gegen das freie Wissen (...) Das können wir nicht zulassen.“
„Diese Welt wird uns immer mehr einengen, bis wir keinen Freiraum mehr haben. (...) Wir müssen diese Entwicklung stoppen, bevor es zu spät ist.“ — Ola Bini in einem Brief vom 18. April 2019

In seinem Schreiben, das von Freunden und Weggefährten rund um die Welt in acht Sprachen übersetzt wurde, bezieht sich Bini auch auf George Orwells Roman „1984“ und dessen Ausführungen zu den Gedankenverbrechen. Darin ist von einer verdeckt arbeitenden Polizei die Rede, deren Aufgabe darin besteht, Menschen zu entdecken und zu bestrafen, die in ihren Gedanken ein Verbrechen begehen — ohne dieses dann auch wirklich auszuführen. „Diese Welt“, schreibt Bini, „wird uns immer mehr einengen, bis wir keinen Freiraum mehr haben.“ Wenn Ecuador mit seinen Anschuldigungen durchkäme, würden das auch andere Staaten machen. „Wir müssen diese Entwicklung stoppen, bevor es zu spät ist.“

Rückhalt bekommt der Schwede von seinen Anwälten. José Charry etwa erklärt, dass es im Fall Binis nicht um eine konkrete Attacke gehe, sondern lediglich um den vereinfachten Zugang, die Produktion und Verbreitung von Software, die einen solchen Angriff auf Computersysteme möglich machen könnten. „Juristisch ist es unmöglich, dass Ola verurteilt wird. Denn wir wissen bis heute nicht, was er wie und wo getan haben soll.“

Software-Experte für die EU

Inzwischen haben sich Dutzende Nichtregierungsorganisationen, MenschenrechtsaktivistInnen und Arbeitgeber Binis zu Wort gemeldet. So schreibt die Organisation Article 19 aus London — deren Name sich auf die Allgemeine Erklärung für Menschenrechte bezieht — auf Anfrage, dass die Verhaftung Binis mit den Bemühungen der Behörden der jeweiligen Länder zur Kontrolle des Internets und der Online-Aktivitäten zusammenhänge. Dies habe nicht nur eine abschreckende Wirkung auf all jene, die ihr Recht auf freie Meinungsäusserung ausübten. „Es verstärkt auch die Angst unter Aktivisten und Innovatoren von Internet-Technologie in Bezug auf die für sie festgelegten Grenzen und der Gefahren, denen sie ausgesetzt sein könnten.“

Ola Bini ist als Software-Entwickler weltweit anerkannt und gilt als einer der besten seines Fachs. Er ist Teil einer Beratungsgruppe der Europäischen Union in Bezug auf Sicherheit im Internet und wurde von den Verantwortlichen der Programmiersprache Java in ihre „Helden-Liste“ aufgenommen. „Es liegt an aufrechten Menschen wie Ola Bini, dass Journalisten und Einzelpersonen auf der ganzen Welt Vertrauen in Technologien haben, mit denen sie Fehlverhalten und Korruption aufdecken“, schreibt Article 19. Die Organisation zeigt sich besorgt über das Vorgehen der ecuadorianischen Behörden und deutet es als Teil einer Strategie gegen die community der Softwareentwickler, die die Freiheiten des Internets und eine sichere Online-Kommunikation ermöglichen.

Sollte Ola Bini wegen Angriff auf staatliche Informatiksysteme verurteilt werden, drohen ihm drei bis fünf Jahre Gefängnis.

Ecuador schweigt bislang

Der ecuadorianische Staat hat sich inhaltlich bis heute nicht weiter zur Verhaftung Binis geäussert. Und auch die schwedischen Behörden taten sich schwer, Stellung zu beziehen. Dag Gustaffson, der Vater von Bini, hatte zwar nur einen Tag nach dessen Verhaftung beim Aussenministerium nachgefragt, allerdings ohne Erfolg. Er verstehe die diplomatischen Mechanismen, sagt Gustaffson, „doch als schwedischer Staatsbürger hatte ich auf mehr Kontakte und Informationen gehofft“.

Erst als die Eltern eine Woche darauf von Ecuador aus in einem Brief auf die zahlreichen Rechtsverstösse hinwiesen und diese auch in den schwedischen Medien publiziert wurden, kam Bewegung in die Sache. Kurz darauf wurde der ecuadorianische Botschafter in Stockholm ins Aussenministerium berufen. Man wolle detaillierte Informationen zur Verhaftung und den Anschuldigungen gegen Bini. Verstärkt wurde der Druck durch ein Schreiben an den schwedischen Ministerpräsidenten Stefan Löfven, unterzeichnet von 130 Persönlichkeiten, darunter Brian Eno, Danny Glover, Yanis Varoufakis, Pamela Anderson, Leonardo Boff und Noam Chomsky. Schweden sei bekannt für seine aktive Verteidigung der Menschenrechte und der freien Meinungsäusserung, schreiben sie. „Da Binis Verhaftung politisch begründet scheint, möchten wir die Regierung bitten, die Sache auf eine politische Ebene zu bringen.“

Politisch oder nicht: Ola Bini wird mindestens bis zum 2. Mai im Gefängnis bleiben. Dann findet die Berufungsverhandlung am Provinzgericht statt. Allerdings sind seine Anwälte zuversichtlich, dass es zu keiner Verurteilung wegen Angriffs auf staatliche Informatiksysteme kommt und er schon bald aus El Inca entlassen werden kann. Denn von den vier Voraussetzungen für einen weiteren Gefängnisaufenthalt sei nur eine gegeben. „Das wichtigste fehlt bis heute“, sagt José Charry: ein konkreter Vorwurf.

Die für ihn so wichtige Privatsphäre fehlt Ola Bini im Moment. Seine knapp acht Quadratmeter grosse Zelle teilt er mit acht anderen Insassen, und im einzigen Bett des Raumes schläft er höchstens einmal pro Woche; ansonsten sitzt er wie die Anderen auf dem mit Karton ausgestatteten Betonboden. Platz zum Hinlegen gibt es keinen.

Die Toilette teilt er sich mit vierzig anderen Männern, und das Trinkwasser aus der Zysterne erreicht die Insassen schmutzig und nur zu bestimmten Tageszeiten. Er kann täglich ein paar Stunden aus der Zelle, doch der Platz zum Laufen ist enorm beschränkt. In dem Gefängnis, das für 400 Personen gedacht ist, sitzen derzeit 4‘200 ein. Anwalt Carlos Soria, der Bini mehrmals wöchentlich besucht, nennt es „die Hölle auf Erden“, und Kollege Chary sagt, dass dieses Gefängnis selbst starke Personen und ihren Willen brechen würde.

Ohnmacht vor Hunger

Bini, so erzählen seine Anwälte, ist mehrmals von Insassen aus anderen Sektoren bedroht worden. Es gehe um Machtstrukturen unter den Insassen, die von Banden kontrolliert würden und sich darüber streiten, wer wen kontrolliert, beschützt oder erpresst. „Wir sind jedoch bis zu einem gewissen Punkt beruhigt, da sich Bini mit Leuten in einer Zelle befindet, die keine physische Gefahr für ihn darstellen.“ Seine Mitinsassen sind Männer, die zum Beispiel die Alimente an ihre Kinder nicht bezahlt haben.

Das Leben in El Inca hat Bini dennoch zugesetzt, vor allem die Ernährung. Als Vegetarier lebte er während Tagen nur von Reis und Salat. Deshalb sei er auch schon zweimal in Ohnmacht gefallen. Inzwischen haben die Eltern die Erlaubnis, ihm zwei Mal am Tag eine Mahlzeit ins Gefängnis zu bringen.

Ola Bini, der mittlerweile weltweit in den Schlagzeilen steht, nutzte den Rummel um seine Person schon vor Tagen und hatte auf die misslichen Haftbedingungen hingewiesen. „Es braucht dringend eine Gefängnisreform“, schrieb er. „Meine Gedanken gehen an meine Mitgefangenen in Ecuador.“

Privileg bedeutet Verantwortung

Als weisser Mann aus einem der wohlhabendsten Ländern des Planeten weiss er um seine Privilegien — und stellt diese in Frage: „Meiner Meinung nach verdient kein Mensch Privilegien. Ich verfüge trotzdem über sie, was soll ich also tun? (...) Letztlich bedeuten Privilegien für mich Verantwortung.“

Die Antwort auf seine existenziellen Fragen beantwortet er seit Jahren über seine Arbeit: dem Schutz und der Sicherheit der Privatsphäre im Internet. „Denn ohne diese können wir keine Selbstbestimmung entwickeln — und ohne Selbstbestimmung sind wir Sklaven. Deshalb habe ich mein Leben diesem Kampf gewidmet. Denn Überwachung ist eine Bedrohung für uns alle.“


Romano Paganini aus Zürich lebt seit zehn Jahren in Lateinamerika, zuerst in Argentinien, seit 2017 in Ecuador. Von dort betreibt unter anderem die Onlinezeitschrift mutantia.ch, wo dieser Text zuerst erschienen ist.


Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „Eine Verhaftung im Namen der Willkür“.