Die andere Welt

Eine Auswahl unterschiedlicher mutmachender Projekte zeigt, dass und wie wir besser miteinander leben können. Teil 3/3.

Zum Mut machen und Nachmachen stellen sich in drei Teilen einige Aussteiger, Gemeinschaften und Bildungsprojekte vor. Die Autorin, die selbst ein einfaches Leben in der Ukraine lebt, stellte eine bunte Vielfalt praktischer Vorbilder zusammen. Sie möchten inspirieren und zeigen, dass ein Wandel bereits stattfindet und wie er möglich ist. So können auch Sie, liebe Leserinnen und Leser, beschwingt aktiv(er) werden und aus dem herkömmlichen System Schritt für Schritt aussteigen, wenn Sie Lust auf ein Leben außerhalb des Hamsterrades des Neoliberalismus haben.

Es ist die unmittelbare Erfahrung, die ich so sehr liebe; selbst zu entscheiden, was ich lernen will, genau zu wissen, wo mein Essen her kommt, da ich es angebaut, geerntet und zubereitet habe, in direkter Beziehung mit den Tieren zu stehen, welche mich ernähren, deren Wolle mich wärmt, und mich auf tiefe Beziehungen mit Menschen einzulassen, so verletzlich ich dabei auch bin. So fühle ich mich lebendig und frei.

So habe ich auch in diesem dritten Teil (1) weitere wunderbare Blitzlichter als Vorbilder zusammengestellt. Sie sollen Sie inspirieren und zeigen, dass ein Wandel bereits stattfindet und wie er möglich ist. Auch Sie können Schritt für Schritt aussteigen, wenn Sie Lust auf ein anderes Leben haben.

ZEGG ─ ein Zentrum für experimentelle Gesellschaftsgestaltung

Wir sind eine Gemeinschaft von circa 120 Menschen und betreiben ein Bildungszentrum mit diversen Seminaren, Festivals und Events. Die Gründungsimpulse stammen noch aus der Studentenrevolte von 1968. Es gab ein Vorläuferprojekt vom Zegg, das schon Ende der 1970er-Jahre gestartet ist.

Wir organisieren uns, indem wir diverse soziale Gruppen haben und zusätzlich jährlich noch zwei bis drei Intensivzeiten in der Gemeinschaft machen. Außerdem treffen wir uns wöchentlich. Die Menschen wohnen in kleinen Wohngruppen.

Jeder ist für seine/ihre Finanzen selbst verantwortlich. Viele arbeiten im Seminarzentrum, oder bieten eigene Seminare an. Es gibt auch einige Freiberufler, HeilpraktikerInnen et cetera. Wir leben nicht autark. Mit dem Bildungszentrum wäre das auch nur schwer möglich. Inzwischen gibt es einige Hundert alternative Menschen in der Region, mit denen wir vernetzt sind. Interessant wäre, den Begriff autark auf die Region zu beziehen, da würde es langfristig Sinn machen, eine nachhaltige Tauschwirtschaft zu kreieren.

Grundsätzlich können bei uns alle mitmachen, die unsere Einstiegsprozedere durchlaufen. Das kann ein Prozess sein, der bis zu drei Jahre dauern kann. In dieser Zeit wird klar, wer nicht zu uns passt, oder sich von uns ganz andere Vorstellungen gemacht hat.

Ich würde der nächsten „Aus- und Einsteiger“-Generation empfehlen: Macht euch auf die Suche nach der Gemeinschaft, die zu euch passt. Es gibt viele verschiedene Ansätze und ein großes Netzwerk inzwischen.

Allerdings halte ich von dem Begriff des „Aussteigens“ nicht viel. Meiner Meinung nach sollten mehr Menschen einsteigen: in Verantwortung gehen für diesen Planeten.

Dazu gehört, den eigenen Lebensstil unter die Lupe zu nehmen und zu schauen, was daran nachhaltig ist und uns allen dient. Und wenn das dazu führt, irgendwo in den Bergen zu leben dann ist das super, es kann aber auch genauso gut eine Cohousing-Gemeinschaft mitten in der Stadt sein.

Almut Groeger, Heilpraktikerin

ReiseUni ─ ein alternativer und selbstgestalteter Bildungsweg

Ich heiße Falk. Unterstützt beim Schreiben wurde ich von Alicia, Katharina, Jonas und Johannes, die auch Teile des Textes beigesteuert haben. Nach meinem Abitur 2018 war ich für ein Jahr als Freiwilliger in Mexiko und musste ich mich nach meiner Rückkehr im August 2019 erst mal neu orientieren. Während eines Praktikums im Permakulturpark am Lebensgarten Steyerberg hörte ich von der ReiseUni. Die ReiseUni ist ein alternativer und selbstgestalteter Bildungsweg, der gemeinsam mit vielen anderen Projekten im „Verband freier Bildungsalternativen“ in Deutschland vernetzt ist. Wir sind nicht abhängig von Bildungsinstitutionen, von Scheinen und Vorgaben von „Oben“. Das sorgt aber auch dafür, dass man bei uns keine Scheine erwirbt. Wir gehören eben nicht zum „offiziellen Bildungssystem“, was einige Türen öffnet, andere aber auch verschließt.

Wir verstehen uns als eine Gruppe reisender Menschen, die sich allesamt mit den Themen beschäftigen, die für die sie eine starke intrinsische Motivation haben. Noch sind viele von uns in den Planungen und noch nicht aktiv unterwegs.

Es geht darum, frei von jeder Institution und offiziellen Organisation zu lernen und sich weiterzubilden. Eben nicht nach einem Lehrplan, der vorgegeben wird, sondern frei, so wie wir es für richtig halten. Jede/r stellt sich somit seinen / ihren eigenen Lehrplan zusammen. Einige sind dabei mehr unterwegs, andere weniger. An der Stelle bietet die ReiseUni alle Freiheiten. Themen, die bei uns stark vertreten sind, sind zum Beispiel Persönlichkeitsentwicklung und nachhaltige Strukturen für die Zukunft, die ein gutes Leben für alle garantieren können. Dabei kann es um gesellschaftliche Strukturen wie Ökodörfer et cetera gehen, aber auch um Permakultur oder Ansätze aus anderen Richtungen.

Grundsätzlich kann bei uns Jede/r mitmachen. Wir sind keine feste oder geschlossene Gruppe. Jedes Jahr verändert sich die Gruppe ein wenig. Da alles sehr frei ist, ist jeder willkommen. Meldet euch einfach bei uns! Entweder über unsere ReiseUni-Facebookseite oder bei Johannes, Johannesarens@gmx.de, 0176/31666531 (Telegram, Signal oder Telefon). Aktuell sind wir 9 Menschen für das ReiseSemester 2020.

Gegründet haben wir uns, nachdem Johannes vor sechs Jahren sein Studium der Biologie in Mainz abgeschlossen, viel über die Klimakatastrophe und sterbende Ökosysteme gelernt hat, aber nicht, wie er selber etwas daran ändern kann. Frustriert begab er sich auf eine geldfreie Reise quer durch Deutschland, auf der er viele aktive Menschen und Projekte treffen konnte, die im Kleinen, aber auch im Großen etwas verändern wollten und dies auch umsetzen!

Diese Projekte zu vernetzen und zu lernen, wie diese ganze Bewegung mehr Kraft bekommen kann, war somit Teil seines Lernwegs geworden. Doch allein war es für ihn schwer, den Fokus immer wieder zu halten und eine Gruppe zum Austausch über den eigenen Bildungsweg war der tiefe Wunsch. Die Idee der ReiseUni war geboren!

Im ersten Jahr zu zweit, im zweiten Jahr zu siebt, im Dritten zu zehnt, im Vierten mit fünfzehn Studierende finden sich nun Menschen für den fünften Reisesommer zusammen! Wir tauschen uns regelmäßig aus und schreiben in einer Gruppe wöchentliche Berichte, sodass wir immer mitbekommen, was bei allen gerade so los ist. Dazu videochaten wir einmal wöchentlich und planen dabei, was eben gerade so ansteht. Dadurch halten wir den Kontakt, auch wenn wir uns gerade nicht alle persönlich sehen können. In Zukunft wollen wir auch mit einem Buddy-System arbeiten, sodass jede/r noch eine/n ganz spezielle Ansprechpartner/in hat.

Offizielles Geld haben wir als ReiseUni nicht, obwohl es auch immer wieder Menschen gibt, die uns Geld spenden möchten. Jeder finanziert sich somit ein Stück weit selber den Reisesommer, häufig durch Arbeit in Projekten, vom Ersparten oder durch die Unterstützung der Eltern. Ein Großteil von uns lebt ziemlich minimalistisch und versucht möglichst wenig oder gar kein Geld auszugeben. Viele von uns trampen zum Beispiel oder leben von Foodsharing und Containern.

Ein wichtiger Teil des Austausches ist auch der über Geld, wo wir uns mit Erfahrungen und Möglichkeiten gegenseitig Wege aufzeigen, geldfrei/er zu leben und zu reflektieren, welche Machtstrukturen durch Geld bestehen. Aber wir helfen uns auch gegenseitig, Wege zu finden, auf der Reise unkompliziert etwas zu verdienen oder wie wir uns ganz direkt gegenseitig unterstützen können.

Ich wünsche allen, die aussteigen wollen und ihren eigenen Weg gehen, dass sie sich trauen und einfach das machen, worauf sie Lust haben. Das Wichtigste ist, sich mit Menschen zu verbinden, die ähnlich denken, und sich zu unterstützen.

Grundsätzlich erlebe ich immer wieder Gegenwind und komme in Situationen, in denen ich mich rechtfertigen muss, warum ich nichts „Normales“ mache.

Gerade dann ist es für mich wichtig, dass ich weiß, dass ich nicht alleine bin und viele andere mit mir diesen Traum leben. Jonas Mutmacher dazu:

„Traut euch auszusteigen aus dem veralteten Bildungssystem, und traut euch einzusteigen in vielfältige freie Bildungsalternativen! Traut euch auszusteigen aus eurem Privat-PKW, und traut euch einzusteigen in öffentliche Verkehrsmittel oder per Anhalter in die vielen Autos, in denen nur einer von fünf Sitzplätzen belegt ist! Traut euch auszusteigen, aus dem ‚Ich muss leisten, damit ich sein darf‘, und traut euch einzusteigen in ein selbstbestimmtes Leben, indem DU DEINEM HERZEN FOLGST! Dafür ist es nie zu spät. Jetzt ist der Moment, mit dem kleinsten, dir möglichen Schritt zu beginnen.“

Aussteigen ist immer so ein großes utopisches Wort. Ich weiß gar nicht, ob ich komplett aussteigen möchte. Sicherlich ist das irgendwo eine schöne Vorstellung. Für mich geht es aber auch viel darum, eben mit dem System und den Menschen, die im System leben, im Austausch zu sein. Ich finde es cool, wenn ich Leute zum Nachdenken anregen und durch meinen momentanen Lebensstil zeigen kann, dass es auch anders geht.

Ein Stück weit lebt da auch immer noch die Hoffnung in mir, das System verändern zu können. Vollkommen aussteigen, ist meiner Ansicht nach in Deutschland nur noch sehr schwer möglich. In anderen Teilen der Erde gibt es da sicherlich bessere Voraussetzungen.
Katharinas Gedanken dazu:

„Einsteigen statt aussteigen. Ich glaube nicht, dass es möglich ist, aus dem System einfach auszusteigen wie aus einem Zug. Egal was ich auch tue, ich als weiße Europäerin mit gesundem Körper und Abitur profitiere ununterbrochen von einem System, das andere ausbeutet und diskriminiert. Und ich selbst bin aufgewachsen mit Bildern und Geschichten, die diese Ungleichheit zu legitimieren versuchen und habe sie verinnerlicht. Ich kann nicht aussteigen. Ich kann nur die Augen zu machen oder versuchen, mir eine Insel aufzubauen auf der die Welt ganz anders zu sein scheint.

Aber dass ich das machen kann, ist auch ein Privileg, wegschauen zu dürfen und mich nicht automatisch mit Themen wie Krieg, Hunger, Ausbeutung, Diskriminierung et cetera beschäftigen zu müssen, weil sie mich in meinem alltäglichen Leben nicht betreffen. Aber ich habe keine Lust, mich auf einer kleinen Insel auszuruhen, auf der nur so wenige Platz haben. Und deshalb ist die ReiseUni für mich einsteigen statt aussteigen. Einsteigen in viele verschiedene Themen und gesellschaftliche Zusammenhänge, nicht um eine Prüfung zu bestehen, sondern um sie zu begreifen und nachzubohren bis auf den Grund.

Einsteigen beim Trampen bei vielen verschiedenen Leuten mit den unterschiedlichsten Lebensrealitäten, die mir von ihren Wünschen und Sorgen erzählen. Einsteigen in die Gesellschaft, um Verantwortung zu übernehmen und herauszufinden, wie ich sie mitgestalten kann und möchte. Veränderung kann nur von Innen stattfinden. Das muss nicht heißen, dass man einem linearen, vorgegeben Lebens- und Arbeitsweg folgen muss. Aber es heißt, die Menschen, die mich umgeben nicht auszublenden.

Es kann heißen, zum Experimentieren und Auszuprobieren einzuladen, Dinge nicht als gegeben und selbstverständlich zu betrachten, kleine Irritationen und schöne Momente im Alltag zu schaffen und den Leuten, die dich umgeben, wirklich zuzuhören. Verantwortung zu übernehmen, für die Welt um dich herum und Unrecht nicht stillschweigend hinzunehmen. Und dann entsteht vielleicht etwas Neues. Vielleicht schon jetzt, ohne, dass wir es bemerken. Vielleicht ja bei der ReiseUni und den Menschen, die wir damit bewegen!“

Falk, ReiseUni.

Familienbetrieb in Rumänien ─ mehr Freiheit, Unabhängigkeit und Selbstbestimmung

Vor gut 25 Jahren besuchte ich als 20-Jähriger das erste Mal Rumänien, ein zur damaligen Zeit für viele Menschen in Westdeutschland noch unbekanntes Land. Aufgewachsen im katholisch konservativen Niederbayern war alles östlich der tschechischen Grenze mehr oder weniger Niemandsland. Umso beeindruckender waren dann die ersten Erfahrungen in Rumänien. Mit dem Gefühl, eine Zeitreise gemacht zu haben, saugte ich alle positiven und negativen Eindrücke dieses damals noch sehr ursprünglichen Landes auf.

Gleichzeitig gab es da auch das Gefühl, ein Stück Heimat gefunden zu haben, obwohl ich vorher keinerlei Beziehungen zu diesem Land hatte. Dadurch wurde wohl der Samen gelegt für meinen späteren Entschluss, mir in diesem Land eine Zukunft aufzubauen, wenn auch zunächst nur unterbewusst.

Die folgenden Jahre fesselten mich aber noch arbeits- und studienbedingt an Deutschland, sodass ich mir nur einmal im Jahr die Zeit nahm, nach Rumänien zu reisen. Indem ich mein Herz für dieses Land öffnete, ergab sich die nach meinem Studium die Möglichkeit, als Kulturassistent für die deutsche Minderheit in der Region Nordsiebenbürgen zu arbeiten. Früher kaum vorstellbar für mich, wurde aus einem niederbayerischen Bauernsohn mit betriebswirtschaftlichem Studium im gartenbaulichen Bereich ein Repräsentant der deutschen Kultur, eine Stelle des Instituts für Auslandsbeziehungen, finanziert durch das Auswärtige Amt.

Die überwiegend ländlich geprägte deutsche Minderheit erfreute sich an meinem bodenständigen kulturellen Hintergrund, sodass es mir nach Ablauf von zwei Jahren wahrlich nicht schwerfiel, mir Gedanken über eine Verlängerung meiner Zeit in Rumänien zu machen.

Somit begann ich nach einer passenden „Location“ zu suchen, die es mir ermöglichen sollte, Weinbau und Imkerei zu betreiben. Auch bei dieser Entscheidung ließ ich mich stark von meinen Gefühlen leiten, was nicht heißt, dass ich nicht vorher im Kopf alle Fürs und Wider mehrmals durchgespielt habe. Und auch hier spielten wie schon so oft glückliche Fügungen eine Rolle, die mich zur rechten Zeit an den rechten Ort brachten. Die Entscheidung fiel im Sommer 2003 für ein kleines Stückchen verwilderten Weinberg im nordwestlichen Grenzgebiet Rumäniens zur Ukraine. Ein halbes Jahr später musste ich aus meiner Mietwohnung in der Stadt ausziehen, ohne eine passende Bleibe zu haben.

Das gefühlsmäßig Passendste war zu dem damaligen Zeitpunkt, neben dem neu erworbenen Weinberg mein Zelt aufzustellen, wobei ich die meisten Nächte unterm luftigeren Sternenzelt verbrachte. Meine damaligen Utensilien wurden in meinem VW-Transporter verstaut oder bei Freunden in der Stadt.

Diesen Schritt machen zu können, mich zu befreien von meinen eigenen zweifelnden Gedanken und den Gedanken anderer, war ein nicht leicht zu beschreibendes Gefühl von sehr viel Freiheit und Zufriedenheit. Ich wünsche jedem Menschen, welcher Sehnsucht nach diesem Gefühl hat, diesem mutig zu folgen. Die richtige Richtung findet sich dann meist von selbst. Die erste Zeit meiner Selbstständigkeit lässt sich am besten mit den Worten von Hermann Hesse beschreiben: „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“!

Ich begann also voller Tatendrang, die verwahrlosten Weinberge wieder in Schuss zu bringen, vermehrte meine Bienen, lebte in bescheidensten Verhältnissen in einem alten Haus ohne Wasseranschluss, nur ein notdürftiger Ofen im Winter, Außentoilette, kein Internet, nur ein Mobiltelefon. Es war zu dieser Zeit genau das Leben, das ich erleben wollte, sprich, ich wollte mir mein Leben von Grund auf neu erbauen. Als nächsten Schritt kaufte ich mir ein kleines Häuschen mit einem Zimmer. Auch dort vergingen mehrere Jahre, in denen ich mir Schritt für Schritt wieder ein Stück Zivilisation schaffte: Brunnen graben, Weinkeller bauen, Bad, Scheune et cetera, alles notdürftig, nicht nach deutschem Standard, aber praktikabel und nach eigenen Ideen, das zählte.

Nach fünf Jahren konnte ich dann auch noch eine deutsche Frau mit ihrer kleinen Tochter aus erster Ehe davon überzeugen, dass es sich auch in Rumänien auf dem Lande unter bescheideneren Umständen leben lässt. Dies war auch die Zeit, in der ich die von mir gekauften alten Weinbergflächen rodete, da es EU-Fördergelder für Neuanpflanzung von Weinbergen gab. Ich habe hierbei zwei Jahre gezögert, weil ich hin- und hergerissen war, ob ich diese Chance beziehungsweise dieses Risiko eingehen sollte.

Mir war klar, dass ich durch die Bepflanzung von fünf Hektar Reben einerseits die Chance einer langfristigen Einnahmequelle hatte, sich gleichzeitig dadurch der Bedarf eines größeren Gebäudes ergab, was wieder Investieren und Bauen bedeutete. Der Traum vom autarken Selbstversorgerleben schien somit vorerst beendet zu sein und ich stürzte mich ein stückweit in gewisse Bahnen, denen ich vielleicht zu Beginn meiner Selbstständigkeit aus dem Weg gehen wollte. Aus dem Aussteigen wurde auf eine Art ein Umsteigen.

In den folgenden Jahren begann ich also mit dem Bau eines Betriebsgebäudes samt Gästezimmer und Degustationsraum, das waren zumindest die ersten Pläne. Die jungen Weinberge entwickelten sich langsam, das Weingebäude wuchs und die Anzahl der Familienmitglieder entwickelte sich ganz nebenbei auch positiv. Unser bis dahin bewohntes Häuschen platzte also langsam aus allen Nähten, sodass aus dem Degustationsraum ein Wohnraum und wir selbst die Bewohner des Gästezimmers im neuen Gebäude wurden.

Insgesamt war und ist das immer noch alles eine sehr spannende Zeit. Je mehr wir schufen, desto mehr wuchs auch die Verantwortung, von Jahr zu Jahr. Die vielen sozialen Kontakte, die sich in den ersten Jahren sowohl zwischen in Rumänien arbeitenden Deutschen als auch zu Rumänen aufgetan haben, veränderten sich laufend, manche vergingen, andere wurden vertieft, neue entstanden. Auch wenn ich manchmal der Unbeschwertheit der ersten Jahre etwas nachtrauere, so ist die Familie zu einem neuen Lebensmittelpunkt geworden, der dem ganzen Schaffen letztlich auch den richtigen Sinn gibt.

Nichtsdestotrotz versuchte ich immer die Balance zu halten zwischen Familienleben, die gesteckten Ziele zu verwirklichen und selbst der Mensch zu bleiben, den ich leiden kann. Allzu oft trifft man auf Menschen, bei denen einer dieser Aspekte übergewichtig ist und ein anderer vernachlässigt wird, mit all seinen negativen Folgen.

Finanziell kommen wir nach den schwierigen Anfangsjahren über die Runden, wenn auch alles viel länger dauerte und noch dauern wird als anfangs gedacht. Sicher muss erwähnt werden, dass auch die Familie in Deutschland in finanziellen Notsituationen ausgeholfen hat und ich mir gerade zu Beginn in meiner alten Heimat öfters noch ein Zubrot verdienen konnte. So ganz wollten wir die Bindungen zu Deutschland aber auch nicht kappen, zumal ja unsere gesamte Verwandtschaft in Deutschland lebt. Daneben noch ein Bankkonto, die ein oder andere laufende Versicherung, das Auto und natürlich das elterliche Haus, das uns einen Wohnsitz bietet, sofern wir uns in Deutschland aufhalten.

Meiner Frau war es wichtig, dass sie und die Kinder in Deutschland krankenversichert sind, hauptsächlich für gewisse Notfälle, die hoffentlich nie eintreten. Mit dem deutschen Wohnsitz mussten wir verständlicherweise auch den Schulbesuch unserer Kinder in Rumänien nachweisen.

Begonnen habe ich hier in Rumänien als Kulturassistent für die deutsche Minderheit der Sathmarer Schwaben, welche aus Not und durch übertriebene Versprechungen vor 300 Jahren ihre Heimat verlassen hatten. In meiner Tätigkeit sollte ich die deutsche Identität der Minderheit stärken und jungen Leuten ein modernes Deutschlandbild vermitteln. Vor allem von deutscher Seite wurde immer wieder die „Brückenfunktion" der Deutschstämmigen hier in Rumänien hervorgehoben.

Nicht die Not, sondern ein Traum hat mich nach Rumänien geführt. Ich werde meine deutsche Identität bewahren, auch wenn ich hier ein Stück neue Heimat gefunden habe und mich in die Gesellschaft integriere, wie es umgekehrt in Deutschland von vielen Menschen verlangt wird. Meine Eltern waren anfangs nicht begeistert über diesen Schritt, aber sie haben zu mir gehalten und mich unterstützt.

Welches „moderne“ Deutschlandbild ich jedoch meinen Kindern in Zukunft vermitteln werde, darüber bin ich noch sehr unschlüssig. Das Potenzial, das in deutschen Kindern steckt, die im Ausland aufgewachsen sind, scheint erst dann wieder interessant zu werden, wenn die Schul- oder Berufsausbildung abgeschlossen ist. Das macht ja auch mehr Sinn, zumindest in Kosten gerechnet. Und was ist mit der Brückenfunktion? Diese wird wohl auch in Zukunft als wichtige Einbahnstraße Richtung Deutschland angesehen.

Positiv gesehen bedeutet aber die oben beschriebene Situation auch ein Stück mehr Freiheit, Unabhängigkeit und Selbstbestimmung für den Einzelnen und die Familie, vielleicht ist das gelebter „Mehrwert“.

Neben der Herstellung von Trauben, Wein und Honig soll sich der von uns geschaffene Lebensraum hier in Rumänien weiter vervollkommnen und zu einem Ort der Begegnung werden, um menschengemachte Grenzen zu überwinden ─, hier an der rumänisch-ukrainischen Grenze. An diesen Zielen werden wir weiter optimistisch bauen.

Josef Sporrer

Auroville ─ eine Gemeinschaft in Südindien

Auroville ist eine international zusammengesetzte, zur Zeit 2.500 ständige Einwohner umfassende Gemeinschaft in Südindien. Sie wurde von Mirra Alfassa, die als „Mutter“ bezeichnete Leiterin des Sri-Aurobindo-Ashrams, in Pondicherry 1968 gegründet. Über die projektierte kreisförmige Fläche einer zukünftig 50.000 Einwohner umfassenden Stadt haben sich mehr als 100 Teilkommunen gebildet, die versuchen, ihr Zusammenleben jeweils nach eigenen Vorstellungen zu organisieren. Manche leben nach egalitären Prinzipien, andere demokratisch oder unter klarer Führerschaft eines „Stewards“.

Was wir tun? Wir leben zivilisiert. Der ganz normale Wahnsinn jeder größeren Siedlung. Idealerweise suchen wir nach Wegen, die noch nicht ausprobiert worden sind, idealerweise unter Einbeziehung aller inneren und äußeren Aspekte des Lebens, idealerweise ohne die Anwendung physischer oder struktureller Gewalt und ohne Rückgriff auf etablierte Moralvorstellungen, Religionen, soziale Hierarchien, Gesetze, Traditionen et cetera. Die Mutter sprach von „Divine Anarchy“. In der Praxis kopiert die Mehrheit ─ und vor allem die Quasi-Regierung ─ lediglich, was sie aus ihren Heimatorten kennt. Dies ist eine Tendenz, die man deutlich seit der Gründung der staatlichen Auroville-Stiftung Ende der 1980er-Jahre beobachten kann.

Heute liegt die Macht bei sogenannten Arbeitsgruppen, die einmal gegründet worden sind, um Bürgerentscheide vorzubereiten. Sie verstehen sich jedoch zunehmend als Regierung und treffen Entscheidungen über die Köpfe sowie gegen den offensichtlichen Willen der Bevölkerung hinweg. Sie verhalten sich dabei wie andere neoliberale Regierungen. Bürokratie, Korruption, Betrug, Erpressung, Unterschlagung, Vetternwirtschaft, Machtmissbrauch und so weiter sind an der Tagesordnung. Belege dafür gibt es massenhaft beziehungsweise kann man es (habe ich) am eigenen Leib erleben, aber wie auch in anderen neoliberal regierten Gebieten ist der Widerstand der Bevölkerung vernachlässigbar; der Missstand wird geleugnet.

Insgesamt finanziert sich Auroville hauptsächlich durch Regierungsgelder aus Indien, Nordamerika und Europa, sowie Tourismuseinnahmen und Spenden aus denselben Regionen und durch ein paar wenige Einnahmen aus Workshops und Produktionsverkäufen ─ Schneiderei, Spirulina, Räucherstäbchen, Wasserfilter ─, aber der Produktionssektor ist völlig unterentwickelt. Die meisten Einwohner meiden körperliche Arbeit. Wie in anderen Ländern auch beträgt beispielsweise die Zahl der Beteiligten an der Landwirtschaft unter zwei Prozent.

Einzelkommunen und -personen tragen sich durch Zuflüsse aus Arbeit im Ausland und Spenden von Familienmitgliedern. Es gibt auch einen Zuschuss zum Lebensunterhalt für etwa ein Drittel der Einwohner, die sogenannte Maintenance. Die ist jedoch an Arbeit in spezifischen Jobs gebunden, also letzten Endes ein Gehalt, und hauptsächlich für Arbeiten, die im Sitzen ausgeübt werden. Wir sind also nicht autark. Lediglich um die 15 Prozent der konsumierten Lebensmittel werden in Auroville selbst angebaut.

Die Läden sind voll mit plastikverpackter Ware von Nestlé, PepsiCo & Co. Anstrengungen dies zu ändern werden wegen persönlicher Präferenzen beziehungsweise Animositäten nicht unternommen. Kaum jemand fährt Fahrrad. Die meisten haben motorisierte Zweiräder. Elektrische Fahrräder, Motorräder und Autos sind stark im Kommen. In fast jedem Haushalt gibt es Kühlschränke, Computer und Smartphones. Kein Bauprojekt kommt ohne Stahl und Beton aus, selbst der Straßenbelag besteht aus Betonelementen. Für körperlich anstrengende Arbeiten sind wir auf eingeborene Tagelöhner angewiesen. Viele „Westler“ leisten sich eine Putzfrau/Haushälterin. Das zahlenmäßige Verhältnis von arbeitenden Nicht-Aurovillianern zu Aurovillianern ist 3:1 ─ soweit ich gelesen habe.

Im Prinzip kann jeder, der „guten Willens“ ist (Mutter), bei uns mitmachen. In der Praxis findet eine intransparente Vorauswahl statt, die neben persönlichen Einschätzungen auch finanzielle Mittel berücksichtigt. Man muss einen Arbeitsplatz und eine Wohnung nachweisen oder Mittel für den Bau einer solchen. Der Prozess der Aufnahme erstreckt sich meist über anderthalb bis zwei Jahre.

Was ich gelernt habe, ist, dass kleine Gemeinschaften besser funktionieren. Überall, wo viele Menschen zusammenkommen, multipliziert sich nicht nur das Konfliktpotenzial, sondern auch Anonymität, Geldbedarf, die Verwässerung des Gründungsgedankens, der bewusste beziehungsweise unbewusste Missbrauch von menschenfreundlichen Strukturen und all die anderen Probleme, die man von anderswoher kennt.

Ich empfehle allen, die eine eigene Gemeinschaft gründen wollen, Verhältnisse in jeglicher Hinsicht klein zu halten.

Rike: Simpel gesagt: Ihr seid in euren Absprachen klar, übergeht Dissonanzen und Zweifel nicht und macht konsensuelle Konfliktlösung zu einem zentralen Punkt eurer Gemeinschaft.

Es gibt sicher noch Nischen in Deutschland, beziehungsweise in der EU, um auszusteigen, und es kommt wohl auch darauf an, weshalb und mit welchem Ziel man in ein neues Konzept einsteigt. Speziell in Deutschland mit seinen vielen Vorschriften, insbesondere den Steuern, Zwangsregistrierungen, -versicherungen und -abgaben, halte ich das für schwierig.

Letzten Endes ist man wieder an das Generieren von Einkommen gekettet, um das tun zu können, was man eigentlich möchte, das heißt, viel Energie wird durch äußere Umstände aufgefressen. Die Übersiedlung auf andere Kontinente sehe ich inzwischen jedoch kritisch. Man verursacht dort unvermeidlich kulturelle und soziale Störungen. Wenn man langfristige Lebensänderung sucht, muss man solche Dinge sorgfältig abwägen.

Ein Aurovillianer


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Quellen und Anmerkungen:

(1) Teil 1 und 2 finden Sie hier und hier.