Die Egoismus-Ideologie

Die These, Altruismus sei nur verkappter Egoismus, rechtfertigt Unmenschlichkeit. Exklusivabdruck aus „Die Wiederentdeckung des Menschen“.

Gutes zu tun, fühlt sich meist gut an. Aber hört es deshalb auf, gut zu sein? Wir kennen die rhetorischen Finten der Egoismus-Befürworter. Anderen Menschen zu helfen, sich anständig zu verhalten, sei nur „moralischer Selbstgenuss“. Es gehe dem altruistisch Handelnden nur darum, sich als „Gutmensch“ zu positionieren und wohlige Gefühle zu kultivieren. Insofern sei alles, was über blanken Egoismus hinausgeht, Heuchelei, der rücksichtslose Ellbogenmensch — Prototyp des neoliberalen Zeitalters — wenigstens ehrlich. Dass es gelungen ist, das Gute selbst suspekt erscheinen zu lassen, ist ein genialer rhetorischer Kniff der Verfechter des Inhumanen. Altruismus bedeutet schlicht, zu wollen, dass es anderen gut geht. Dies schließt eigenes Wohlbefinden nicht aus. Nur so lässt sich eine lebenswerte Gesellschaft gestalten.

Anhänger des kapitalistischen Menschenbildes sind keineswegs um Erklärungen für die Existenz altruistischen Verhaltens verlegen. Die wichtigsten wollen wir an dieser Stelle kurz erläutern.

Psychologischer Egoismus — verkapptes Laster

„Kratz einen Altruisten und sieh einen Heuchler bluten“, Michael Ghiselin (1).

Hinter Heldentaten, wie sie bruchstückhaft im letzten Kapitel präsentiert wurden, glaubte der bereits erwähnte Bernard Mandeville nur blanken Egoismus leuchten zu sehen:

„Es liegt kein Verdienst darin, ein unschuldiges Kindchen zu retten, das nahe daran war, ins Feuer zu fallen. Die Handlung ist weder gut noch schlecht, und welchen Nutzen das Kind auch davon haben mag, wir verfahren dabei lediglich in unserem eigenen Interesse. Denn seinen Fall gesehen und nicht gestrebt zu haben, ihn zu verhindern, würde eine Pein verursacht haben, die der Selbsterhaltungstrieb uns zu vermeiden zwang“ (2).

Den schlichtesten, aber auch radikalsten Versuch, die Existenz des Altruismus zu widerlegen, unternehmen Vertreter des „psychologischen Egoismus“. Dieser beruht auf der Überzeugung, das Ziel hinter allem Verhalten und Streben des Menschen (auch dem unbewussten) sei nichts anderes als die Steigerung des eigenen Wohlbefindens und die Verwirklichung der eigenen Wünsche. Oder, um mit den Worten des französischen Philosophen François de La Rochefoucauld zu sprechen: „Unsere Tugenden sind meist nur verkappte Laster“ (3).

Diese Einschätzung der menschlichen Psyche entspricht natürlich exakt dem Menschenbild des Nutzenmaximierers. Denn die Schlussfolgerung für den psychologischen Egoismus lautet ganz einfach, dass hinter jeder guten Tat ausschließlich die eigentliche Motivation steckt, das persönliche Ansehen zu steigern, oder die Wonne des guten Gewissens. Der Mensch strebt demnach lediglich danach, durch seinen scheinbaren Altruismus sein eigenes Wohlbefinden zu erhöhen. Gern wird in diesem Zusammenhang auch auf die große Befriedigung verwiesen, die Organspender empfinden, oder das Glücksgefühl der Menschen, die einen Juden während des Holocausts versteckt haben (4). Somit erscheint der Beweis schlüssig erbracht und das kapitalistische Menschenbild bestätigt.

Die Logik hinter dem psychologischen Egoismus ist jedoch schlicht ein Zirkelschluss: Von Anfang an wird unterstellt, dass Menschen nur Dinge tun, die ihnen Genuss bereiten. Im Umkehrschluss wird dann gefolgert, dass jeder Tat der persönliche Genuss zugrunde liegt.

Mithilfe eines solchen Zirkelschlusses vermag der psychologische Egoismus freilich jede erdenkliche Handlung einsilbig zu erklären.

Matthieu Ricard dekonstruiert diese Denkrichtung auf eine sehr galante Weise:

„Die Schwäche des psychologischen Egoismus“, so sagt er, „liegt in der Behauptung, er allein ermögliche es, alle menschlichen Verhaltensweisen zu erklären. Es ist egoistisch, einem Kind eine Pflaume nicht zu geben (Du willst sie für dich behalten), und es ist egoistisch, sie ihm zu geben (Du tust das, um ein gutes Gewissen zu haben)“ (5).

Daher könnte man selbst Jesus oder Mahatma Gandhi unterstellen, ihre Selbstaufopferung zeuge in Wirklichkeit einzig von ihrem ausufernden Egoismus. Mit einem Wort: Der psychologische Egoismus kann auf diese Weise jedes Verhalten erklären, seine Logik ist in sich geschlossen und kann daher niemals schlüssig widerlegt werden. Wissenschaftliche Ansätze hingegen müssen falsifizierbar sein, wie der Philosoph Karl Popper argumentiert:

„Eine Theorie, die durch kein denkbares Ereignis widerlegt werden kann, ist unwissenschaftlich. Unwiderlegbarkeit ist nicht, wie oft angenommen wird, eine Stärke einer Theorie, sondern eine Schwäche“ (6).

Die Theorie des psychologischen Egoismus genügt dieser Prüfung nicht.

Letztlich bleibt nur die schlichte Behauptung übrig, der Mensch sei von seinen eigenen Wünschen motiviert. Freilich eine Aussage von intellektuell erbärmlicher Banalität. Daher ist der psychologische Egoismus eine vollkommen unzureichende Erklärung für den Altruismus. Der Versuch, den Altruismus zu negieren, zeigt sich aber auch bereits bei den oft erstaunlich verengenden Definitionen des Begriffs „Altruismus“. Beispielsweise warten die Wirtschaftswissenschaften und ebenso die Biologie mit einer beeindruckend eingeschränkten Beschreibung dieses Phänomens auf. Stellvertretend für viele sei der Evolutionsbiologe Richard Dawkins zitiert:

„Ein Organismus (…) gilt als altruistisch, wenn er sich so verhält, dass er das Wohlergehen eines anderen, gleichartigen Organismus auf Kosten seines eigenen Wohlergehens steigert“ (7).

Wenn die Welt und auch die Mitmenschen praktisch nur noch durch eine Kosten-Nutzen-Matrix gesehen werden, überrascht es nicht, dass auch der Altruismus nur in diesen Kategorien gedacht werden kann und wird. Wie in einem Nullsummenspiel erscheint Altruismus als ein Opfer des einen zur Wohlsteigerung des anderen. Andere, breiter angelegte Definitionen geraten gar nicht erst ins Blickfeld von Wirtschaftswissenschaften und Biologie. Beispiel: Das französische Standard-Lexikon Larousse definiert Altruismus als die „uneigennützige Sorge um das Wohl eines anderen“, und die International Encyclopedia of the Social Sciences definiert Altruismus als „einen Zustand der Motivation, die darauf abzielt, das Wohlbefinden eines anderen zu erhöhen“.

Diese allgemeinen Definitionen klingen schon bedeutend anders und implizieren keine zwangsläufige Opferhaltung. Sie liegen damit aber auch dem menschlichen Erfahrungshorizont wesentlich näher. Eine weitere Verengung und Verzerrung der Idee des Altruismus ist die im wirtschaftlichen Denken begründete Ansicht, es sei schlicht ein Widerspruch in sich, wenn ein Altruist Befriedigung empfindet (denn dann wäre ja die Handlung nach ihrer Definition egoistisch).

In der Konsequenz heißt dies dann aber auch: Je schlechter man sich nach einer Handlung fühlt, desto eher ist man ein Altruist. Das aber ist eine sehr bedenkliche Einstellung, man könnte auch sagen: eine geradezu masochistische Sichtweise des Menschen. Nur weil jemand durch einen altruistischen Akt eine Befriedigung erfährt, ist damit bei Weitem nicht bewiesen, dass dieser Akt aus egoistischen Beweggründen geschieht.

Mit Worten von Matthieu Ricard:

„Echter Altruismus erfordert nicht, dass man selbst leidet, wenn man anderen hilft, er verliert seine Authentizität nicht dadurch, dass er mit einem Gefühl tiefer Zufriedenheit einhergeht“ (8).

Altruismus schließt also in keiner Weise aus, Gutes für sich zu erstreben, da dies mit dem Wunsch, es möge anderen gut gehen, vereinbar ist (9). Das Leben ist eben kein Nullsummenspiel, wie es die Wirtschaftswissenschaft immer unterstellt. Handlungen können durchaus das Wohlbefinden anderer Menschen erhöhen, ohne dass man dadurch an eigenem Wohlbefinden verliert. Einen blinden Menschen über die Straße zu begleiten, hilft diesem sehr und „kostet“ den Helfenden nichts. Ricard schlussfolgert daher auch:

„Der Scheidepunkt zwischen Altruismus und Egoismus liegt also im Wesen unserer Motivation“ (10).

Helfe ich, damit ich mich danach als edler Mensch fühle, oder helfe ich, damit es dem anderen besser geht? Spätestens an der Beantwortung dieser einfachen Frage zeigt sich der alles entscheidende Unterschied zwischen egoistischem und altruistischem Verhalten.

Die Anhänger des kapitalistischen Menschenbildes haben aber noch weitere Erklärungen für die Existenz des Altruismus in petto, die hier kurz skizziert werden sollen, bevor wir uns der Antwort der Wissenschaft zuwenden.


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Quellen und Anmerkungen:

(1) Zitiert nach: Kast, 28.
(2) Zitiert nach: Singer, 29.
(3) Zitiert nach: Sedlacek, 325.
(4) Lecomte, 176.
(5) Ricard, 154.
(6) Popper, 51.
(7) Dawkins, 40. Ähnlich formuliert der Wirtschaftsnobelpreisträger Gary Becker: „Ein Altruist ist im Wesentlichen dadurch definiert, dass er willens ist, seinen eigenen Konsum einzuschränken, um den Konsum anderer zu erhöhen.“ (Becker, 320).
(8) Ricard, 27.
(9) Ricard, 339.
(10) Ricard, 159.