Die Entdeckung Europas

Europäer entdeckten einst Amerika, um es zu besiedeln und zu beherrschen. Heutzutage denkt man manchmal, es sei umgekehrt. Exklusivauszug aus „Die Abschaffung der Demokratie“.

Warum Kolonialismus? Welchen Sinn hat er, und wie kann er gerechtfertigt werden? Die Antwort: Kolonialismus geschieht einzig zum Wohle der Kolonialisierten. Diese sind beklagenswert unzivilisiert und bedürfen der fürsorglichen Betreuung durch einen höherrangigen Menschenschlag. Würde man ohne Kenntnis der Geschichte die momentane Weltlage betrachten, so käme man vielleicht zu dem Ergebnis, Europa sei eine Kolonie Amerikas. Denn wer dominiert hier wen? Wer beutet wen aus? Und welche Nation betrachtet sich als Ansammlung von Herrenmenschen, die den Wilden zeigen muss, wo es lang geht? Dieses Gedankenspiel schmückt der Autor in seiner Satire mit weiteren vergnüglichen Details aus.

Als die ersten Amerikaner auf einem ihrer Beutezüge mit ihren Kanus in einen heftigen Sturm gerieten, landeten sie ganz aus Versehen an der Nordseeküste. Da dachten sie, in Asien angekommen zu sein. Deswegen nannten sie die Europäer fortan Asiaten oder Asis. Sie steckten eine Stange mit ihrer Fahne in den Schlick und beschlagnahmten das Land.

Zwar lebten dort die Ostfriesen, ein Stamm germanischen Ursprungs, doch die wurden nicht ernst genommen, denn sie waren arm und brachten nur ein paar dürftige Geschenke wie Grünkohl und Buttermilch. Bald machte unter den Ankömmlingen ein Witz die Runde: Das Wasser des Meeres zöge sich vor Schreck zurück, sobald es an der Küste angekommen sei und die Ostfriesen sehe; deshalb gebe es nach der Flut die Ebbe.

Die Seefahrer aus Amerika, von den Ureinwohnern auch Big Brothers oder Aliens genannt, hatten natürlich mächtigen Hunger. Also schlachteten sie nach und nach alle Kühe, derer sie habhaft werden konnten, und verarbeiteten sie zu Hamburgern und Steaks, die schon bald in ihren McDonalds-Schnellrestaurants verkauft wurden. An der Küste ließen sie ein erstes Fort bauen, das sich in kurzer Zeit zu einer Metropole entwickelte, nach einem ihrer Häuptlinge Bush City genannt. Denn in Amerika, der Heimat der Aliens, sprach sich in Windeseile herum, dass man ein neues Land entdeckt habe, in dem es sich gut leben lasse, und daraufhin landeten fast jeden Tag neue Kanus mit Aliens an der Nordseeküste.

Auch die Bevölkerung im Landesinnern musste jetzt für die ersten Amerikaner arbeiten. Wer sich weigerte — und das waren anfangs nicht wenige —, wurde erschlagen, gefoltert oder auf einem elektrischen Stuhl hingerichtet.

Die Asis, so meinten die ersten Amerikaner, seien gar keine richtigen Menschen, sondern nur unzivilisierte Wilde. Ursprünglich aßen sie nämlich weder Hamburger noch Steaks, tranken keine Coca-Cola und suchten nicht ständig nach Gold.

Gold war der Grund, weshalb die ersten Amerikaner schon bald mit ihren Kanus den Rhein hinauf in die Schweiz fuhren, die für sie Eldorado hieß. Unterwegs rotteten sie so nebenbei alle aus, die sich ihnen in den Weg stellten: Die Holländer, Belgier, Westfalen, Rheinländer, Hessen, Schwaben, Badenser, Württemberger, Pfälzer, Elsässer. Später gab es noch blutige Kriege mit den Bayern, die sich nicht ohne Weiteres unterwerfen und die ersten Amerikaner nicht durch ihr Land führen und mit Lebensmitteln versorgen wollten.

In der Schweiz nannten sie das Matterhorn erst einmal Mount McKinley und den Pilatus Kennedy Peak, nachdem sie den Rhein bereits in Disney River umbenannt hatten. Der Bodensee hieß nun Big Water und der Vierwaldstätter See Lake Marilyn, nach einer ihrer Berühmtheiten.

Als die ersten, die zweiten, dritten und alle folgenden Amerikaner dies alles getan und die meisten Europäer, die sie nach wie vor Asis nannten, umgebracht hatten, wenn sie nicht schon vorher an dem eingeschleppten Fieber, auch als amerikanische Krankheit bekannt, gestorben waren, widmeten sie sich umgehend den Schweizer Banken. Zuerst wurden alle Banken amerikanisiert. Anschließend wurde alles Gold nach Amerika in einen Ort namens New York abtransportiert und dann in einer Fort Knox genannten Festung eingelagert.

Dass viele goldbeladene Lastenkanus unterwegs in den Atlantikstürmen sanken oder sich verirrten, war halb so schlimm. Man hatte ja in den Schweizer Banken genug Gold gefunden, um Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte, weltweit damit wuchern zu können. Außerdem entwickelte sich unter den Wucherern, die ausgesorgt hatten und nicht mehr arbeiten mussten, ein Hobby: Sie begannen nach gesunkenen Lastenkanus zu tauchen und auf der ganzen Welt nach verirrten Kanus zu fahnden.

Auf diese Weise hatten alle etwas zu tun, auch die Multimillionäre und Milliardäre, von denen es in den Vereinigten Staaten von Amerika immer mehr gab. In ganz Europa wurden nun die amerikanische Sprache, der American Way of Life, Coca-Cola sowie der Dollar eingeführt und alle trugen fortan Jeans. So begann es auch den Europäern, die jetzt Asis hießen, immer besser zu gehen. Vor allem wenn sie Sklaven sind. Dann haben sie nämlich ein bequemes Leben: Ihre Herren müssen für sie sorgen — wenn sie es sich nicht anders überlegen.


Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch„Die Abschaffung der Demokratie“ von Wolfgang Bittner.